Antwort auf: 2017: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Die erste Woche zurück war ziemlich bekloppt bei der Arbeit wie auch an den Abenden (Montag ein klassisches Konzert, Mittwoch ein Abendessen mit einem Arbeitskollegen auf Besuch, Donnerstag StoneFM, heute wieder ein klassisches Konzert), daher mit etwas Verspätung ein paar Worte zu den Konzerten der vorletzten Woche in Italien.

Roscoe Mitchell Plays John Coltrane
Mailand, Teatro Manzoni – 29.1.

Los ging es am Sonntag um 11 Uhr in Berlusconis Plüschtheater mit einem fulminanten Set von Roscoe Mitchell. Dass das Projekt „Plays John Coltrane“ überschrieben war und Mitchell mit „Countdown“ einstieg, liess nicht unbedingt das beste ahnen, doch schon im Verlauf des Openers spielte Mitchell sich frei und dann wurde rasch klar, dass er gekommen war, um sein eigenes Ding durchzuziehen.

Im Programmheft – und wohl in Konzertankündigungen der Berlusconi-Presse, die ich in den Händen von anderen Konzertbesuchern sah – wurde Mitchell abgefeiert, dass man glauben könnte, die Jazz-Ahnenreihe hiesse „Louis Armstrong-Duke Ellington-Charlie Parker-Johnc Coltrane-Roscoe Mitchell“ oder so ähnlich. Dass jetzt ein paar Leute in Mailand denken, einen der ganz Grossen des Jazz gehört zu haben (so weit bin ich ja völlig einverstanden, keine Frage!), auf den sie ohne manipulative Vorkäuer kaum je gekommen wären, ist irgendwie witzig, auch wenn mir die Atmosphäre noch viel mehr als beim Konzert von Muhal Richard Abrams vor einem Jahr falsch, störend schien. Aber das focht Mitchell und seine Gruppe nicht an.

Die Band bestand neben Mitchell (nur am Altsaxophon dieses Mal) aus seiner derzeit üblichen Rhythmusgruppe Junius Paul (b) und Vincent Davis (d) sowie den drei Streicherinnen Mazz Swift (v, voc), Tomeka Reid (vc), Silvia Bolognesi (b). Klanglich war das sehr interessant, Bolognesi gesellte sich oft (aber nicht immer) mit Bogen spielend zu Reid und Swift, die für einen lebendigen, vibrierenden Streicherklang sorgten, während Paul – schon rein optisch der Paradiesvogel auf der Bühne – und Davis für einen pulsierenden, lebendigen, manchmal bebenden und grollenden Beat sorgten. Solist war in erster Linie Mitchell selbst, und er bot das übliche, immer wieder beeindruckende Programm: Momente von allerfeinster Zartheit, gestaltete Stille fanden sich zwischen langen, intensiven Bögen, zwischen minutenlangen Steigerungsläufen. Der Raum war für die intensiven Momente etwas problematisch, aber am Ende fand ich das ganz gut abgemischt – und dass es ab und zu fast ohrenbetäubend laut wurde, gehörte natürlich dazu. Im letzten Stück, einer Art Calypso, sang Mazz Swift mit wundervoller Stimme. Danach kehrte die Band noch für eine kurze, brennende Zugabe zurück. Dass die sechs sich keine Sekunde vom Rahmen beeindrucken liessen, in dem sie auftraten, fand ich klasse. Ob es dem Publikum wirklich so gut gefiel, wie es den Anschein machte, kann ich kaum beurteilen, aber wie gesagt: an sich ein ganz falscher Rahmen für diese Musik. Zuviele Damen und Pelzmäntel und distinguierte Herren, dazu die üblichen alten Jazz-Nerds (inkl. des Italieners, der alles filmt, was er sich anschaut – er durfte diesmal seine Kamera sogar auf der Seite der Bühne aufstellen) – aber kaum Leben in der Bude.

An den folgenden Tagen gab es viel klassische Musik, mehr dazu im entsprechenden Thread.

Am ersten, konzertfreien Abend ging es zum Essen in „La Bettola di Piero“, man war hungrig und genoss zum ersten Mal Frittura di cervello, danach gab es Gnocchi di castagne, und darauf – erneut zum ersten Mal – Piccione ripieno di carciofi, und schliesslich einen exzellenten Tiramisù. Das Essen ist ja – neben der Geschichte, der Kunst – noch ein zentraler Grund, warum es mich nach Italien zieht (der nächste Besuch Anfang Juni kristallisiert sich gerade heraus, zwei Abende mit Louis Moholo in Novara und dann ein paar Tage in Florenz, wo ich seit fast zwanzig Jahren nicht mehr war). Es gab auch an den folgenden Abenden ein paar exzellente Mahlzeiten, die wohl exquisiteste direkt um die Ecke vom Hotel im La Brisa am Sonntagabend – einmal mehr die ganzen drei Gänge, die da hiessen: Foie gras d’anatra in torcione, chutney di mele verdi, pan brioche; Spaghetti chitarra con polpo, catalogna e crema di ceci; Calamari ripieni di carciofi e patate con salsa al tuorlo d’uovo. Das lag dann preislich aber in mir vertrauten exorbitanten Regionen und wurde nicht wiederholt …

Am einzigen weiteren Konzertfreien Abend ein paar Tage später in Turin gab es eine Pizza (und danach einen hausgemachten 69%igen Grappa von der chinesischen Küchen/Servicemannschaft) und danach ging es gegenüber ins Kino. In der Sala Harpo des Fratelli Marx lief in der Spätvorstellung „La La Land“ im Original (sonst in zwei Sälen sowie in anderen Turiner Kinos in der Synchronfassung – die spinnen!). Meine kleine Liebeserklärung kann man hier lesen.

Vinny Golia Trio
Novara, Istituto Civico Musicale Brera – 4.2.

Den Abschluss des Urlaubs machte dann das Trio von Vinny Golia – eigentlich war ja eine Tour von Bobby Bradford und Vinny Golia geplant gewesen, doch Bradford fiel aus. Wie ich am Abend hörte wegen eines Sturzes, doch es hiess die Prognosen seien gut. Es besteht also Hoffnung, dass ich Bradford dereinst doch noch ein zweites Mal im Konzert erleben kann – das bisher einzige Konzerterlebnis (mit dem Circulasione Totale Orchestra von Frode Gjerstad) war unglaublich faszinierend. Auf dem Weg ins Konservatorium, wo das Konzert stattfand, ging es zunächst ins Convivium, wo es ein letztes exzellentes Mal gab, aufgrund des Zeitplans etwas abgekürzt, aber das war vielleicht das beste Risotto (mit Gamberi und Kastanien) aller Zeiten, immerhin, nachdem es schon eine exzellente Baccalà-Vorspeise gegeben hatte.

Aber gut, zur Musik. Natürlich war ich etwas skeptisch, hatte mir in der ersten – riesigen – Enttäuschung sogar einen Moment lang überlegt, gar nicht erst hinzugehen. Aber viel anderes kann man abends in Novara wohl eh nicht tun, wenn man nicht mit der Dorfjugend saufen will. Doch die Skepsis war völlig unbegründet, das Trio – mit Bernard Santacruz (b) und Cristiano Calcagnile (d) – spielte ein exzellentes, geladenes Set. Santacruz fungierte als Anker mittendrin, stoisch und mit einem tollen Ton, der mir schon im Sommer am Météo in Mulhouse sehr gut gefiel, als ich ihn mit der Gruppe Sonic Communion um Joëlle Léandre zum ersten Mal live hörte. Golia

Golia begann am Piccolo, wechselte dann zu den anderen Instrumenten, die ich nicht wirklich identifizieren kann – die andere Holzflöte hielt er stets schief wie auf dem Photo, daneben spielte er Sopranino- und Sopransaxophon. Das Set entwickelte sich kontinuierlich und ohne Unterbrüche aus dem dichten und aufmerksamen Zusammenspiel des Trios. Calcagnile gefiel mir sehr gut, er mochte manchmal etwas konventionell swingen, doch gaben seine Akzente immer wieder Richtungsänderungen vor, er zersetzte bald selbst den Groove, den er gerade aufgebaut hatte, spielte quasi gegen sich selbst an, während Santacruz sich nicht beirren liess. Doch Golia selbst war die Hauptattraktion und naturgemäss der wichtigste Solist der Gruppe. Ich bin ja kein allzugrosser Fan von Holzbläsern, die sich nur im obersten Spektrum bewegen, ein Grund mehr für meine Skepsis, als ich das Instrumentarium vor dem Konzert sah – doch da passte einfach alles, Golia war auf allen vier Instrumenten klasse, besonders auf den beiden Saxophonen. Kein einziger Ton klang quiekig oder störend hoch, das ist einfach seine „Region“ und man merkt, wie wohl er sich dabei fühlt.

Auch darüber sprach ich nach dem Konzert kurz mit ihm, doch ich fragte nach dem Sopransaxophon mit dem speziellen Finish (ein rotbronzig mit silbernen Klappen) – ein neues Keilwerth sei das, es klinge phantastisch und ja, es sähe ganz hübsch aus. Ob ich ein Saxophonist sei, welches Saxophon ich spielen würde? Ich: Ja, aber kein guter. Er: Gute gibt es keine mehr, die sind alle tot … nein, Moment, Sonny Rollins ist ja noch da, und der spielt jeden Tag. Sein Ton mag nicht mehr so gross sein, seine Luft etwas weniger lang ausreichen, aber ich wünschte mir, in meinem Alter (Golia wird in drei Wochen 71) so spielen zu können, wir Rollins das mit 90 (Rollins ist 86) tut. Dann fragte Golia mich, welches Saxophon ich denn gespielt hätte, ich meinte einst vor allem Tenor, später aber vermehrt Alt. Tenor hätte er nie spielen können, er hätte es nie gefühlt. Wohl eben, weil er gänzlich in den hohen Lagen daheim ist. Ein sehr sympathischer Typ jedenfalls. Mit Santacruz habe ich auch ganz kurz gesprochen, ebenfalls mit dem Inhaber von Dark Tree (Bertrand Gastaut), der einen kleinen Stand aufgebaut hatte und für den Verkauf der CDs der Musiker zuständig war (wenn ich es richtig verstehe, hat er auch die Tour organisiert – und natürlich habe ich bei seinem wie beim anderen Stand ein paar Sachen gekauft, u.a. eine CD, die Ralph Alessi mit ein paar Italienern gemacht hat, ich werde dazu dann bei Gelegenheit was schreiben @vorgarten). Ach so, ich erwähnte das ja schon anderswo: Sabir Mateen, der seit ein paar Jahren in Italien (wohl seit längerem in Bologna, aber früher auch mal in Novara) lebt, war auch da und hat sich natürlich mit Golia und ein paar anderen unterhalten.

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