Jazzbücher

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  • #2196275  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

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    szweds miles-biografie habe ich nie gelesen, komisch eigentlich, ich komme mit seinem stil & ansatz bei ra ziemlich gut klar. letzteres und stüttgen lese ich so häppchenweise, wie jazzbücher meistens, bin mit beiden auch nicht fertig. dumas mal anzutesten hatte ich schon überlegt, klingt spannend, was du andeutest, aber warum „darf man nicht zu viel erwarten?“. und kannst du kurz sagen, welche sachen bei szwed und stüttgen für dich neu oder besodners interessant waren, auf sun ra bezogen?

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    #2196277  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

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    was ich jetzt auch endlich mal lesen will, ist kodwo oshuns buch über afrofuturismus, das – aus der spät-90er-sicht heraus – über ganz viele meiner helden einen interessanten bogen zu spannen scheint. das gibt es komplett hier, wie ich gerade sehe, aber auch in der – wahrscheinlich kongenialen – übersetzung von dietmar dath.

    wenn ich das richtig verstehe, geht es um eine traditionslinie schwarzer musik, in der beat und raum als futuristische konzepte zusammengedacht werden, anstatt sie weiterhin auf einfachheit, straße und soul zu beziehen. oshun interessiert sich demgegenüber über die diversen soundtechnischen ambitionen schwarzer musik, die viele kritiker eher als entmenschlichung wahrnehmen: die postproduktion von miles & macero, hancocks synthesizer, alice coltrane als remixerin von john (aber auch johns OM und KULU SE MAMA als lsd-bedingte „erweiterungen“), sun ra, schließlich hiphop und detroit techno. ist ja im prinzip auch die spielwiese von thomas meinecke, aber sprachlich geht oshun natürlich in die vollen (mit einem groben musikkritiker-diss), das macht bei anlesen schon großen spaß.

    aber wahrscheinlich kennen das hier auch einige.

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    #2196279  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 13,485

    vorgartenszweds miles-biografie habe ich nie gelesen, komisch eigentlich, ich komme mit seinem stil & ansatz bei ra ziemlich gut klar. letzteres und stüttgen lese ich so häppchenweise, wie jazzbücher meistens, bin mit beiden auch nicht fertig. dumas mal anzutesten hatte ich schon überlegt, klingt spannend, was du andeutest, aber warum „darf man nicht zu viel erwarten?“. und kannst du kurz sagen, welche sachen bei szwed und stüttgen für dich neu oder besodners interessant waren, auf sun ra bezogen?

    vorneweg: Szweds Miles Biografie ist mE zu Unrecht etwas untergegangen… klar – es gibt andere und man weiß über Davis mehr , aber „wenn“ find ich das Buch eher stärker als Space is the Place…

    zu Dumas und „zu viel erwarten“. Für mich funktioniert er sehr gut, aber er kommt mir thematisch auch sehr entgegen. Männer, die alleine durch Menschenmengen gehen – check. Märchenhafte Gruselgeschichten, die an M.R. James erinnern – check. Das Dilema der schwarzen Männer in Amerika – check. Auf dem Land oder in einer Kleinstadt aufwachsen, in der gar nichts passiert – nicht meine Geschichte + in den Stories zum Thema passiert meist eher wenig… aber ich les trotzdem weiter… ich kann schlecht beurteilen, wie gut das für andere funktioniert… beste Passage bis hier:

    „The Book speaks in many languages,“ said the Devil. „A lifetime can be spent in the worthwile pursuit of the wisdom of the Book. There are special situations with no rules, and special rules for no situations.“

    zu Deiner kniffligen Frage – was hab ich gelernt:

    Bei Szwed vergleichsweise einfach. Über die frühen Jahre und Ras Weltbild viel. Bei Chicago hatt ich keine hohen Erwartungen, weil ich von Campbell schon relativ viel wusste. Bei New York und danach war ich etwas enttäuscht.

    Bei Stüttgen ist es schwieriger: In Sachen Sun Ra fand ich glaub ich diese slave ship vs space ship Sache am interessantesten – was macht man aus der Zukunft, wenn man keine Vergangenheit hat. Die ausführliche Diskussion des Films „Space is the Place“ fand ich auch gut – aber ich kenn den Film auch selber noch nicht. Ansonsten: Dass es gelingen kann, „die französichen Philosophen“ in verständlicher Sprache zusammenzufassen, fand ich diffus beruhigend und erhellend. Und die Diskussion rund um die heteronormativen Ideale hat mich irgendwie durchaus weitergebracht… Also, zB: dass es eine Art Rebellion ist, wenn ich sage „es gibt hier keine Öffnungszeiten, ich bin meistens zwischen 11 und 20 Uhr da“ (im Vergleich zum heteronormativen Ideal eine Stunde zu lang und zwei Stunden nach hinten verschoben) war mir nicht klar… oder dass diese Trennung zwischen den Leuten, mit denen man arbeitet, und „Arbeitskollegen“ (beide Gruppen sind überaus wichtig und teilweise liebe Freunde) vermutlich einen theoretischen Unterbau hat…

    wie sehr Stüttgen mich im Bezug auf Sun Ra im Ganzen überzeugt, bin ich weniger sicher. Grob gesagt war Dumas am Tag seines Todes bei Ra (er hätte überall hingehen können, ist er aber nicht), und Ra sagte wohl sinngemäß sowas wie „du bist instabil und auf Amphetamin, die Pistole bleibt bei mir“ … und Dumas wurde später am Tag von Straßenbahnpolizisten nach einer Messerattacke auf einen anderen Fahrgast erschossen… (oder so: jedenfalls ist man sich auch in Dumas Umfeld relativ sicher, dass Polizeigewalt zwar vorkommt, aber dass es in diesem Fall dem überforderten Polizeiauszubildenden gegenüber nicht fair wäre, so zu argumentieren). Dumas war zwar schwarz, aber das heteronormativ akzeptierte Leben hat er geführt (Jahre als Soldat, eine Frau, zwei Kinder und eine feste Freundin) – und nichtsdestotrotz ist er an seinem letzten Tag zu Ra gegangen. Nach aktuellen Studien stehen schwarzamerikanische Frauen in den Arbeitsmarkt (etc) Statistiken eher besser da, als weißamerikanische – und das liegt sicherlich zu einem guten Teil daran, dass die Kinder gefüttert werden wollen, und, dass es keine Väter gibt… Anders gesagt: Sun Ra hat ein Dilemma gesehen und Auswege angeboten – aber welches Dilemma das jetzt letztlich genau war… schwule Kommune oder Auffangplatz für Leute, die für den rassistischen Arbeitsmarkt psychisch nicht stark genug waren – schwer zu sagen.

    Ich hab neulich Ta-Nehisi Coates gelesen, wie er die Großmutter seines Kindes überzeugen musste, dass er das Kind wirklich mitgroßziehen darf, Polizeikontrollen mit Kinderwagen, und dass er das einzige Kind in seiner Klasse war, das zumindest irgendeinen Vater hatte (der nicht einfach war, aber in mancher Hinsicht durchaus berühmt)… ich find es schwer zu sagen, welches gesellschaftliche Problem Ra mit seinem Arkestra eigentlich lösen wollte – aber eine handvoll große bis kaum lösbare Probleme stehen zur Auswahl…

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    #2196281  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 12,007

    vielen dank!
    all das erweitert das bild des arkestras ja tatsächlich um die idee einer „arche“, mit der ein aussteigen aus normativen verhältnissen zumindest zeitweise möglich war. ich glaube, bei der sache mit den „arbeitskollegen“ bin ich noch nicht, aber diese theorie einer zeitvorstellung, die den reproduktiven idealen der kapitalistischen ideologie folgt, ist zur zeit ein riesending in der queer theory, elizabeth freeman hat dafür den terminus „chromonormativity“ erfunden.
    ich muss auf jeden fall mal mit ra in new york weitermachen. und szweds miles-bio lesen.

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    #2196283  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,878

    Ich lese das hier nur so mit einem kurzsichtigen Auge halb mit. Aber eins fiel mir auf:

    redbeansandrice(…) Bei Stüttgen ist es schwieriger: In Sachen Sun Ra fand ich glaub ich diese slave ship vs space ship Sache am interessantesten – was macht man aus der Zukunft, wenn man keine Vergangenheit hat. Die ausführliche Diskussion des Films „Space is the Place“ fand ich auch gut – aber ich kenn den Film auch selber noch nicht. Ansonsten: Dass es gelingen kann, „die französichen Philosophen“ in verständlicher Sprache zusammenzufassen, fand ich diffus beruhigend und erhellend. Und die Diskussion rund um die heteronormativen Ideale hat mich irgendwie durchaus weitergebracht… Also, z.B.: dass es eine Art Rebellion ist, wenn ich sage „es gibt hier keine Öffnungszeiten, ich bin meistens zwischen 11 und 20 Uhr da“ (im Vergleich zum heteronormativen Ideal eine Stunde zu lang und zwei Stunden nach hinten verschoben) war mir nicht klar … oder dass diese Trennung zwischen den Leuten, mit denen man arbeitet, und „Arbeitskollegen“ (beide Gruppen sind überaus wichtig und teilweise liebe Freunde) vermutlich einen theoretischen Unterbau hat…

    Wenn das heteronormativ bzw. rebellisch ist, bin ich queer und rebellisch. ;-) Und das hat in diesem Falle nicht unbedingt was mit sexueller Orientierung zu tun.

    Apropos „die französischen Philosophen“: In ganz anderem Zusammenhang, der tatsächlich mit einem realen Ort zu tun hat, fiel mir vor kurzem der Begriff Heterotopie (ausgerechnet!) ein. Wenn man so will, könnte man das Arkestra als eine Heterotopie begreifen. Man könnte diesen Begriff in Bezug auf Sun Ra & Arkestra zeitlich (solange die Musik spielt, herrschen abweichende Bedingungen), sozial (unter den Menschen im Arkestra herrschen abweichende Bedingungen), künstlerisch (in der Musik des Arkestras herrschen abweichend Bedingungen) oder sozusagen – äh … – geistig (wenn ich an das Arkestra denke oder davon weiß, herrschen abweichende Bedingungen) anwenden oder interpretieren. Oder noch was anders oder alles zu gleich.

    Nur ein Gedanke.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #2196285  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 12,007

    Friedrich
    Wenn man so will, könnte man das Arkestra als eine Heterotopie begreifen.

    finde ich eine sehr spannende idee. viele missverstehen den begriff ja, weil er so klingt, als seien das räume, in denen bestimmte normierungen zugunsten eines freieren drucheinanders aufgehoben sind, quasi als alternativkulturelle orte. foucault verwendet diesen begriff aber eigentlich, um räume zu markieren, die zwar außerhalb der gesellschaftlichen norm liegen, aber eben eigene regeln und normen haben.

    das arkestra in chicago war, denke ich, keine heterotopie, sondern ziemlich integriert in und angeschlossen an die gesellschaftlich vorgezeichnete kulturproduktion – von der ausbildung der musiker angefangen, über die aufführungspraxen, die spielorte usw. das arkestra war teil der lokalen schwarzen entertainment-szene, die musiker taten so das, was man damals als schwarzer jazzmusiker eben so tat.
    in new york und dort im alternativkulturellen zentrum, wo das arkestra nicht mehr in jazzclubs spielt, wo auch nicht-musiker einsteigen und die musik sehr viel konkreter wird, gibt es einen interessanten moment gegenläufiger bewegungen: einerseits wird die kulturproduktion (und wahrscheinlich auch der ganz normale alltag) um das arkestra herum freier und ist weniger normativ geprägt, andererseits baut ra tatsächlich die band zu einem lebenskonzept aus, das nach eigenen regeln zu funktionieren scheint und mit den psychosozialen aufgaben, die redbeans anspricht (rassismus, arbeitslosigkeit, musikerstatus, männlichkeitskonzepte etc.), umgeht. das hängt wahrscheinlich zusammen (die freiheit und der aufbau eines eigenen regelsystems).

    --

    #2196287  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,878

    vorgartenfinde ich eine sehr spannende idee. viele missverstehen den begriff ja, weil er so klingt, als seien das räume, in denen bestimmte normierungen zugunsten eines freieren drucheinanders aufgehoben sind, quasi als alternativkulturelle orte. foucault verwendet diesen begriff aber eigentlich, um räume zu markieren, die zwar außerhalb der gesellschaftlichen norm liegen, aber eben eigene regeln und normen haben.

    Ich glaube er verwendet den Begriff sogar so, dass er damit Orte – soweit ich das richtig verstehe reale Orte – bezeichnet, die die Gesellschaft sich selber schafft, in denen Handlungen, Rituale, sich abweichend verhaltene Menschen einen Platz haben, die nicht in den Normalablauf integrierbar sind, die aber für den Bestand der Gesellschaft erforderlich oder unvermeidlich sind und deswegen in eine geschützten Raum verlagert werden. Kliniken, Kasernen, Kunsttempel (3 x „K“ ;-)), sogar Bordelle. Schiffe! Dabei wären wir wieder bei der Arche oder dem Raumschiff.

    Insofern habe ich den Begriff Hetreotopie eher lässig ausgelegt, denn Sun Ra hat sich seinen Raum ja selbst geschaffen um als der, der er war, existieren zu können und dieser Raum ist nicht immer und unbedingt ein realer Raum mit Postleitzahl und Hausnummer, sondern ein Gedankenraum, eine Übereinkunft oder ein gemeinsames Bewusstsein, meinetwegen auch ein „alternativkultureller ort“. Wobei ich „alternativkultureller ort“ nicht unbedingt mit „freieren durcheinander“ in Verbindung bringen würde, denn auch diese Orte haben Regeln, die aber von außen oft nicht so leicht zu erkennen sind. Toleranz oder Akzeptanz können ja auch Regeln sein. Und sind auch nicht immer leicht einzuhalten.

    (die freiheit und der aufbau eines eigenen regelsystems).

    Irgendwie habe ich das bei Sun Ra immer (?) so gehört, bzw. so interpretiert, auch wenn ich es nicht wirklich verstanden habe und verstehe. Vielleicht ist das sogar eine Eigenschaft, die verschiedene Subkulturen und die Kulturproduktion, die sie hervorbringen, gemein haben. Und das ist dann wiederum für mich ein Sehnsuchtsort.

    Gerade mal Lanquidity zum Frühstück aufgelegt.

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #2196289  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

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    Ich tendiere zwar momentan dazu, neben Gioia kein weiteres Buch zum West Coast Jazz für nötig zu befinden, aber Alain Tercinets vor längerem angekündigtes und dann wieder verschwundenes Buch erscheint demnächst doch – und ich werde es wohl mal holen.

    amazon.fr hat ein paar Doppelseiten zur Ansicht:
    http://www.amazon.fr/gp/product/2863646656

    EDIT: ist natürlich eine Neuaflage – das Buch erschien Mitte der Achtziger und damit vor Gioia. Kann mich gerade nicht erinnern, dass Gioia es erwähnen würde (aber es soll ja ca. 2,3 Amerikaner geben, die Französisch können – und nein, die Québécois zählen gewiss nicht dazu ;-))

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #2196291  | PERMALINK

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    Hier neu:

    The Blue Note Photographs of Francis Wolff

    (Signed by Wayne Shorter)

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    #2196293  | PERMALINK

    hat-and-beard
    dial 45-41-000

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    Das von Cuscuna herausgegebene? Habe ich auch, ist natürlich wunderbar.

    --

    God told me to do it.
    #2196295  | PERMALINK

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    Ja, ist deine Ausgabe auch nummeriert?

    --

    #2196297  | PERMALINK

    hat-and-beard
    dial 45-41-000

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    Nein. Wo stehen denn bei Deinem Buch die Nummer und das Autogramm?

    --

    God told me to do it.
    #2196299  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Hat and beardNein. Wo stehen denn bei Deinem Buch die Nummer und das Autogramm?

    Auf der Innenseite des Covers.

    --

    #2196301  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,878

    Ein bisschen viel Text. Daher in 3 Teilen.

    Teil 1:

    Hannah Rothschild – Die Jazz Baroness / Das Leben der Nica Rothschild (2012)
    (Originaltitel: The Baroness: The Search For Nica, The Rebellious Rothschild)

    Nicht im engeren Sinne ein Jazzbuch. Da aber die Biografie von Pannonica de Koenigswarter, née Kathleen Annie Pannonica Rothschild, (* 10. Dezember 1913 in London; † 30. November 1988 in New York) eng mit der Biografie von Thelonious Monk verknüpft ist, gehört das Buch hierher.

    Die Autorin (* 1962) stammt selbst aus dem Hause Rothschild, der jüdischen Finanzdynastie. Pannonica ist – wenn ich das jetzt richtig erinnere – ihre Großtante. Es irritiert zunächst, dass Hannah Rothschild viel Raum dafür verwendet, die Geschichte und die Verwandtschaftsverhältnisse der Rothschilds zu schildern – für das Verständnis der Persönlichkeit Pannonicas ist das aber wohl unterlässlich. Die Rothschilds sind eine aus einfachsten Verhältnissen stammende jüdische Familie aus Frankfurt, die über Generationen zu einer einflussreichen europäischen Bankendynastie aufsteigt, zu Finanziers von sogar Kriegen und Nationen wird, da sie jüdisch ist, aber niemals voll gesellschaftlich anerkannt wird. Durch die Verfügung des Gründervaters, dass die Geschäfte immer durch männliche Familienmitglieder geführt werden müssen, schottet sich die Familie nach außen ab (und gibt gewissen Kreisen Anlass zu antisemitischen Verschwörungstheorien) und bietet den Männern der Familie gleichzeitig kaum berufliche Alternativen. Den Namen Rothschild kann man nicht ablegen, in einem anderen Beruf als Bankier wird man kaum ernst genommen, zumal klar ist, dass man als Mitglied einer millionenschweren Familie, Arbeit nicht um des Broterwerbs Willen nötig hat. Frauen sind da sowieso nur Beiwerk, das für Nachwuchs zu sorgen und gesellschaftliche Pflichten zu erfüllen hat. Klischeehaft: Ein goldener Käfig, in dem manche Familienmitglieder eigenartige Exzentrizitäten entwickeln oder Karrieren in akademischen Orchideenfächern einschlagen, wie Pannonicas Onkel Walter Rothschild, der Zebras vor seine Kutsche spannt oder ihr Vater Charles und ihre Schwester Miriam, die u.a. wissenschaftliche Experten für Schmetterlinge und Flöhe waren.

    Pannonica verheiratet sich standesgemäß mit dem französischen, ebenfalls jüdischen Diplomaten und Baron Jules de Koenigswarter, eine Ehe, aus der fünf Kinder hervorgehen, die aber auch von der Kontrollsucht des Ehemanns geprägt ist. Im 2. Weltkrieg tritt sie mit ihrem Mann de Gaulles Freier Französischen Armee bei und arbeitet in verschiedenen afrikanischen Ländern als Chiffriererin und Fahrerin. Über ihren Klavier spielenden Bruder Victor lernt sie Jazz kennen und lieben.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #2196303  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,878

    Teil 2:

    1951 vollzieht Pannonica einen dramatischen Bruch in ihrem Leben: Schon seit Jahren dem Leben als Diplomatengattin und Rothschild-Erbin mit vor allem repräsentativer Funktion überdrüssig, trennt sie sich von ihrem Mann und auch weitgehend von ihren Kindern, zieht nach New York in eine Hotelsuite und sucht die Nähe von Jazzmusikern. Dieser Schritt entfremdet sie zwar mehr und mehr von ihrer Familie, gleichzeitig ermöglicht ihr aber gerade der Reichtum der Rothschilds überhaupt erst, dieses Leben zu führen.

    Auftritt Thelonious Monk: Panonnica unterhält Freundschaften und Bekanntschaften mit zahlreichen vor allem afro-amerikanischen Musikern, darunter Teddy Wilson, Charlie Parker und Art Blakey, eine ganz besonderes innige Beziehung entwickelt sich aber zwischen ihr und Thelonious. Als Panonnica ihn kennenlernt ist er ein zwar als genial geltender aber erfolgloser Pianist, der seine cabaret card verloren hat, deswegen in New York nicht auftreten kann und dessen Platten wie Blei in den Regalen liegen. Thelonious‘ Persönlichkeit ist geprägt durch sein exzentrisches Verhalten: Er ist nicht willens oder fähig sich dem Lebensrhythmus seiner Umgebung anzupassen, schläft, wann und wo er will, spricht kaum und ist an nichts als seiner Musik interessiert. Sein Drogenkonsum verstärkt diese Absonderlichkeiten nur noch.

    Pannonica jedoch vergöttert Thelonious! Sie hilft ihm bei der Wiedererlangung der cabaret card, kauft ihm ein Klavier und hilft ihm und seiner Familie immer wieder aus der Patsche, was wohl öfter nötig ist, da Monks Ehefrau Nellie, die als Angestellte der Stadtverwaltung für den Lebensunterhalt der Monks sorgt, damit schlicht überfordert ist. Mt der Zeit werden Pannonica und Thelonious unzertrennlich.

    Wie kann man dieses Verhältnis zwischen Pannonica und Thelonious interpretieren? Hannah Rothschild spekuliert darüber, vermeidet aber eine eindeutige Bewertung. Man könnte von der symbiotischen Beziehung zwischen einer Millionenerbin, die ihrem goldenen Käfig zu entkommen versucht, und einem mittellosen Künstler, der ausschließlich tut, was er will, interpretieren. Verkörpert Thelonious für Pannonica die Idealvorstellung des edlen Wilden, der frei und unabhängig nur seiner eigenen Natur folgt? Oder ist es eine Art Co-Abhängigkeit mit Monk als hilfsbedürftigen verrückten Genie, das alleine nicht existenzfähig ist und Pannonica, die ihr Leben mit Sinn füllt, indem sie es ihrem Idol widmet? Oder ist es die tiefe Freundschaft zweier gesellschaftlicher Außenseiter, einerseits Pannonica, die Jüdin, die selbst in ihrer eigenen Familie das schwarze Schaf ist, andererseits Thelonious, afro-amerikanischer Musiker, der selbst in der Jazz Szene als Spinner gilt? Man muss sich vor Augen führen, was für extrem unterschiedliche Menschen Pannonica und Thelonious Monk sind: Millionenschwere Baroness aus altem europäischen Geldadel trifft mittellosen afro-amerikanischen Jazzmusiker. Wie groß ist die Chance, dass sich ausgerechnet diese beiden Menschen treffen und dass sie auch noch eine enge Beziehung miteinander eingehen?

    Als sich mit zunehmenden Alter Thelonious‘ körperlicher und psychischer Zustand verschlechtert, er gesundheitliche Probleme hat und in Lethargie und Depressionen versinkt, nimmt Panonnica ihn schließlich in ihrem Haus in New Jersey auf, in dem sie ansonsten alleine, jedoch mit hunderten (!) von Katzen lebt. Thelonious Frau Nellie besucht ihn am Ende nur noch selten. Auch das Verhältnis zwischen Nellie und Pannonica ist wohl ein ambivalentes.

    Thelonious stirbt 1982 im Haus von Pannonica, Pannonica selbst stirbt 1988. Ihre Asche wird zur Musik von ‚Round Midnight um Mitternacht in den Hudson River gestreut.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
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