Re: Jazzbücher

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redbeansandrice

Registriert seit: 14.08.2009

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vorgartenszweds miles-biografie habe ich nie gelesen, komisch eigentlich, ich komme mit seinem stil & ansatz bei ra ziemlich gut klar. letzteres und stüttgen lese ich so häppchenweise, wie jazzbücher meistens, bin mit beiden auch nicht fertig. dumas mal anzutesten hatte ich schon überlegt, klingt spannend, was du andeutest, aber warum „darf man nicht zu viel erwarten?“. und kannst du kurz sagen, welche sachen bei szwed und stüttgen für dich neu oder besodners interessant waren, auf sun ra bezogen?

vorneweg: Szweds Miles Biografie ist mE zu Unrecht etwas untergegangen… klar – es gibt andere und man weiß über Davis mehr , aber „wenn“ find ich das Buch eher stärker als Space is the Place…

zu Dumas und „zu viel erwarten“. Für mich funktioniert er sehr gut, aber er kommt mir thematisch auch sehr entgegen. Männer, die alleine durch Menschenmengen gehen – check. Märchenhafte Gruselgeschichten, die an M.R. James erinnern – check. Das Dilema der schwarzen Männer in Amerika – check. Auf dem Land oder in einer Kleinstadt aufwachsen, in der gar nichts passiert – nicht meine Geschichte + in den Stories zum Thema passiert meist eher wenig… aber ich les trotzdem weiter… ich kann schlecht beurteilen, wie gut das für andere funktioniert… beste Passage bis hier:

„The Book speaks in many languages,“ said the Devil. „A lifetime can be spent in the worthwile pursuit of the wisdom of the Book. There are special situations with no rules, and special rules for no situations.“

zu Deiner kniffligen Frage – was hab ich gelernt:

Bei Szwed vergleichsweise einfach. Über die frühen Jahre und Ras Weltbild viel. Bei Chicago hatt ich keine hohen Erwartungen, weil ich von Campbell schon relativ viel wusste. Bei New York und danach war ich etwas enttäuscht.

Bei Stüttgen ist es schwieriger: In Sachen Sun Ra fand ich glaub ich diese slave ship vs space ship Sache am interessantesten – was macht man aus der Zukunft, wenn man keine Vergangenheit hat. Die ausführliche Diskussion des Films „Space is the Place“ fand ich auch gut – aber ich kenn den Film auch selber noch nicht. Ansonsten: Dass es gelingen kann, „die französichen Philosophen“ in verständlicher Sprache zusammenzufassen, fand ich diffus beruhigend und erhellend. Und die Diskussion rund um die heteronormativen Ideale hat mich irgendwie durchaus weitergebracht… Also, zB: dass es eine Art Rebellion ist, wenn ich sage „es gibt hier keine Öffnungszeiten, ich bin meistens zwischen 11 und 20 Uhr da“ (im Vergleich zum heteronormativen Ideal eine Stunde zu lang und zwei Stunden nach hinten verschoben) war mir nicht klar… oder dass diese Trennung zwischen den Leuten, mit denen man arbeitet, und „Arbeitskollegen“ (beide Gruppen sind überaus wichtig und teilweise liebe Freunde) vermutlich einen theoretischen Unterbau hat…

wie sehr Stüttgen mich im Bezug auf Sun Ra im Ganzen überzeugt, bin ich weniger sicher. Grob gesagt war Dumas am Tag seines Todes bei Ra (er hätte überall hingehen können, ist er aber nicht), und Ra sagte wohl sinngemäß sowas wie „du bist instabil und auf Amphetamin, die Pistole bleibt bei mir“ … und Dumas wurde später am Tag von Straßenbahnpolizisten nach einer Messerattacke auf einen anderen Fahrgast erschossen… (oder so: jedenfalls ist man sich auch in Dumas Umfeld relativ sicher, dass Polizeigewalt zwar vorkommt, aber dass es in diesem Fall dem überforderten Polizeiauszubildenden gegenüber nicht fair wäre, so zu argumentieren). Dumas war zwar schwarz, aber das heteronormativ akzeptierte Leben hat er geführt (Jahre als Soldat, eine Frau, zwei Kinder und eine feste Freundin) – und nichtsdestotrotz ist er an seinem letzten Tag zu Ra gegangen. Nach aktuellen Studien stehen schwarzamerikanische Frauen in den Arbeitsmarkt (etc) Statistiken eher besser da, als weißamerikanische – und das liegt sicherlich zu einem guten Teil daran, dass die Kinder gefüttert werden wollen, und, dass es keine Väter gibt… Anders gesagt: Sun Ra hat ein Dilemma gesehen und Auswege angeboten – aber welches Dilemma das jetzt letztlich genau war… schwule Kommune oder Auffangplatz für Leute, die für den rassistischen Arbeitsmarkt psychisch nicht stark genug waren – schwer zu sagen.

Ich hab neulich Ta-Nehisi Coates gelesen, wie er die Großmutter seines Kindes überzeugen musste, dass er das Kind wirklich mitgroßziehen darf, Polizeikontrollen mit Kinderwagen, und dass er das einzige Kind in seiner Klasse war, das zumindest irgendeinen Vater hatte (der nicht einfach war, aber in mancher Hinsicht durchaus berühmt)… ich find es schwer zu sagen, welches gesellschaftliche Problem Ra mit seinem Arkestra eigentlich lösen wollte – aber eine handvoll große bis kaum lösbare Probleme stehen zur Auswahl…

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