Steht Rockmusik für die Rückkehr des Naturtones in die abendländische Musik?

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  • #40121  | PERMALINK

    daniel_belsazar

    Registriert seit: 19.04.2006

    Beiträge: 1,253

    Angeregt von der jüngsten Auseinandersetzung Otis/Bluebean im Thread Alles Geschmackssache:

    Nach meinem Wissen ist das Bachsche Wohltemperierte Klavier die praktische Umsetzung der Aufteilung der reinen Oktave in zwölf gleichgroße, mathematisch „unsaubere“ Intervalle durch Andreas Werckmeister. Bach zeigte „schulmäßig“, dass mit einer solchen Stimmung tatsächlich Wechsel durch alle Tonarten möglich sind, ohne dass ein Hörer die geringfügigen Abweichungen der Tonhöhen von den Naturtönen auf Basis des jeweiligen Grundtones wirklich bemerkt, und dazu unabhängig davon, ob es die Tonart Dur oder Moll ist.

    (@Otis: Das ist, nebenbei bemerkt, m.M.n. durchaus etwas mehr als eine reine „Spielwiese“, es ist vielmehr ein bewusst geführter experimenteller Beweis mit sehr starker Wirkung, denn:)

    Ein wirklich bemerkenswerter Fortschritt, der durch Standardisierung die Reproduzierbarkeit von Musik erheblich erleichterte und zugleich Basis und Ausgangspunkt für die Entwicklung der Harmonik war, die sich in den folgenden Jahrhunderten Schritt für Schritt entfaltete und ausdifferenzierte.

    Und die chromatische Tonaufteilung könnte, so meine Überlegung, Grundlage für alles sein, was gemeinhin unter „klassischer“ oder „ernster“ Musik läuft, aber durchaus auch noch für vieles, was besonders in Europa heute unter „populärer“ Musik läuft – soweit sie denn harmonisch auf dieser Tradition beruht.

    Etwas anderes dagegen würde die Musiktradition darstellen, die insbesondere über afroamerikanische Einflüsse (Blues, Jazz) nicht nur rhythmisch anders untersetzt ist, sondern auch in der Regel über ungebrochen vorhandene Naturtonreihen verfügt. Das heißt, dass die einzelnen Lieder in der Regel harmonisch limitierter sind als die der klassisch-abendländischen Tradition, dafür aber die in die jeweilige Tonart eigentlich „passenderen“ Tonreihen aufweist, womit wiederum mehr persönliche und direkte Ausdrucksmöglichkeiten gegeben sein könnten.

    Kompletter Stuss oder möglicher Differenzierungsansatz?

    --

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    #5448707  | PERMALINK

    doerte-densing

    Registriert seit: 12.11.2006

    Beiträge: 51

    Rockmusik steht vor allem für die Rückkehr der gepflegten Langeweile.

    Als Ansatz ansonsten aber gut, Daniel.

    --

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    #5448709  | PERMALINK

    daniel_belsazar

    Registriert seit: 19.04.2006

    Beiträge: 1,253

    Rockmusik steht vor allem für die Rückkehr der gepflegten Langeweile.

    Als Ansatz ansonsten aber gut, Daniel.

    Netter Versuch, gespörrte Dörte.

    Ansonsten habe ich wohl alle miteinander deutlich unterfordert.

    Ich hab die Botschaft so verstanden: Geht ja nur um Töne, die für Musik ohnehin total überschätzt werden. So ähnlich wie Logik für sprachliche Kommunikation (und jedwede Technik, die wir herstellen und nutzen). Schön, das in diesem musikalischen „Philosophicum“ alle so gut Bescheid wissen und sich an Dieter Nuhr erinnern: „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten.“

    :spudnikco

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    #5448711  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    DB, da du mich ansprichst:
    Mein Post bzgl. Bach, ja, ich erinnere mich, hatte einen leicht anderen Bezug. Deine Einschätzung des WT teile ich nämlich. „Spielwiese“ mag da etwas despektierlich klingen, meint aber nichts anderes als das oben Beschriebene. Die temperierte Stimmung war für die Musiker damals allerdings nicht der Musikalität letzter Schluss und sie ist sicher nur ein künstliches Gebilde, das sich dann aber durchsetzte, und schlussendlich vieles, was harmonisch später probiert wurde, erst möglich machte.

    Was das Ganze aber mit deiner Eingangsfrage zu tun hat, verstehe ich nicht. Klar doch hat der afroamerikanische Einfluss diese Wohltemperiertheit wieder aufgelöst. Die weiße Musikwissenschaft schien ja geradezu entzückt von ihren „blue notes“. Das hat aber nichts mit „Naturtönen“ zu tun. Die gibt es in diesem Zusammenhang doch nur indirekt. Naturtöne haben mit den Obertonreihen zu tun. Bei der Temperierung ging es darum, dass ein Gis und ein As eben zwei verschiedene Töne waren. Das dürftest du aber sicher wissen. Für die Afroamerikaner, wie für einige andere Kulturen, waren die weißen Tonleitermodelle halt eher fremde, was sie veranlasste daraus auszubrechen. Und nicht weil sie irgendwelche Naturtöne bevorzugten. Ebenso war es mit der Rhythmik, die ja im Abendland eher simpel blieb (im Gegensatz zur Harmonik).
    Ich denke auch nicht, dass die Rockmusik per se harmonisch limitierter sein muss. Aber es gibt auch keinen Grund, dass sie kompliziert sein müsste. Harmonische Strukturen sind eben nur ein Parameter in der Musik.

    --

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    #5448713  | PERMALINK

    ah-um

    Registriert seit: 24.02.2006

    Beiträge: 1,398

    Ich fürchte, ich kann da wirklich nicht ganz folgen. Auch Jazz und Blues werden doch auf „wohltemperierten“ Klavieren gespielt, oder? Natürlich werden blue notes von Sängern üblicherweise zwischen den Halbtönen schwebend intoniert. Und in der Tat gibt es die Theorie, die dies auf Vermittlungsschwierigkeiten zwischen afrikanischem und europäischem Tonsystem zurückführt. Die Verbindung zu den Naturtönen bleibt doch aber äußerst vage. Insgesamt muss man wohl feststellen, dass die afro-amerikanische Musik sich weitgehend des europäischen Tonsystems und auch europäisch gestimmter Musikinstrumente bedient.
    Oder habe ich da was grundlegend falsch verstanden?

    --

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    #5448715  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Nein, stimmt schon, Ah Um. Aber das „unsaubere“ Spiel auf den Gitarrensaiten, indem man sie dehnt (wie heißt diese Technik eigentlich?), die entsprechende Intonation auf den Blasinstrumenten, auch die Technik beim Pianospiel, zielen schon darauf ab, das weiße tonale System auszuhebeln. Der Zusammenhang mit „Naturtönen“ erschließt sich mir aber auch nicht ganz.

    --

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    #5448717  | PERMALINK

    kritikersliebling

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 18,340

    otisNein, stimmt schon, Ah Um. Aber das „unsaubere“ Spiel auf den Gitarrensaiten, indem man sie dehnt (wie heißt diese Technik eigentlich?), die entsprechende Intonation auf den Blasinstrumenten, auch die Technik beim Pianospiel, zielen schon darauf ab, das weiße tonale System auszuhebeln. Der Zusammenhang mit „Naturtönen“ erschließt sich mir aber auch nicht ganz.

    Bending. Es gibt aber auch noch Pull Off und Hammer On.

    --

    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    #5448719  | PERMALINK

    sokrates
    Bound By Beauty

    Registriert seit: 18.01.2003

    Beiträge: 19,111

    otis Aber das „unsaubere“ Spiel auf den Gitarrensaiten, indem man sie dehnt (wie heißt diese Technik eigentlich?)

    Mit den Fingern auf dem Griffbrett: Bending.
    Mit der Hand am Jammerhebel: Vibrato

    --

    „Weniger, aber besser.“ D. Rams
    #5448721  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Letzteres wusste ich, ersteres fällt mir jetzt wieder ein. Danke.

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    #5448723  | PERMALINK

    nik

    Registriert seit: 06.09.2003

    Beiträge: 413

    Kai BargmannMit den Fingern auf dem Griffbrett: Bending.
    Mit der Hand am Jammerhebel: Vibrato

    Und wende keinen Haken an deiner Klampfe hast? Kein Vibrato?
    Doch doch, klitzekleine Bendings sehr schnell hintereinander gespielt sind nix anderes als Vibrato. Das „klassische“ Vibrato wird sogar auf der Saite in Längsrichtung gespielt und nicht quer dazu, wie beim Bending.

    --

    Johnny Marr IS GOD
    #5448725  | PERMALINK

    ah-um

    Registriert seit: 24.02.2006

    Beiträge: 1,398

    NikUnd wende keinen Haken an deiner Klampfe hast? Kein Vibrato?
    Doch doch, klitzekleine Bendings sehr schnell hintereinander gespielt sind nix anderes als Vibrato. Das „klassische“ Vibrato wird sogar auf der Saite in Längsrichtung gespielt und nicht quer dazu, wie beim Bending.

    Ja. Als Vibrato bezeichnet man einfach in rascher Abfolge wiederkehrende Schwankungen der Tonhöhe. Wie es erzeugt wird, spielt dabei zunächst keine Rolle.

    --

    There is a crack in everything; that's how the light gets in. (Leonard Cohen)
    #5448727  | PERMALINK

    kritikersliebling

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 18,340

    Ah UmIch fürchte, ich kann da wirklich nicht ganz folgen. Auch Jazz und Blues werden doch auf „wohltemperierten“ Klavieren gespielt, oder? Natürlich werden blue notes von Sängern üblicherweise zwischen den Halbtönen schwebend intoniert. Und in der Tat gibt es die Theorie, die dies auf Vermittlungsschwierigkeiten zwischen afrikanischem und europäischem Tonsystem zurückführt. Die Verbindung zu den Naturtönen bleibt doch aber äußerst vage. Insgesamt muss man wohl feststellen, dass die afro-amerikanische Musik sich weitgehend des europäischen Tonsystems und auch europäisch gestimmter Musikinstrumente bedient.
    Oder habe ich da was grundlegend falsch verstanden?

    Ich glaube, mit Europa hat das an sich nichts zu tun. Man spricht da wohl von westlicher Welt oder so. Töne sind ja rein physikalischer Natur und somit exakt zu berechnen. Wollte man eine Gitarre nach exakt berechneten Tönen bauen, sähen die Bünde auf dem Gitarrenhals ziemlich lustig aus. Kann sich ja jeder mal vorstellen (was ich mir auch wiederum lustig vorstelle). Und weil die Gitarrenbauer vor lauter Lachen nicht weiterbauen konnten und kein Gitarren- oder besser Lautespieler seine Finger so verbiegen konnte, wie es erforderlich gewesen wäre, hat man sich überlegt Kompromisse zu machen. Herausgekommen ist die wohltemperierte Stimmung, welche durch Aneinanderreihung verschiedener Töne die in die richtige Reihenfolge gebracht durchaus das eine oder andere formidable Lied hervorgebracht hat.

    --

    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    #5448729  | PERMALINK

    ah-um

    Registriert seit: 24.02.2006

    Beiträge: 1,398

    KritikersLieblingIch glaube, mit Europa hat das an sich nichts zu tun. Man spricht da wohl von westlicher Welt oder so. Töne sind ja rein physikalischer Natur und somit exakt zu berechnen. Wollte man eine Gitarre nach exakt berechneten Tönen bauen, sähen die Bünde auf dem Gitarrenhals ziemlich lustig aus. Kann sich ja jeder mal vorstellen (was ich mir auch wiederum lustig vorstelle). Und weil die Gitarrenbauer vor lauter Lachen nicht weiterbauen konnten und kein Gitarren- oder besser Lautespieler seine Finger so verbiegen konnte, wie es erforderlich gewesen wäre, hat man sich überlegt Kompromisse zu machen. Herausgekommen ist die wohltemperierte Stimmung, welche durch Aneinanderreihung verschiedener Töne die in die richtige Reihenfolge gebracht durchaus das eine oder andere formidable Lied hervorgebracht hat.

    Es geht hier doch um sie sog. temperierte Stimmung von Musikinstrumenten, wie sie sich in Europa zu Beginn des 18. Jhd. durchgesetzt hat und zur Grundlage der heute als klassisch betrachteten europäischen Kunstmusik wurde.

    Eine Oktave bedeutet physikalisch gesprochen eine Verdoppelung der Frequenz. Wenn man dies zur Grundlage der Stimmung macht, dann stimmt’s aber mit den anderen Intervallen nicht mehr so ganz, weil sich diese nicht als glatte Bruchteile der Oktave darstellen lassen. Es muss also vermittelt und „getrickst“ werden, damit es auch in allen Oktaven gleich klingt. Darauf beruht die „wohltemperierte“ Stimmung.

    Sie wurde von den weißen Einwanderern nach Amerika mitgebracht und dort auch von den Schwarzen übernommen (mit den bereits geschilderten Einschränkungen). In diesem Sinne sprach ich von „europäisch“.

    „Westliche Welt“ ist dagegen wohl eher ein politischer Begriff, der nach dem 2. WK zur Abgrenzung von den Ländern unter kommunistischer Herrschaft entwickelt wurde.

    --

    There is a crack in everything; that's how the light gets in. (Leonard Cohen)
    #5448731  | PERMALINK

    daniel_belsazar

    Registriert seit: 19.04.2006

    Beiträge: 1,253

    Ah UmEs geht hier doch um sie sog. temperierte Stimmung von Musikinstrumenten, wie sie sich in Europa zu Beginn des 18. Jhd. durchgesetzt hat und zur Grundlage der heute als klassisch betrachteten europäischen Kunstmusik wurde.

    Eine Oktave bedeutet physikalisch gesprochen eine Verdoppelung der Frequenz. Wenn man dies zur Grundlage der Stimmung macht, dann stimmt’s aber mit den anderen Intervallen nicht mehr so ganz, weil sich diese nicht als glatte Bruchteile der Oktave darstellen lassen. Es muss also vermittelt und „getrickst“ werden, damit es auch in allen Oktaven gleich klingt. Darauf beruht die „wohltemperierte“ Stimmung.

    Etwas zu kurz gegriffen, wie ich finde, Ah Um. Der wesentliche Punkt ist, dass Naturtöne sich aus ihrem Verhältnis zum Grundton der jeweiligen Tonart ergeben. Da ich keine große Lust habe, das alles jetzt zu referieren, hier ein Auszug aus Wikipedia, der ganz gut erklärt, worum es mir geht:

    „Jeder Ton hat in jeder Tonleiter eine andere Bedeutung, z. B. kann das E der Grundton der E-Dur-Tonleiter sein, hingegen der dritte Ton, die Terz, der C-Dur-Tonleiter oder der fünfte Ton, die Quinte, der A-Dur- oder a-Moll-Tonleiter. Für jede der möglichen Positionen im Tonleiterraum ergeben sich unterschiedliche Frequenzverhältnisse der Töne zueinander, die aber untereinander in Einklang gebracht werden müssen, um auf einem Instrument in mehreren gewünschten Tonarten gespielt werden zu können. Eine Folge von reinen Terzen 4:5 ist stimmtechnisch nicht in Übereinstimmung zu bringen mit einer Folge von reinen Quinten 2:3. Dieses bedeutet – bei der üblichen Beschränkung auf zwölf Tonstufen pro Oktave -, Kompromisse einzugehen: Je reiner eine bestimmte Tonart gestimmt wird, umso unreiner sind andere Tonarten.“

    Das heißt also, ein natürliches E hat, je nachdem in welcher Tonleiter und Tonart es steht, unterschiedliche und unterscheidbare Schwingungsfrequenzen – was sich in den Obertonreihen potenziert fortsetzt. Ein auf bestimmte Tonarten eingestelltes Instrument wird also andere, weiter entfernte Tonarten nur sehr unsauber bis gar nicht wiedergeben können. Es gab daher bspw. in älterer Zeit Tasteneinstrumente, die für AS und GIS zwei verschiedene Tasten führten. Das schränkt natürlich die Möglichkeiten eines Komponisten in harmonischer Hinsicht stark ein.

    Schon vor Bach wurde angestrebt, ein möglichst variables Tonsystem zu entwickeln, das das Spielen jeder möglichen Tonart auf einem Tasten-Instrument ermöglichte. Und genau dieser Versuch ist das „Wohltemperierte Klavier“, das alle 12 Grundtonarten in Moll und Dur umfasst. Um ehrlich zu sein: Wie temperiert die Bachschen Instrumente nun wirklich waren, weiß kein Mensch. Wesentlich ist jedenfalls die Umstellung der Tonhöhenentfernung auf absolute Verhältnisse durch die mathematische Aufteilung der Oktave, die für die einzelnen Töne dann gewissermaßen einen „Kompromiss“ findet. Das eröffnet natürlich bis dato ungeahnte kompositorische Möglichkeiten, da sich völlig neue Variabilitäten ergaben.

    Die richtigen Cracks, also die Musikwissenschaftler, unterscheiden dann übrigens noch einmal die „wohltemperierte“ Stimmung, die von 1700 bis 1870 den Taktstock für eine immerhin noch „ausgeprägte Tonartencharakteristik“ mit der Kerntonart C-Dur schwang, von der dann eintretenden „gleichschwebenden“, die noch einen Schritt weiter in der Standardisierung geht: Hier sind schlicht „alle Tonarten gleich verstimmt“. Das ist das, womit wir heute in der abendländischen Musik-Tradition im Wesentlichen leben. Die zunehmende Temperierung, und das vor allem bleibt festzuhalten, geht dabei letztlich auf Kosten der Ausdrucksfähigkeit und Tiefencharakteristik der Tonarten.

    Und hier setzt meine Überlegung an. Blues und Rock zeichnen sich in der Regel durch eine gewisse harmonische Einfachheit aus (es sei nur mal an die berühmten drei Akkorde erinnert). Bei meinen eigenen Erfahrungen in entsprechenden Jams hat sich immer wieder gezeigt, dass sich diese häufig um einen Grundton drehen, von dem aus sich das Spannungsverhältnis der Töne entwickelt. Häufig stimmt man ja auch in solchen Situationen die Instrumente ein. Davon abgesehen, dass dabei sehr oft der „Kammerton“ etwas tiefer liegt als die heute üblichen 440 Hertz – das tut und tat es vor allem je nach Zeitmode aber auch in der „klassischen“ Musik öfter -, ist mit den entsprechenden Stimmungen jedenfalls auf Gitarren kaum ein Tonart-Wechsel möglich, und wenn, dann nur in sehr eng beieinander liegenden. Wenn im Gegenteil eine nach Gerät gestimmte Gitarre einsetzt, klingt diese in solchen Zusammenhängen meist leicht schräg und disharmonisch.

    KritikersLieblingIch glaube, mit Europa hat das an sich nichts zu tun. Man spricht da wohl von westlicher Welt oder so. Töne sind ja rein physikalischer Natur und somit exakt zu berechnen. Wollte man eine Gitarre nach exakt berechneten Tönen bauen, sähen die Bünde auf dem Gitarrenhals ziemlich lustig aus. Kann sich ja jeder mal vorstellen (was ich mir auch wiederum lustig vorstelle). Und weil die Gitarrenbauer vor lauter Lachen nicht weiterbauen konnten und kein Gitarren- oder besser Lautespieler seine Finger so verbiegen konnte, wie es erforderlich gewesen wäre, hat man sich überlegt Kompromisse zu machen. Herausgekommen ist die wohltemperierte Stimmung, welche durch Aneinanderreihung verschiedener Töne die in die richtige Reihenfolge gebracht durchaus das eine oder andere formidable Lied hervorgebracht hat.

    Das Letztere bestreite ich nicht, das ist auch nicht das, worum es geht.

    Gitarren besitzen in der Regel sechs einzeln leicht erreichbar in der Tonhöhe regelbare Saiten. Dass jede Saite einzeln durch feststehende Bünde unterteilt sind, schränkt zwar die Möglichkeiten zu Naturtonstimmungen leicht ein, verhindert sie aber bei weitem nicht – und dies ganz abseits jeder Spieltechnik mit Ziehen der Saiten oder auch Dämpfen bestimmter Saiten (bis hin zum Weglassen von Saiten, wie es etwa Keith Richards gelegentlich praktiziert). Insgesamt hat es wenig mit Instrumenten zu tun, obwohl das auch nur eingeschränkt gilt (vor allem in Richtung Temperierung des Klaviers zur Verbesserung der Kompositionsmöglichkeiten).

    otisDie temperierte Stimmung war für die Musiker damals allerdings nicht der Musikalität letzter Schluss und sie ist sicher nur ein künstliches Gebilde, das sich dann aber durchsetzte, und schlussendlich vieles, was harmonisch später probiert wurde, erst möglich machte.

    Was das Ganze aber mit deiner Eingangsfrage zu tun hat, verstehe ich nicht. Klar doch hat der afroamerikanische Einfluss diese Wohltemperiertheit wieder aufgelöst. Die weiße Musikwissenschaft schien ja geradezu entzückt von ihren „blue notes“. Das hat aber nichts mit „Naturtönen“ zu tun. Die gibt es in diesem Zusammenhang doch nur indirekt. Naturtöne haben mit den Obertonreihen zu tun. Bei der Temperierung ging es darum, dass ein Gis und ein As eben zwei verschiedene Töne waren. Das dürftest du aber sicher wissen. Für die Afroamerikaner, wie für einige andere Kulturen, waren die weißen Tonleitermodelle halt eher fremde, was sie veranlasste daraus auszubrechen. Und nicht weil sie irgendwelche Naturtöne bevorzugten. Ebenso war es mit der Rhythmik, die ja im Abendland eher simpel blieb (im Gegensatz zur Harmonik).
    Ich denke auch nicht, dass die Rockmusik per se harmonisch limitierter sein muss. Aber es gibt auch keinen Grund, dass sie kompliziert sein müsste. Harmonische Strukturen sind eben nur ein Parameter in der Musik.

    Die Blue Notes haben weniger mit Naturtonleitern zu tun, das sehe ich ähnlich. Sie stammen eher aus einem gänzlich unterschiedlichen Tonsystem. So sind ja auch einige Töne aus der indischen Skala, die die Spannbreite zwischen der Frequenzverdoppelung meines Wissens nach in 18 Töne unterteilt (die aber übrigens durch Verschieben von Bünden veränderbar sind), in der abendländischen Skala nur eingeschränkt bzw. überhaupt nicht abbildbar.

    Wenn die Rockmusik eher auf die Charakter-Tiefe von natürlichen Tonarten setzt (siehe oben), dann ist sie harmonisch zwar in der Breitendimension (Variabilität) limitierter, in der Dimension Tiefe jedoch weitergehend.

    Und bei dem Ganzen geht es mir nicht um besser oder schlechter, sondern um Verstehen dessen, was vorgeht.

    otisDB, da du mich ansprichst:
    Mein Post bzgl. Bach, ja, ich erinnere mich, hatte einen leicht anderen Bezug. Deine Einschätzung des WT teile ich nämlich. „Spielwiese“ mag da etwas despektierlich klingen, meint aber nichts anderes als das oben Beschriebene.

    Manch einer würde sagen, das das aber ziemlich euphemistisch für jemanden klingt, der ansonsten häufig nicht gerade zimperlich mit sehr starken Worten die Argumentation anderer angreift und die „Spielwiese“ als doch leicht unfaires Mittel in einer ebensolchen benutzt hat. Ich aber sage: Das zeigt nur die Souveränität an, mit der er mit Kritik und Selbstkritik umgeht. ;-)

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    #5448733  | PERMALINK

    ah-um

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    @ Daniel Belsazar:

    Ich sehe da eigentlich keinen Widerspruch zu meinem Geschwafel. Das Prinzip und die Implikationen der temperierten Stimmung im Vergleich zur natürlichen Stimmung dürfte einigermaßen klar sein und ist ohnehin überall nachzulesen. Wie gesagt rede ich hier jedoch als Laie von diesen Dingen.

    Allerdings ist mir erst jetzt klar geworden, worauf du eigentlich hinaus willst: Bei einfacher Harmonik benötigt man die Vorzüge der temperierten Stimmung eigentlich nicht und muss daher auch die damit einhergehenden Kompromisse nicht in Kauf nehmen. Wenn man gar nicht vorhat, die Tonart zu wechseln, kann man wieder eine natürliche Stimmung verwenden.

    Ob dies tatsächlich unter Rockmusikern geschieht, kann ich nicht beurteilen. Man wäre eben schon recht eingeschränkt. Ich habe mir darüber allerdings noch keine Gedanken gemacht.

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