Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Steht Rockmusik für die Rückkehr des Naturtones in die abendländische Musik? › Re: Steht Rockmusik für die Rückkehr des Naturtones in die abendländische Musik?
Ah UmEs geht hier doch um sie sog. temperierte Stimmung von Musikinstrumenten, wie sie sich in Europa zu Beginn des 18. Jhd. durchgesetzt hat und zur Grundlage der heute als klassisch betrachteten europäischen Kunstmusik wurde.
Eine Oktave bedeutet physikalisch gesprochen eine Verdoppelung der Frequenz. Wenn man dies zur Grundlage der Stimmung macht, dann stimmt’s aber mit den anderen Intervallen nicht mehr so ganz, weil sich diese nicht als glatte Bruchteile der Oktave darstellen lassen. Es muss also vermittelt und „getrickst“ werden, damit es auch in allen Oktaven gleich klingt. Darauf beruht die „wohltemperierte“ Stimmung.
Etwas zu kurz gegriffen, wie ich finde, Ah Um. Der wesentliche Punkt ist, dass Naturtöne sich aus ihrem Verhältnis zum Grundton der jeweiligen Tonart ergeben. Da ich keine große Lust habe, das alles jetzt zu referieren, hier ein Auszug aus Wikipedia, der ganz gut erklärt, worum es mir geht:
„Jeder Ton hat in jeder Tonleiter eine andere Bedeutung, z. B. kann das E der Grundton der E-Dur-Tonleiter sein, hingegen der dritte Ton, die Terz, der C-Dur-Tonleiter oder der fünfte Ton, die Quinte, der A-Dur- oder a-Moll-Tonleiter. Für jede der möglichen Positionen im Tonleiterraum ergeben sich unterschiedliche Frequenzverhältnisse der Töne zueinander, die aber untereinander in Einklang gebracht werden müssen, um auf einem Instrument in mehreren gewünschten Tonarten gespielt werden zu können. Eine Folge von reinen Terzen 4:5 ist stimmtechnisch nicht in Übereinstimmung zu bringen mit einer Folge von reinen Quinten 2:3. Dieses bedeutet – bei der üblichen Beschränkung auf zwölf Tonstufen pro Oktave -, Kompromisse einzugehen: Je reiner eine bestimmte Tonart gestimmt wird, umso unreiner sind andere Tonarten.“
Das heißt also, ein natürliches E hat, je nachdem in welcher Tonleiter und Tonart es steht, unterschiedliche und unterscheidbare Schwingungsfrequenzen – was sich in den Obertonreihen potenziert fortsetzt. Ein auf bestimmte Tonarten eingestelltes Instrument wird also andere, weiter entfernte Tonarten nur sehr unsauber bis gar nicht wiedergeben können. Es gab daher bspw. in älterer Zeit Tasteneinstrumente, die für AS und GIS zwei verschiedene Tasten führten. Das schränkt natürlich die Möglichkeiten eines Komponisten in harmonischer Hinsicht stark ein.
Schon vor Bach wurde angestrebt, ein möglichst variables Tonsystem zu entwickeln, das das Spielen jeder möglichen Tonart auf einem Tasten-Instrument ermöglichte. Und genau dieser Versuch ist das „Wohltemperierte Klavier“, das alle 12 Grundtonarten in Moll und Dur umfasst. Um ehrlich zu sein: Wie temperiert die Bachschen Instrumente nun wirklich waren, weiß kein Mensch. Wesentlich ist jedenfalls die Umstellung der Tonhöhenentfernung auf absolute Verhältnisse durch die mathematische Aufteilung der Oktave, die für die einzelnen Töne dann gewissermaßen einen „Kompromiss“ findet. Das eröffnet natürlich bis dato ungeahnte kompositorische Möglichkeiten, da sich völlig neue Variabilitäten ergaben.
Die richtigen Cracks, also die Musikwissenschaftler, unterscheiden dann übrigens noch einmal die „wohltemperierte“ Stimmung, die von 1700 bis 1870 den Taktstock für eine immerhin noch „ausgeprägte Tonartencharakteristik“ mit der Kerntonart C-Dur schwang, von der dann eintretenden „gleichschwebenden“, die noch einen Schritt weiter in der Standardisierung geht: Hier sind schlicht „alle Tonarten gleich verstimmt“. Das ist das, womit wir heute in der abendländischen Musik-Tradition im Wesentlichen leben. Die zunehmende Temperierung, und das vor allem bleibt festzuhalten, geht dabei letztlich auf Kosten der Ausdrucksfähigkeit und Tiefencharakteristik der Tonarten.
Und hier setzt meine Überlegung an. Blues und Rock zeichnen sich in der Regel durch eine gewisse harmonische Einfachheit aus (es sei nur mal an die berühmten drei Akkorde erinnert). Bei meinen eigenen Erfahrungen in entsprechenden Jams hat sich immer wieder gezeigt, dass sich diese häufig um einen Grundton drehen, von dem aus sich das Spannungsverhältnis der Töne entwickelt. Häufig stimmt man ja auch in solchen Situationen die Instrumente ein. Davon abgesehen, dass dabei sehr oft der „Kammerton“ etwas tiefer liegt als die heute üblichen 440 Hertz – das tut und tat es vor allem je nach Zeitmode aber auch in der „klassischen“ Musik öfter -, ist mit den entsprechenden Stimmungen jedenfalls auf Gitarren kaum ein Tonart-Wechsel möglich, und wenn, dann nur in sehr eng beieinander liegenden. Wenn im Gegenteil eine nach Gerät gestimmte Gitarre einsetzt, klingt diese in solchen Zusammenhängen meist leicht schräg und disharmonisch.
KritikersLieblingIch glaube, mit Europa hat das an sich nichts zu tun. Man spricht da wohl von westlicher Welt oder so. Töne sind ja rein physikalischer Natur und somit exakt zu berechnen. Wollte man eine Gitarre nach exakt berechneten Tönen bauen, sähen die Bünde auf dem Gitarrenhals ziemlich lustig aus. Kann sich ja jeder mal vorstellen (was ich mir auch wiederum lustig vorstelle). Und weil die Gitarrenbauer vor lauter Lachen nicht weiterbauen konnten und kein Gitarren- oder besser Lautespieler seine Finger so verbiegen konnte, wie es erforderlich gewesen wäre, hat man sich überlegt Kompromisse zu machen. Herausgekommen ist die wohltemperierte Stimmung, welche durch Aneinanderreihung verschiedener Töne die in die richtige Reihenfolge gebracht durchaus das eine oder andere formidable Lied hervorgebracht hat.
Das Letztere bestreite ich nicht, das ist auch nicht das, worum es geht.
Gitarren besitzen in der Regel sechs einzeln leicht erreichbar in der Tonhöhe regelbare Saiten. Dass jede Saite einzeln durch feststehende Bünde unterteilt sind, schränkt zwar die Möglichkeiten zu Naturtonstimmungen leicht ein, verhindert sie aber bei weitem nicht – und dies ganz abseits jeder Spieltechnik mit Ziehen der Saiten oder auch Dämpfen bestimmter Saiten (bis hin zum Weglassen von Saiten, wie es etwa Keith Richards gelegentlich praktiziert). Insgesamt hat es wenig mit Instrumenten zu tun, obwohl das auch nur eingeschränkt gilt (vor allem in Richtung Temperierung des Klaviers zur Verbesserung der Kompositionsmöglichkeiten).
otisDie temperierte Stimmung war für die Musiker damals allerdings nicht der Musikalität letzter Schluss und sie ist sicher nur ein künstliches Gebilde, das sich dann aber durchsetzte, und schlussendlich vieles, was harmonisch später probiert wurde, erst möglich machte.
Was das Ganze aber mit deiner Eingangsfrage zu tun hat, verstehe ich nicht. Klar doch hat der afroamerikanische Einfluss diese Wohltemperiertheit wieder aufgelöst. Die weiße Musikwissenschaft schien ja geradezu entzückt von ihren „blue notes“. Das hat aber nichts mit „Naturtönen“ zu tun. Die gibt es in diesem Zusammenhang doch nur indirekt. Naturtöne haben mit den Obertonreihen zu tun. Bei der Temperierung ging es darum, dass ein Gis und ein As eben zwei verschiedene Töne waren. Das dürftest du aber sicher wissen. Für die Afroamerikaner, wie für einige andere Kulturen, waren die weißen Tonleitermodelle halt eher fremde, was sie veranlasste daraus auszubrechen. Und nicht weil sie irgendwelche Naturtöne bevorzugten. Ebenso war es mit der Rhythmik, die ja im Abendland eher simpel blieb (im Gegensatz zur Harmonik).
Ich denke auch nicht, dass die Rockmusik per se harmonisch limitierter sein muss. Aber es gibt auch keinen Grund, dass sie kompliziert sein müsste. Harmonische Strukturen sind eben nur ein Parameter in der Musik.
Die Blue Notes haben weniger mit Naturtonleitern zu tun, das sehe ich ähnlich. Sie stammen eher aus einem gänzlich unterschiedlichen Tonsystem. So sind ja auch einige Töne aus der indischen Skala, die die Spannbreite zwischen der Frequenzverdoppelung meines Wissens nach in 18 Töne unterteilt (die aber übrigens durch Verschieben von Bünden veränderbar sind), in der abendländischen Skala nur eingeschränkt bzw. überhaupt nicht abbildbar.
Wenn die Rockmusik eher auf die Charakter-Tiefe von natürlichen Tonarten setzt (siehe oben), dann ist sie harmonisch zwar in der Breitendimension (Variabilität) limitierter, in der Dimension Tiefe jedoch weitergehend.
Und bei dem Ganzen geht es mir nicht um besser oder schlechter, sondern um Verstehen dessen, was vorgeht.
otisDB, da du mich ansprichst:
Mein Post bzgl. Bach, ja, ich erinnere mich, hatte einen leicht anderen Bezug. Deine Einschätzung des WT teile ich nämlich. „Spielwiese“ mag da etwas despektierlich klingen, meint aber nichts anderes als das oben Beschriebene.
Manch einer würde sagen, das das aber ziemlich euphemistisch für jemanden klingt, der ansonsten häufig nicht gerade zimperlich mit sehr starken Worten die Argumentation anderer angreift und die „Spielwiese“ als doch leicht unfaires Mittel in einer ebensolchen benutzt hat. Ich aber sage: Das zeigt nur die Souveränität an, mit der er mit Kritik und Selbstkritik umgeht.
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The only truth is music.