Robert Gernhardt

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  • #65649  | PERMALINK

    haiksen

    Registriert seit: 04.10.2009

    Beiträge: 50

    Ich erlaube mir als Neuling diese offensichtliche Lücke im Forum zu schließen.

    Robert Gernhardt in zwei kurzen Beispielen:

    Gebet

    Lieber Gott, nimm es hin,
    daß ich was Besond´res bin.
    Und gib ruhig einmal zu,
    daß ich klüger bin als du.
    Preise künftig meinen Namen,
    denn sonst setzt es etwas. Amen.

    Bekenntnis

    Ich leide an Versagensangst,
    besonders, wenn ich dichte.
    Die Angst, die machte mir bereits
    manch schönen Reim zuschanden.

    --

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    #7315595  | PERMALINK

    coleporter

    Registriert seit: 23.02.2007

    Beiträge: 4,085

    Das ist, glaube ich, immer noch mein Lieblingsgedicht von Gernhardt:

    Materialien zu einer Kritik
    der bekanntesten Gedichtform
    italienischen Ursprungs

    Sonette find ich sowas von beschissen,
    so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
    es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
    daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

    hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;
    allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
    kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
    Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

    darüber, daß so’n abgefuckter Kacker
    mich mittels seiner Wichserein blockiert,
    schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

    Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
    Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
    Ich find Sonette unheimlich beschissen.

    Robert Gernhardt

    --

    Es ist viel leichter in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrthümer nachzuweisen, als von dem Werthe desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S.531)
    #7315597  | PERMALINK

    haiksen

    Registriert seit: 04.10.2009

    Beiträge: 50

    Ja, einfach genial und kackfrech!
    Und typisch wie er dabei die Alltagssprache in lyrische Formen packt.
    Meistens ist er dabei nicht so explizit, sondern überrascht erst gegen Ende mit umgangssprachlichen Phrasen. So wie bei diesem harmloseren Gedicht:

    Plädoyer

    Daß er die Kindlein zu sich rief,
    daß er auf Wassers Wellen lief,
    daß er den Teufel von sich stieß,
    daß er die Sünder zu sich ließ,
    daß er den Weg zum Heil beschrieb,
    daß er als Heiland menschlich blieb –
    ich heiße Hase, wenn das nicht
    doch sehr für den Herrn Jesus spricht.

    --

    #7315599  | PERMALINK

    grandandt

    Registriert seit: 10.10.2007

    Beiträge: 24,622

    Da bin ich gerne dabei:

    TÜBINGER FESTSTELLUNG

    Die Enten auf dem Neckar sind
    bemerkenswerte Tiere.
    Der Fluß zieht seinen Weg geschwind,
    sie bleiben auf der Stelle.

    Vom Ufer schau ich ihnen zu,
    wie sie die Stellung halten.
    Und eine Stimme sagt mir: Du,
    die Vögel machens richtig.

    Versuch auch du im Fluß der Zeit
    das Auf-der-Stelle-Treten.
    Zumindest weißt du dann Bescheid,
    wie lange so was gutgeht.

    Ein Bild, ein Wort. Ich greif zum Stift,
    um beides festzuhalten:
    „Was bleibet aber, ist die Schrift“,
    schreib ich und blicke flußwärts.

    Nanu:

    Die Enten auf dem Neckar hats
    vertrieben auf die Schnelle.
    Es ist auf dieser Welt kein Platz
    für eine feste Stelle.

    (2002)

    --

    Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.
    #7315601  | PERMALINK

    coleporter

    Registriert seit: 23.02.2007

    Beiträge: 4,085

    HaiksenJa, einfach genial und kackfrech!
    Und typisch wie er dabei die Alltagssprache in lyrische Formen packt.
    Meistens ist er dabei nicht so explizit, sondern überrascht erst gegen Ende mit umgangssprachlichen Phrasen.

    In diesem Fall liegt der Witz ja vor allem darin, dass die Hasstirade auf das italienische Sonett in Form eines italienischen Sonetts geschrieben ist… :lol:

    --

    Es ist viel leichter in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrthümer nachzuweisen, als von dem Werthe desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S.531)
    #7315603  | PERMALINK

    haiksen

    Registriert seit: 04.10.2009

    Beiträge: 50

    coleporterIn diesem Fall liegt der Witz ja vor allem darin, dass die Hasstirade auf das italienische Sonett in Form eines italienischen Sonetts geschrieben ist… :lol:

    … und zwar formvollendet.
    Geniale Abgrenzung zur „Hochkunst“ bei fundierter, aber sinnunterlaufender Verwendung derselben.

    --

    #7315605  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Haiksen
    Geniale Abgrenzung zur „Hochkunst“ bei fundierter, aber sinnunterlaufender Verwendung derselben.

    Sehe ich anders.
    Wie kann man welchen „Sinn“ welcher „Verwendung“ von welcher „Hochkunst“ unterlaufen?
    Ich fand obiges Sonett auch immer recht gut. Ich denke aber, dass RG nie etwas ferner stand, als Sprachkunst ins Lächerliche zu ziehen.

    --

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    #7315607  | PERMALINK

    foka

    Registriert seit: 17.10.2007

    Beiträge: 8,543

    otisIch denke aber, dass RG nie etwas ferner stand, als Sprachkunst ins Lächerliche zu ziehen.

    Was Haiksen ja auch nicht behauptet hat. Er sprach von „Abgrenzung zur Hochkunst“. Wie auch immer: Ein herrlicher Thread, bringt vieles in mir an die Oberfläche, was viel zu lange brach lag.

    --

    Is this my life? Or am I just breathing underwater?
    #7315609  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    Noch mal, was ist „Hochkunst“?
    Nicht irgendeine Kunst zu diffamieren war sein Ziel, davon bin ich überzeugt. Höchstens gilt seine so nette Tirade der Rezeption von Kunst. Und das ist was ganz anderes. Und selbst da ist Obiges recht zweideutig. Eben nicht nur gezielt auf die ZEIT-Leser, von denen sich damals einige furchtbar empörten, sondern auch gerichtet auf jene, denen klassische Formen ach so fern und verkalkt erscheinen.

    --

    FAVOURITES
    #7315611  | PERMALINK

    grandandt

    Registriert seit: 10.10.2007

    Beiträge: 24,622

    fokaEin herrlicher Thread, bringt vieles in mir an die Oberfläche, was viel zu lange brach lag.

    ICH WEISS…

    Ich weiß ein Blümlein rosenrot
    besetzt mit grünen Blättchen,
    ich roll es gern in eitel Samt
    und rauch’s als Zigarettchen –
    Das
    gibt mir derartig den Rest,
    daß es sich nicht beschreiben läßt.

    Unterm 2. Bild die Unterschrift: „Gott liest Nietzsche“
    (Schwer, die gesamte Serie im Internet zu finden)

    --

    Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.
    #7315613  | PERMALINK

    haiksen

    Registriert seit: 04.10.2009

    Beiträge: 50

    otisSehe ich anders.
    Wie kann man welchen „Sinn“ welcher „Verwendung“ von welcher „Hochkunst“ unterlaufen?
    Ich fand obiges Sonett auch immer recht gut. Ich denke aber, dass RG nie etwas ferner stand, als Sprachkunst ins Lächerliche zu ziehen.

    Danke für den diskussionsbelebenden Gegenwind!
    Wir sind uneingeschränkt einig, dass Gernhardt nicht Sprachkunst lächerlich machen wollte. Dafür ist er ein zu begnadeter Katalysator von Sprachtendenzen gewesen.
    Vielmehr war er m. E. gegen eine unreflektierte Übernahme von Formen, nur um der Form willen, weil es die „hoch“geschätzten Dichter es eben so tradiert haben. Der Begriff „Hochkunst“ ist aber in der Tat ungenau – darum auch die Strichchen. Er sollte das „Schöngeistige“ umschreiben, das mit Lyrik oft verbunden wird. Und genau hier konterkariert (oder unterläuft) RG gnadenlos. Er schreibt von Aggressionen über den „abgefuckten Kacker und seinen Wichsereien“, anstatt von Liebe, blauen Blümchen oder von mir aus auch einem gesellschaftlichen Problem.
    Welchen Sinn Gedichte letztlich haben mögen, liegt natürlich beim jeweiligen Autor. Aber ganz gewiß ist die Aussage „Sonette sind Scheiße“ in der Form eines Sonetts gepresst in satirischer Weise sinnuntergrabend.

    --

    #7315615  | PERMALINK

    coleporter

    Registriert seit: 23.02.2007

    Beiträge: 4,085

    otisIch denke aber, dass RG nie etwas ferner stand, als Sprachkunst ins Lächerliche zu ziehen.

    Ich glaube auch eher, dass er die Abscheu vor tradierten Formen um der Abscheu vor tradierten Formen Willen lächerlich machen wollte.

    --

    Es ist viel leichter in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrthümer nachzuweisen, als von dem Werthe desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S.531)
    #7315617  | PERMALINK

    reino

    Registriert seit: 20.06.2008

    Beiträge: 5,700

    Eigentlich sollte jedem, der sich mit Satire beschäftigt, die Stoßrichtung des Gernhardtschen Sonetts klar sein: nämlich nicht das Sonett, sondern die abgefuckte Sprache des Kritikers. Wenn es denn überhaupt eine Stoßrichtung gibt. In erster Linie geht es um den komischen Kontrast von Form und Sprachniveau. Wer sich allerdings in seiner Ablehnung der Sonettform bestätigt fühlt, hat echt irgendwas nicht gerafft.

    --

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    #7315619  | PERMALINK

    carrot-flower
    Moderator

    Registriert seit: 26.09.2007

    Beiträge: 3,122

    Der zentrale Begriff in Gernhardts Kunst ist ja „Fallhöhe“, und wie unterschiedlich man dieses Absägen von Erwartungshaltungen interpretieren kann, zeigt ja allein schon die Tatsache, dass Gernhardt mehr und mehr auch vom Kulturbetrieb als einer der Ihren gehätschelt wurde. Die traditionellen Kunstformen sind ja bei ihm eben nicht nur in Frage gestellt, sondern, ah, Frankfurter, auch aufgehoben und bewahrt. Da findet dann jeder das Seine. Was dem überaus eitlen Gernhardt nur recht sein konnte.

    Er war der letzte Prominente, bei dessen Tod ich ernsthaft verschnupft war, auch, wenn ich finde, dass einiges von der Art Humor, die er mitersonnen hat, heute durch jahrzehntelange Überstrapazierung nicht mehr allzu komisch ist (das Ottoeske, der Wortwitz). Dafür kann er natürlich nichts. Mich hat er, ob ich will oder nicht, tief geprägt, und ich kann heute noch zig seiner Gedichte auswendig, u.a. das:

    Deutung eines allegorischen Gemäldes

    Fünf Männer seh ich
    inhaltsschwer –
    wer sind die fünf?
    Wofür steht wer?

    Des ersten Wams strahlt
    blutigrot –
    das ist der Tod
    das ist der Tod

    Der zweite hält die
    Geißel fest –
    das ist die Pest
    das ist die Pest

    Der dritte sitzt in
    grauem Kleid –
    das ist das Leid
    das ist das Leid

    Des vierten Schild trieft
    giftignass –
    das ist der Hass
    das ist der Hass

    Der fünfte bringt stumm
    Wein herein –
    das wird der
    Weinreinbringer sein.

    Beliebt hier sind auch die „Bilden Se mal nen Satz mit …“-Gedichte („Allegorisch: Nichts wird sich ändern hier auf Erden / bevor nicht alle gorisch werden“)

    Sehr empfehlenswert ist übrigens seine Abhandlung über Humor, „Was gibt’s denn da zu lachen?“.

    --

    the pulse of the snow was the pulse of diamonds and you wear it in your hair like a constellation
    #7315621  | PERMALINK

    coleporter

    Registriert seit: 23.02.2007

    Beiträge: 4,085

    Gernhardt befasste sich ja schon immer gern in satirisch-flapsiger Weise mit Inhalten und Geisteshaltungen der „Hochkultur“:

    „Ich weiß nicht, was ich bin.
    Ich schreibe das gleich hin.
    Da hab’n wir den Salat:
    Ich bin ein Literat.“

    --

    Es ist viel leichter in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrthümer nachzuweisen, als von dem Werthe desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S.531)
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