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1875 – 1932Ein Thread für den, so hört man zumindest oft, größten Schmierfinken der britischen Literatur. Entgegen seinem eher miesen Ruf gibt es bei Wallace allerdings viel schönes zu entdecken:
Seinen lockeren Tonfall, das enorme Erzähltempo, viel Ironie (die seine Kritiker nie wohl nie erkannten), Andeutungsreichtum, Freude am Spiel mit Zitaten aus Pop- wie Hochkultur und, für mich am wichtigsten, ein Frauen- und Männerbild, das immer wieder ob seiner Modernität überrascht. Wallaces Frauen sind meist ebenso stark wie feminin – ungewöhnlich für eine Zeit, in der die Damen in britischen Detektivgeschichten nur allzu gerne entweder zu rettendes Heimchen waren oder das Verhalten der Männer strikt imitieren mussten um ernstgenommen zu werden; seine Männer haben nicht selten clowneske und unsichere Seiten an sich, glauben die weiblichen Figuren wie auch alle abenteurlichen Situationen fest im Griff zu haben und geben sich doch nur Illusionen hin.
Zu Lebzeiten wurde Wallace immerzu vorgeworfen, dass seine Romane keine sozial relevanten Botschaften hätten und lediglich stumpfen Eskapismus fernab damaliger gesellschaftlicher Entwicklungen bieten würden. Das er aber sehr wohl etwas dazu zu sagen hatte, habe ich mit dem Absatz über Geschlechterrollen bereits angedeutet, aber auch sonst ist sein Werk moderner, als es ihm häufig zugestanden wird. Sein angeblicher Snobismus entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Ergebnis oberflächlichen Lesens – Standes- und Berufsbeschreibungen sind oft mit einem großen Augenzwinkern geschrieben. Seine übertriebenen Situationen und manchmal recht zufälligen Handlungsfolgen überschreiten manchmal munter die Grenze zur Parodie. Generell haben zumindest die Crime-Romane schon sehr viel von die Regel des Genres reflektierenden Meta-Krimis – überraschend beim Wiederlesen: Wie genau Alfred Vohrer oder Jesús Franco später mit ihren Filmen diese spezielle Ausdrucksweise trafen.
Bei meiner letzten großen Wallace-Phase hatte ich für diese Feinheiten noch keinen guten Blick, umso überraschter war ich nun beim neuerlichen Lesen, von dem ich hier in einigermaßen regelmäßigen Abständen berichten will.P.S. Ein kurzer Satz noch zu seinen Afrikaromanen, die damals (warum auch immer) für wenigstens ein bißchen literarischen Ruhm sorgten:
Ich habe noch keine versteckte Metaebene gefunden, mit der ich mir den imperialistischen bis rassistischen Ton schönreden kann, dementsprechend werden sie hier keine große Rolle spielen.Edit! Übersicht der bisherigen Titel:
Einleitung u. 01. The Hand of Power (1927) / Im Banne des Unheimlichen (1931)
02. Barbara On Her Own (1926) / Verdammte Konkurrenz (1931)
03. The Lone House Mystery (1929)
04. Four-Square Jane (1929) / Die Abenteuerin (1933)
05. The Man Who Was Nobody (1927) / Der Mann, der seinen Namen änderte (1932)
06. The Green Archer (1923) / Der grüne Bogenschütze (1928)
07. Sanders of the River (1911) / Sanders vom Strom (1929), Afrika-Romane #1
08. The Four Just Men (1905) / Die vier Gerechten (1927), The Just Men #1
09. Blue Hand (1925) / Die blaue Hand (1928)
10. The Angel of Terror (1922) / Der Engel des Schreckens (1931)
11. 1925 – The Story of a Fatal Peace (1915)
12. The Black Abbot (1926) / Der schwarze Abt (1930)
13. The People of the River (1912) / Die Eingeborenen vom Strom (1929), Afrika-Romane #2
14. The Squeaker (1928) / Der Zinker (1928/29), Theaterfassung
Heute geht es los mit einer großen Neuentdeckung:
01. The Hand of Power (1927)
dt. Ausgabe „Im Banne des Unheimlichen“ erstmals 1931 bei Goldmann, LeipzigEin perfektes Beispiel für Wallaces Stil:
Ein düsterer Schatten aus der Vergangenheit liegt auf dem Leben unserer Heldin; Grausamkeiten und Unterdrückung durch den Gönner, der sie als junge Waisin aufnahm, in ihrer Andeutung schlimmer als alles, was der Roman dann wirklich ausformuliert. Im Grunde eine female empowerment-Geschichte, immer wieder lässt Vergangenes die ansonsten schlagfertige und mit einem ziemlichen Durchblick gesegnete Frau beim Versuch sich gegenüber den grausamen Psychospielen des Alten durchzusetzen scheitern, aber nie gibt sie auf, wächst umso mehr an ihren Herausforderungen. Interessant auch einige kleinere Reflektionen über gesellschaftliche Rollen: Die beiden großen Frauenfiguren verdingen sich beide als Schauspielerinnen, die eine, unsere Hauptfigur, versucht abseits des Theaters zu sich selbst zu finden, die andere sieht sich wegen ihrer Existenznöte auch im Zwischenmenschlichen in eine Rolle gepresst, die einer faux-französischen Diva. Der Held ist, wie so oft bei Wallace, ein junger Reporter, hier unsicher, erst etwas enervierend und stets von Eifersucht auf seinen vermögenden Konkurrenten um die Gunst der Heldin gepackt. Sie aber favorisiert mit ihm tatsächlich den vermeintlich „schwächeren“ Mann. Die Geschichte, durch die die beiden im Rekordtempo jagen, spielt da eine eher untergeordnete Rolle und variiert einige klassische Versatzstücke des Autors:
Der familiär verbandelte und schon von Beginn an nicht verhüllte Schurke, eine ungeahnte Erbschaft, ein (hier harmloser) Kult, umständliche Versuche sich verschiedene Vermögen anzueignen, ein Finale auf hoher See…
Alles flott, packend und mit ironischer Distanz erzählt. Wallaces Zitierfreude geht diesmal auch schon mal bis zu bedeutenden Philosophen zurück („[…]all things are for the best in the best of all possible ships[…]“) und kaum ein Element der Oberfläche ist so ernst wie es klingt – die Geschehnisse dahinter hingegen…
Alles in allem ein fantastischer Wiedereinstieg, der mich direkt zum nächsten Buch hat greifen lassen.Kleine Anmerkung: Mit Alfred Vohrers großem „Im Banne des Unheimlichen“ hat der Roman lediglich den deutschen Titel gemein.
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Werbung02. Barbara On Her Own (1926)
dt. Ausgabe „Verdammte Konkurrenz“ erstmals 1931 bei Goldmann, LeipzigDie Sekretärin eines großen Kaufhausmagnaten erhält durch einige Verwicklungen die Gelegenheit zur Firmenleitung und führt mit ihren unorthodoxen Methoden die Konkurrenz an der Nase herum.
Wohl einer der wenigen Romane aus dem Hause Wallace bei dem am Ende keine Hochzeit ins Haus steht, denn auf eine männliche Hauptfigur wird hier direkt ganz verzichtet; keiner der Kerle, die unsere Heldin umgeben, ist ihrer Hingabe und ihrem leicht spöttischen Ton gewachsen. Die Charakterisierung wird meist durch rasante Wortgefechte vorangetrieben, geben die Männer hinter dem Rücken der Frauen noch gerne überholte Geschlechterbilder zum Besten, versagt ihnen von Angesicht zu Angesicht schnell die Sprache.
Schön auch, wie die nur wenige Tage andauernde, skizzenhafte Handlung immer wieder in überraschende Richtungen gedreht wird, kurz bahnt sich gar doch noch ein klassischer Kriminalroman an, nur damit er dann sogleich gründlich dekonstruiert wird. Erstaunlich ernst hingegen: Ein Nebenstrang über einen schäbigen Erpresser, der seine in Liebe ergebene Frau benutzt um an Geld zu kommen – eigentlich passiert gar nicht viel, aber der herablassende Umgangston lässt schon in unangenehme Tiefen blicken.Als Komödie eher etwas untypisch für Wallace, aber bereits beim letzten Lesen ein Favorit in seinem Werk. Toll!
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We are all failures, at least the best of us are.03. The Lone House Mystery (1929)
keine dt. AusgabeEin harter Stilwechsel, Wallaces blumige Beschreibungen aus der Außenperspektive sind einer kurzangebundenen und, der erzählenden Figur angepasst, sprachlich deutlich schlichteren Ich-Perspektive gewichen, Superindendent Minter ist ein etwas grummeliger älterer Mann, der stolz auf seine unwissenschaftliche Arbeit ist und sich gerne mehr bewundert wüsste. Eine interessante Figur, die Wallace geschickt nutzt um beiläufig von der damaligen britischen Gesellschaft zu erzählen. Die Kurznovelle „The Lone House Mystery“, die den Kern dieser Anthologie bildet ist ein ganz klassischer Whodunit, inklusive einigermaßen konstruierter Auflösung; leider war ich diesen rein intellektuellen Ratespielchen schon immer abgetan – aber zum Glück gibt es auch für mich ein paar Dinge zum Entdecken. Das Verbrechen hat seine Ursache, wie so oft bei Wallace, in der Vergangenheit, genau genommen sowie eher ungewöhnlich: In der Zeit der britischen Kolonialherrschaft. Und da kommt dann so einiges auf den Tisch, ein Goldsucher, der einen Eingeborenenstamm abschlachten ließ, Zwangsheirat und anschließende Geringschätzung der schwarzen Braut sowie vor allem die kaum veränderten Attitüden in den ausgehenden 20ern. Als der Superintendant den schwarzen Sohn des weißen Mordopfers kennenlernt, teilt er mit uns, obwohl er zu seiner Verwunderung einem eloquenten jungen Mann gegenübersteht, nur unsensible bis schäbige Gedanken. Diese Einblicke bieten die drei beigefügten Kurzgeschichten eher nicht, dafür sind sie kurzweiliger und humorvoller. Nett.
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We are all failures, at least the best of us are.Für solche Threads bin ich am dankbarsten hier im Forum. Jemand nimmt sich etwas von mir als bisher völlig profan Angesehenem an und zeigt neue Blickwinkel so auf, dass die Materie plötzlich höchst interessant wird. Danke, Nick!
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Don't be fooled by the rocks that I got - I'm still, I'm still Jenny from the blockToller Thread, lese gerne mit!
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Arise now, ye Tarnished/Ye dead, who yet live/ The call of long-lost grace speaks to us all
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Ich liebe den Pulp von Wallace auch sehr. Toller Thread, bitte weitermachen.
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CleetusFür solche Threads bin ich am dankbarsten hier im Forum. Jemand nimmt sich etwas von mir als bisher völlig profan Angesehenem an und zeigt neue Blickwinkel so auf, dass die Materie plötzlich höchst interessant wird. Danke, Nick!
pinchIch liebe den Pulp von Wallace auch sehr. Toller Thread, bitte weitermachen.
Jan_JanToller Thread, lese gerne mit!
Ich schließe mich dem nur allzu gerne an. Unbedingt fortführen! Aktuell mithin der lesenswerteste Thread im Forum.
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Nick Longhetti
1875 – 1932[…]
P.S. Ein kurzer Satz noch zu seinen Afrikaromanen, die damals (warum auch immer) für wenigstens ein bißchen literarischen Ruhm sorgten:
Ich habe noch keine versteckte Metaebene gefunden, mit der ich mir den imperialistischen bis rassistischen Ton schönreden kann, dementsprechend werden sie hier keine große Rolle spielen.
[…]Wirst du wohl nicht hinbekommen, der Mann ist ’32 gestorben, da wurde noch nicht größer am Empire und seiner Berechtigung gerüttelt.
Toller Thread, Nick, bitte weitermachen! Ich habe als Kind einige der Taschenbücher aus dem Bücherschrank meines Großvaters geklaut und gelesen, leider sind sie nicht mehr vorhanden und richtig erinnern kann ich mich auch nicht mehr.
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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.Yep, toller Thread, Nick. Lese hier auch mit. Ich habe als Kind viele seiner Krimis verschlungen.
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AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
same here. Im Keller bei meinen Eltern sollten noch über 20 Exemplare aus der „30 Jahre Rote Krimi“ Serie rumstehen, lang ists her…
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Elmo Zillersame here. Im Keller bei meinen Eltern sollten noch über 20 Exemplare aus der „30 Jahre Rote Krimi“ Serie rumstehen, lang ists her…
Wir hatten damals alle 78 Taschenbücher gekauft, als die Lizenz für Goldmann auslief. Da wurden die für 1,95 DM pro Buch verkauft. Ich hatte auch noch einige mit diesen gemalten Cover aus den 50er und 60er Jahren.
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Ja, toller Thread! Sehe ich erst eben. Ich werde mich wohl auch mal den Büchern widmen müssen. Kannte bisher nur die deutschen Filme aus den Sechzigern.
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Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!Vielen Dank für euren Zuspruch – jetzt werde ich erst recht weitermachen! Anfangs hatte ich so meine Zweifel, ob ich überhaupt einigermaßen koheränt über Bücher schreiben kann. Meine Texte mit ihrem Fokus auf, zumindest für mich die Welt bedeutende, Nebensächlichkeiten statt der eigentlichen Handlung riefen schon zu meiner Schulzeit immer Entsetzen bei meinen Lehrern hervor…
Wer wieder auf den Geschmack gekommen ist und auch darüber schreiben will, der ist in diesem Thread natürlich auch herzlich dazu eingeladen!lathoWirst du wohl nicht hinbekommen, der Mann ist ’32 gestorben, da wurde noch nicht größer am Empire und seiner Berechtigung gerüttelt.
Ja, wahrscheinlich werde ich hier an meine Grenzen stoßen, immerhin erlebt man aber auch schon mal kleinere Überraschungen – so wie eben beim „Lone House Mystery“.
lathoIch habe als Kind einige der Taschenbücher aus dem Bücherschrank meines Großvaters geklaut und gelesen, […]
Elmo ZillerIm Keller bei meinen Eltern sollten noch über 20 Exemplare aus der „30 Jahre Rote Krimi“ Serie rumstehen, lang ists her…
Mick67Ich hatte auch noch einige mit diesen gemalten Cover aus den 50er und 60er Jahren.
Achja, die guten alten Goldmann-Taschenbücher mit ihren schönen Covern und den etwas steifen Übersetzungen (manchmal aber auch mit recht umfangreichen Kürzungen!) – genauso hat es bei mir auch angefangen. In meiner Kindheit konnte ich auf keinem Flohmarkt an ihnen vorbeigehen, mir hatten es besonders die Ausgaben der späten 60er mit ihren geheimnisvollen Bildern aus den Filmen angetan – die durfte ich da nämlich noch nicht sehen…
http://gutenberg.net.au/ebooks13/1305121h-images/FourSquareJane-01.jpg%5B/img%5D
04. Four-Square Jane (1929)
dt. Ausgabe „Die Abenteuerin“ erstmals 1933 bei Goldmann, LeipzigFour-Square Jane ist eine Diebin, die skrupellose Geschäftemacher um Geld wie Besitz erleichtert und die Beute danach auch gerne mal mit Bedürftigen teilt. Hier geht es aber um noch mehr als einen Robin Hood in Frauenkleidern. Die Lebenssituation einer Frau in den 20er Jahren steht hier unübersehbar im Fokus, stets sind die Verbrechen unserer Anti-Heldin auch Rebellion gegen die strikten Rollenbilder der Zeit und vor allem gegen ihre von Mutter sowie Vormund – dessen düstere Machenschaften sie mit ihren Raubzügen aufdecken will – organisierte Vermählung mit einem selbstgefälligen Schwadlappen, der natürlich der Sohn des Schurken ist. (Wer jetzt eine große, bisher unbekannte Erbschaft wittert, die man ihr so abzuluchsen versucht, der kennt Wallace schon gut!)
Bei ihren Beutezügen macht sie sich die Vorstellungen der Männer zu Nutze, tarnt sich als schwächelnde Detektivin, sofort überführte Verbrecherin und, in einer besonders skurillen Episode, sogar als junges, unschuldiges Mädchen – mit Erfolg, jedes Mal wird sie unterschätzt, nur um stets siegreich zu entkommen. Jane ist aber nicht die einzige Person, die für die ihr zugedachte Rolle kein Interesse aufbringt, beschäftigt Scotland Yard hier doch tatsächlich einen ausgewiesenen Experten für Klatsch und die düsteren Geheimnisse der Royals. Selbst für einen so kurzen Roman wie diesen ist das Erzähltempo immer noch enorm und jedes Kapitel lässt Wallace geschickt mit einem kleinen Cliffhanger enden. Super!--
We are all failures, at least the best of us are.
05. The Man Who Was Nobody (1927)
dt. Ausgabe „Der Mann, der seinen Namen änderte“ erstmals 1932 bei Goldmann, LeipzigWallace auf dem Zenit seiner Warmherzigkeit, vollkommen fokussiert auf das, das wirklich zählt:
Die Auflösung des Kriminalfalls ist vollkommen unwichtig, wird sie doch im Grunde nie wirklich geheimgehalten und immer wieder mal mehr mal weniger subtil vorweggenommen – am deutlichsten durch die verräterische Kapitelliste zu Beginn des Buches. Und nicht nur die Kapitalliste wird zur Manipulation des Lesers eingesetzt, sondern auch der Titel, wer eine männliche Hauptfigur erwartet, der erlebt eine Überraschung. Wert wird hier zuvorderst auf die Gefühlswelten der Protagonisten gelegt. Unsere Heldin ist vollkommen ab von allem, das ich je in vergleichbaren Roman gesehen habe – unbeholfen im sozialen Umgang und dennoch meinungsstark, jungfräulich und doch mit eindeutigen Fantasien beschäftigt (wie man es sonst eher von zahllosen jungen Kerlen aus aktuellen wie älteren Comedy-Formaten kennt) sowie ungewöhnlich gedankenversunken – quasi ein weiblicher Nerd anno 1927. Auch ihr droht wieder eine arrangierte Hochzeit, diesmal wird sie sogar durchgezogen, angeleiert von der undankbaren Mutter und einem exzentrischen (aber prinzipiell wohlmeinenden) Onkel. Generell die anderen Menschen, immerzu um sich um ihren sozialel Aufstieg kreisend, voll mit Niedertracht („She’s a bit narrow in vision…“ – How wrong you can be!) gegen die unwillig Verheiratete und doch immer nur sich selbst treffend. Schöner wie hier hat Wallace die Zwänge der damaligen Rollenmuster selten beschrieben:
Erst fühlt sich unsere Heldin durch versprochene monetäre Aufwendungen für ihre spielsüchtige Mutter zur Hochzeit genötigt, wohlwissend, dass dies für sie tiefstes Unglück bedeutet, ganz zu schweigen von dem Gefühl lediglich eine Ware zu sein, dann leidet sie unter den düsteren Geheimnissen und dem erratischen Verhalten ihres Gatten – für die Anderen erträgt sie es aber. Dass der Gemahl sich als humorvoll und freundlich wie als heimlicher Feminist entpuppt, der die arrangierte Vermählung ebenfalls kritisch sieht, aber genauso durch gesellschaftliche Zwänge gebunden ist, das wirkt hier nicht wie ein aufgezwungenes Happy End oder gar wie eine Rechtfertigung des Zwanges, sondern das nimmt hier eine geradezu magische Qualität an. Je mehr sich die beiden anfreunden (und sich später dann tatsächlich inneinander verlieben), desto mehr bringt die neugewonnene Einheit diejenigen, die all dies ursprünglich in dubiosen Absichten planten, an den Rand des Scheiterns. Eine Einheit und echte Fürsorge füreinander, die ansonsten sehr wenige in dieser Geschichte kennen, deren Mangel auf Seiten beider Helden die Geschichte überhaupt erst angestoßen hat – schwer zu glauben, welche tragische Dimension hinter dem eher komödiantischen Ton immer wieder aufblitzt.
Mein fünfter Eintrag in diesem Thread – ein winziges Jubiläum – und ein absolutes Highlight, das ich kaum genug loben kann. Meisterwerk!--
We are all failures, at least the best of us are.Kaum Zeit zum Lesen gehabt und doch zum längsten Schinken in Wallaces Werk gegriffen – aber jetzt geht es weiter:
06. The Green Archer (1923)
dt. Ausgabe „Der grüne Bogenschütze“ erstmals 1928 bei Goldmann, LeipzigNicht nur die Länge überrascht seinem möglicherweise bekanntestem Roman, sondern auch der ungewohnte Ernst, die Brutalität und die diesmal augenscheinliche Komplexität, hinter der clevere Meta-Ebenen etwas zurückbleiben. Bei den hier bislang besprochenen Büchern blieben die ensteren Implikationen stets für aufmerksamere Leser reserviert, hier ist nun die Handlung an sich schon nicht so locker wie gewohnt gehalten – wenig verwunderlich bei den verhandelten Themen. Eine junge Frau sucht ihre Mutter und findet sie eingesperrt im Kerker des Mannes, den sie einst verschmähte – männliche Besitzansprüche an Frauen, hier ein sehr wichtiger Aspekt. Abel Bellamy ist wohl eine der eindrucksvollsten Schurkenfiguren in Wallaces Repertoire er ist roh, grausam, kalkulierend und hängt in seinem zur Festung umfunktionierten Schloss Fantasien über das „gerechtere“ Justizsystem des Mittelalters sowie unverhohlen sozialdarwinistischen Theorien nach, dennoch wirkt er, sofern er etwas von anderen möchte, hin und wieder geradezu charmant, humorvoll und als er seine Feinde gefangen hat, da stimmt er doch glatt vor Freude ein kleines Liedchen an. So sehr seine archaische Maskulininät im krassen Gegensatz zu den modernen Helden des Romans steht, so sehr ähneln sie sich doch in manchen Punkten. Um sich seinem Ziel, ebenfalls die geliebte Frau, zu nähern, setzt auch der Polizeibeamte Featherstone auf die Wirkung der Gewalt – als Valerie Howett auf der Suche nach ihrer Mutter in die Krallen vom Bellamys Handlagern fällt, foltert er schlicht einen von ihnen um sie wiederzubekommen. Seine Eifersucht macht es nicht besser und am Ende handelt er die obligatorische Hochzeit mit ihrem Vater aus. Auch der Reporter Spike Holland scheint mehr an einer guten Story interessiert als am Wohlergehen seiner Freunde, eine Abrechnung des ehemaligen Reporters Wallace mit den Erfordernissen großer Auflagen?
Der Dritte im Bunde nimmt sich da ganz anders aus und dass Wallace den von allen als schwächlicher Eurasier oder direkt als „crawling nigger“ bezeichneten Julius Savini – Sekretär Bellamys und gerissener Kleinkrimineller – graduell und erst klammheimlich zum eigentlichen Helden – Featherstone ermittelt ab der Hälfte im Grunde genommen nur noch etwas vor sich hin – werden lässt, das ist schon ein starkes Stück. Dennoch redet man auch nach einigen waghalsigen Heldentaten lieber über ihn als mit ihm. Nur seine Frau, die sich wie er mit kleinen Diebereien über Wasser halten muss und die mit Abstand liebenswerteste Figur des Romanes ist – ihre Konsequenz und Souveränität beeindrucken immer wieder- ist da anders. Und sie ist es auch die das zweite große Thema des Romanes mitantreibt: Freiheitsentzug.
Ihre Schilderungen von Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen werden nie wirklich konkret, aber das müssen sie auch gar nicht. Sie, wie alle anderen ehemaligen Gefängnisinsassen der Geschichte, möchte nie wieder eines von innen sehen, einer von Bellamys Handlangern würde gar den Tod vorziehen. Und auch der Ursprung der Ereignisse liegt in Grausamkeiten, die ein, auf Geheiß Bellamys, unschuldig Verurteilter in einem berüchtigten Gefängnis erdulden musste. Der Unterschied zwischen diesen abgesegneten Bestrafungen und der Vorliebe des alten Schurken für Kerkerhaft und grausame Bestrafungen droht zu verschwimmen – die Polizisten des Romans verteidigen das eine ebenso sehr, wie sie das andere verabscheuen. Diese Ambivalenzen und Grauzonen sind der Treibstoff der Erzählung. Hervorragend.--
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