Re: Edgar Wallace

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nick-longhetti

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05. The Man Who Was Nobody (1927)
dt. Ausgabe „Der Mann, der seinen Namen änderte“ erstmals 1932 bei Goldmann, Leipzig

Wallace auf dem Zenit seiner Warmherzigkeit, vollkommen fokussiert auf das, das wirklich zählt:
Die Auflösung des Kriminalfalls ist vollkommen unwichtig, wird sie doch im Grunde nie wirklich geheimgehalten und immer wieder mal mehr mal weniger subtil vorweggenommen – am deutlichsten durch die verräterische Kapitelliste zu Beginn des Buches. Und nicht nur die Kapitalliste wird zur Manipulation des Lesers eingesetzt, sondern auch der Titel, wer eine männliche Hauptfigur erwartet, der erlebt eine Überraschung. Wert wird hier zuvorderst auf die Gefühlswelten der Protagonisten gelegt. Unsere Heldin ist vollkommen ab von allem, das ich je in vergleichbaren Roman gesehen habe – unbeholfen im sozialen Umgang und dennoch meinungsstark, jungfräulich und doch mit eindeutigen Fantasien beschäftigt (wie man es sonst eher von zahllosen jungen Kerlen aus aktuellen wie älteren Comedy-Formaten kennt) sowie ungewöhnlich gedankenversunken – quasi ein weiblicher Nerd anno 1927. Auch ihr droht wieder eine arrangierte Hochzeit, diesmal wird sie sogar durchgezogen, angeleiert von der undankbaren Mutter und einem exzentrischen (aber prinzipiell wohlmeinenden) Onkel. Generell die anderen Menschen, immerzu um sich um ihren sozialel Aufstieg kreisend, voll mit Niedertracht („She’s a bit narrow in vision…“ – How wrong you can be!) gegen die unwillig Verheiratete und doch immer nur sich selbst treffend. Schöner wie hier hat Wallace die Zwänge der damaligen Rollenmuster selten beschrieben:
Erst fühlt sich unsere Heldin durch versprochene monetäre Aufwendungen für ihre spielsüchtige Mutter zur Hochzeit genötigt, wohlwissend, dass dies für sie tiefstes Unglück bedeutet, ganz zu schweigen von dem Gefühl lediglich eine Ware zu sein, dann leidet sie unter den düsteren Geheimnissen und dem erratischen Verhalten ihres Gatten – für die Anderen erträgt sie es aber. Dass der Gemahl sich als humorvoll und freundlich wie als heimlicher Feminist entpuppt, der die arrangierte Vermählung ebenfalls kritisch sieht, aber genauso durch gesellschaftliche Zwänge gebunden ist, das wirkt hier nicht wie ein aufgezwungenes Happy End oder gar wie eine Rechtfertigung des Zwanges, sondern das nimmt hier eine geradezu magische Qualität an. Je mehr sich die beiden anfreunden (und sich später dann tatsächlich inneinander verlieben), desto mehr bringt die neugewonnene Einheit diejenigen, die all dies ursprünglich in dubiosen Absichten planten, an den Rand des Scheiterns. Eine Einheit und echte Fürsorge füreinander, die ansonsten sehr wenige in dieser Geschichte kennen, deren Mangel auf Seiten beider Helden die Geschichte überhaupt erst angestoßen hat – schwer zu glauben, welche tragische Dimension hinter dem eher komödiantischen Ton immer wieder aufblitzt.
Mein fünfter Eintrag in diesem Thread – ein winziges Jubiläum – und ein absolutes Highlight, das ich kaum genug loben kann. Meisterwerk!

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We are all failures, at least the best of us are.