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Ich hole das hier mal aus dem Südafrika-Faden in einen eigenen rüber, weil ich gerade Lust habe, den Rest von Mike Osbornes Musik als Leader zu hören … und Südafrikaner sind zwar oft, aber längst nicht immer dabei. Ich vermute allerdings, dass kaum einer der Engländer es so sehr verdiente wie Mike Osborne, zum Ehren-Südafrikaner ernannt zu werden – aber so genau weiss ich das natürlich nicht (also: wie hätte Osborne sich entwickelt, wenn er nie Chris McGregor, Harry Miller und den Blue Notes begegnet wäre? am Ende auch eine müssige Frage).
gypsy-tail-wind
Louis Moholo war von den Blue Notes wohl schon früh derjenige, der am aktivsten mit anderen Musikern zusammenarbeitete. Ab den späten Sechzigern kann man das auch auf immer mehr Aufnahmen nachvollziehen. Mike Osborne, der 1941 geborene Saxophonist (er zog sich aus gesundheitlichen Gründen – „mental illness“, „drug-induced schizophrenia“ – bereits zu Beginn der Achtzigerjahre zurück und starb schon 2007) gehörte zu den jungen Engländern, die ganz genau hinhörten, als die Südafrikanischen Musiker in London auftauchten. Er hatte seit 1963 allmählich mit der Mike Westbrook für Aufsehen gesorgt (am besten kann man das vielleicht auf dem fabelhaften Live-Mitschnitt von 1968 nachvollziehen, der vor ein paar Jahren bei Cadillac erschienen ist, „The Last Night at the Old Place“). Jackie McLean war sein grosses Vorbild, er pflegt einen ähnlich schweren Ton – doch unter dem Einfluss der Blue Notes, die eben keine Verfechter der britischen Höflichkeit waren, öffnete sich sein Spiel und er fand zu einer emotionalen Wucht, die mich in den besten Momenten tatsächlich ähnlich stark berührt, wie die Musik von Pukwana, McGregor, Feza usw. (ähnlich geht es mir übrigens mit dem Dänen Anders Gahnold, der in den frühen Achtzigern Johnny Dyani und Gilbert Matthews anquatschte und mit ihnen im Trio spielte – dokumentiert auf „Flowers for Johnny“ auf Ayler Records).
„I think Chris and Louis have brought out of myself since I’ve been playing with them,“ Mike said. „Chris is a fantastic teacher, and somehow he taught me to project better. I learned a lot from Mike [Westbrook] and John [Surman] too, John especially. He and I used to think along the same lines, but he was always ahead!“ (aus den Liner Notes zum 3-CD-Set „Turtle Records – Pioneering British Jazz 1970 – 1971“, in dem Osbornes oben zu sehendes Debutalbum „Outback“ neu aufgelegt wurde). Mit Harry Miller (der auch zur Westbrook-Band gehörte) und Moholo gründete Osborne 1969 ein eigenes Trio, seine ersten Aufnahmen hatte er schon 1966 gemacht (Tonmeister war Eddie Kramer, die vier Stücke sind 2015 bei Cuneiform auf der CD „Dawn“ mit zwei 1970er-Sessions des Trios veröffentlicht worden). Peter Eden, der Produzent von Turtle Records, gab ihm 1970 die Chance, ein Album einzuspielen, und zum Trio holte er sich noch Chris McGregor und Harry Beckett. Das ergibt einen sehr guten Mix: eine lyrisch singende Trompete, ein druckvoll überbordendes, McGregors tanzendes und sich überschlagendes Klavier, der blitzschnell auf alles reagierende Bass von Miller und die unberechenbaren, aber ebenfalls stets tanzenden Drums von Moholo. Das Album besteht aus zwei geht mit „So It Is“ recht ruhig los, im zweiten, dem Titelstück, drehen die fünf dann mächtig auf, aber lassen auch hier Raum für Kontemplation. Das ist kein draufgängerischer Free Jazz – wenn etwa nach dem an Cecil Taylor erinnernden Klaviersolo in „Outback“ ein Moment der Ruhe mit Arco-Bass einkehrt und die Bläser gemeinsam einsteigen, darf man vielleicht auch an die Band von McLean mit Grachan Moncur als Vorbild denken – und wenn ich Moholo die Tage wieder intensiv höre, kann ich mir auch gut vorstellen, dass er Roy Haynes‘ Spiel gehört hat.
Die CD „Dawn“ enthält wie gesagt die vier frühen Stücke von Osbornes erster Session (und John Surmans zweiter, einen Monat nach „Local Colour“, dem ESP-Disk‘-Album von Peter Lemer). Mit Harry Miller und Alan Jackson spielen sie ein drei interessante Cover und ein Original: „Seven by Seven“ von Pharoah Sanders, „And Now the Queen“ von Carla Bley, Osbornes „An Idea“ sowie „Aggression“ von Booker Little. Die Musik ist noch nicht so frei wie später üblich, gerade im Sanders-Stück (mit Surman am Sopran) ist die vergleichsweise Steifheit etwas irritierend – aber es ist auch reizvoll, von so einem Stück die Version, die Anzug trägt, zu hören. Bei Bley – Surman ab hier am Barisax – geht dann alles auf, die vier agieren sehr viel freier und das zieht sich im Original weiter, das tatsächlich von einem McLean-Album aus den frühen Sechzigern stammen könnte (diese Stück war 2012 schon auf der Compilation „Trad Dads, Dirty Boppers and Free Fusioneers: British Jazz 1960-1975“ bei Reel Recordings erschienen). Im letzten Stück, das von den Five Spot-Aufnahmen von Eric Dolphy mit Booker Little bekannt ist, klingt Osborne tatsächlich plötzlich etwas schlanker und beweglicher in seinen Linien – als hätte er den Regler fürs Bird-Channeling hier hochgeschraubt. Miller/Jackson stottern gegen den Flow, Surman übernimmt dann das disruptive Element, channelt vielleicht eher die Bassklarinetten-Seite von Dolphy, aber findet schnell zu sich. Er war zwar drei Jahre jünger als Osborne (gerade 21 hier), aber wie der sagte immer schon ein paar Schritte weiter.
Neben den 20 Minuten von 1966 enthält die CD ca. 50 im Trio mit Miller/Moholo, je drei Stücke vom August und Dezember 1970 (alle drei Sessions sind hier übrigens komplett enthalten). Das Material ist mit einer Ausnahme alles von Osborne selbst. Die Ausnahme ist Herbie Hancocks „Jack Rabbit“. Andrey Henkin ordnet das Trio unter die „extended traditionalists“ ein, und das leuchtet mir ein. Auch wenn sie mit Free Jazzern gespielt haben, bewegen sie sich zwischen den Welten von Tubby Hayes und Evan Parker, von Phil Seamen und Tonx Oxley, stellen eine Art Bindeglied dar. Henkin hat auch eine sehr passende Beschreibung für Moholos Spiel parat, wenn er von dessen „loose, almost skeletal swing and accents“ spricht: „skeletal“ – das finde ich wirklich perfekt. Im Titelstück gibt es nach dem Thema mit Arco-Bass und Becken-Gewische eine Kostprobe von Miller/Moholo. Osborne setzt aus, Miller wiederholt nochmal die klagende Linie des Themas, Moholo geht zu einzelnen Schlägen über, pausiert dann. Miller legt den Bogen weg und steigt mit Rubato-Linien in schnellerem Tempo ein, Moholo zunächst wieder mit einzelnen Beckenschlägen … und dann fällt er in einen seiner zickigen schnellen Beats, während Miller zu walken beginnt. Applaus, als Osborne dazu wieder einsteigt. Es ist diese Art von Zusammenspiel zwischen Meditation und Tanz, zwischen freien Exkursionen und funky Grooves, die Miller/Moholo für meine Ohren so phantastisch machen (noch mehr, ich geb’s zu, als Dyani/Moholo – Dyani hat einen anderen „thump“ und eine immense Wärme, er ist ein Mensch, kein Bass-Spieler … Miller aber ist für mich sowas wie der südafrikanische Cousin von Charles Mingus, der komplette Bassist). Das folgende Hancock-Cover ist nach der Little/Dolphy-Adaption von 1966 eine weitere tolle Demonstration, wie Osborne sich Material aneingnet und zu etwas völlig eigenem verarbeit. Die Eleganz und Leichtigkeit von Hancocks Tastenspiel wird hier zu einer erdenschweren aber dennoch tänzelnden Saxophonlinie – bei vergleichbarem Flow. Und erinnert Moholo hier ein wenig Tony Williams? Mehr Leichtigkeit in den Becken, eher ein Klöppeln als ein Schlagen. Miller deckt derweil alles ab, steuert im Alleingang den Flow von Paul Chambers auf „Inventions and Dimensions“ und andeutungsweise das harmonische Gerüst bei, zweigt immer wieder in die Hohe Lage ab, ohne den Boden zu verlassen, lässt den Bass auch mal kurz schnarren, eine Saite aufs Griffbrett schnellen, wie Osborne sich in ein Riff verbeisst, streut Miller Akkorde bei, die ein wenig an Jimmy Garrisons Flamenco-Spiel bei Coltrane erinnern. Alles da, alles völlig unforciert und natürlich aus dem Flow entstehend – grosse Meisterschaft von allen dreien. Sehr schade, dass Mike Osborne derart vergessen gegangen ist. Neben Joe Harriott für meine Ohren mit Abstand der beste Altsaxophonist der britischen Szene (bei allem Respekt vor Elton Dean – es gibt aber auch echt nicht viele im Jazz der Sechziger, die Tenorsaxer waren deutlich stärker vertreten … Trevor Watts und Ray Warleigh fallen mir noch ein).
Die zweite Trio-Session vom Dezember 1970 findet die drei von Beginn in der Zone. Schlafwandlerisch gehen sie imm elfminütigen Opener „TBC“ durch die irrsten Moves und mitreissende freie Grooves wechseln sich ab mit eng verzahnten, durchstrukturierten Ensemble-Passagen in rasantem Tempo, voller Richtungswechsel und Wendungen. Die Session geht mit „1st“ weiter, das später auf dem SOS-Album zu hören war. Es beginnt mit einem Rubato-Duett, in dem Millers solierender (pizzicato) Bass mit einer Art Puls aus Glöcklein grundiert von nachhallenden Becken eingerahmt wird, nach knapp zwei Minuten Wechsel zum Bogen und fort mit den Glöcklein für den Einstieg von Osbornes klagend singendem Altsaxophon, so schwer als trage es die ganze Welt auf den Schultern – jede Phrase setzt neu an, jede strebt etwas weiter, etwas höher, während Moholo die Trommeln, die Snare, die Bass-Drum einzusetzen beginnt. Vielleicht st das eine Art Aneingnung der Coltrane’schen Hymnik, doch gerade wo ich das denke, fällt Osborne über der getragen bleibenden Begleitung in ein doppelt so schnelles Riff und durchbricht die Stimmung – oder auch nicht. Wie er in der hohen Lage lange Töne bläst, übernimmt der Arco-Bass das schnelle Riff und so geht es rein und raus, zusammen und auseinander, alles unglaublich dicht und perfekt austariert, aber dennoch sehr spontan. Als Closer gibt es dann mit „TBD“ das Stück, das am Südafrikanischsten klingt. Miller/Moholo setzen den Groove und Osborne reitet ihn mit jubilierneden Linien, mit singendem Ton, aber auch mit einer inhärenten Traurigkeit, einer leisen Melancholie vielleicht? Der Beat wird darunter immer lebendiger, bis Moholo schliesslich ein kurzes Solo trommmelt, aus dem das Trio dann über eine endlose Kippfigur von Miller wieder zusammenfindet – unglaublich toll, das alles. Das war wirklich eine Band, die über die Jahre unglaublich eng zusammengewachsen ist – und die zum Glück Mitte der Siebziger nochmal dokumentiert wurde, doch das dann in einem weiteren Post.
Peter Eden, der schon hinter dem ersten Album von Osborne stand, produzierte zwischen 1968 und 1972 20 Alben „across the broad church of progressive British jazz“ (so der Promo-Blurb auf der Turtle 3-CD-Box) – nur drei davon auf seinem kurzlebigen eigenen Label Turtle Records: nach „Outback“ folgten noch „Flight“ von Howard Riley und „Pause, and Think Again“ von John Taylor. Als viertes war ein weiteres Album mit Osborne geplant, „Shapes“. Doch in der Zwischenzeit hatte Hazel Miller, die Frau von Harry, mit Ogun ihr eigenes Label gegründet und überzeugte Osborne davon, das Album doch dort herauszubringen. Eden war enttäuscht, erklärte sich aber bereit dazu, wenn ihm die Kosten für die Aufnahme erstattet würden. Das passierte nie, das Album blieb unveröffentlicht. Bis 1994 ein Freund um die Aufnahmen bat, um sich private Kopien anzufertigen. Wenig später landete „Shapes“ (und auch „Outback“) im Katalog von FMR Records. Eden heuerte einen Anwalt an und stoppte den Verkauf. Leider gibt es bis heute keinen anderen Weg, an die Aufnahme zu gelangen … schade, hat Hazel Miller sich nicht irgendwann, als gerade genügend Geld da gewesen wäre, doch noch darum bemüht (vielleicht ja wegen der vermutlich berechtigten Befürchtung, dass die Leute mit Interesse eh schon die FMR-CD haben). Sehr dumm gelaufen. Und ja, ich hab meine CD-R von dem Album irgendwann durch ein Mängel-Exemplar (CD mit Booklet aber ohne Traycard) ersetzt … Osborne muss bei mir halt sein, auch mit etwas getrübtem Gewissen. Für ihn ändert sich dabei leider ja schon lange nichts mehr (aber 1995, als die CD erschienen ist, war er noch da … lebte vermutlich in irgendeiner Einrichtung, ich lese bisher nirgendwo etwas darüber, ob er nach 1982 nochmal mit jemanden über seine Musik gesprochen hat oder überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre – alles sehr traurig).
Auf „Shapes“ sind neben Osborne, Miller und Moholo auch Alan Skidmore (ts), John Surman (bari/ss) und Earl Freeman am zweiten Kontrabass dabei. Teil eins (die geplante A-Seite wohl) bringt das Titelstück in zwei Teilen, die zweite Hälfte besteht aus dem kürzeren „Straight Jack“ (auf der CD-Hülle „Staight Jack“, für die Papphüllen-Ausgabe wurde das korrigiert, auf der CD wiederum steht „Straight Jacket“) und „Double It“. 40 Minuten Musik mit etwas schwer zu verdauenden Liner Notes, wenn man um die Geschichte des Albums weiss: Lorbeeren für Hazel Miller von Ogun und John Jack von Cadillac, kein Wort zu Peter Eden natürlich, aber bei den Credits steht dann „Produced for FMR by Peter Eden & Trevor Taylor“. Am Schluss des kurzen Texts (von einem Trevor Manwaring) steht auch noch, die „personal demons“ hätten Mike Osborne lange von der Szene ferngehalten, „but from what I hear there is some light at the end of the the tunnel, either way, this music is a long startling reminder of the voice we’ve missed for so long.“ Das mag alles aufrichtig gemeint sein, aber klingt im Kontext schon etwas seltsam. „Shapes“ beginn mit über fünf Minuten kollektivem Saxophon-Geschrei, bevor die beiden Bässe in ein Riff fallen und die Saxophone gemeinsam ein einfaches Thema vorstellen, das aus zwei Tönen besteht, die ein wenig herumgeschoben werden – was die Bässe gleich wieder befreit, sie walken um die Wette, während Moholo ebenso sehr soliert wie begleitet, während die Saxophone die zwei Töne wiederholen, irgendwann noch einen dritten dazunehmen, bis sie sich daraus lösen und sich wieder eine freie Passage ankündet. Ein weiteres Bass-Duett, dieses Mal unbegleitet, folgt, bis Moholo wieder einsteigt und die Bläser aus dem Nichts auftauchen, wieder mit einem herumgeschobenen Zwei-Ton-Motiv, das sich aber in einer sehr getragenen Grundstimmung schneller weiterentwickelt, bis Surman am Soprano über die beiden Bässe und das Schlagzeug spielt, aber gleich wieder aufhört – es gibt hier keine Soli, nur da und dort herausstechende Phrasen, alles entsteht gemeinsam. Surman wechselt dann ans Barisax, während Osborne fast ein Solo bläst, aber auch das wird schnell eingeholt – von den Bässen, von Moholo, vom Barisax und dann von Skidmores kreischend überblasenem Tenorsaxophon. Nach der letzten Kollektivpassage gehört den Bässen das letzte Wort. Inwiefern hier zwei Teile wie auf der CD ohne Zeitangaben gelistet zu erkennen sind, bleibt dahingestellt.
„St[r]aight Jack[et]“ ist dann eine kompakte schnelle Nummer. Bässe und Drums setzen einen swingenden Groove, die Saxophone präsentieren ein einfaches Thema, aus dem heraus sich Soli ergeben, die von den anderen eingeholt und eingerahmt werden: Skidmore, Osborne, Surman (Sopran) – darunter rasen die Bässe abwechslungsweise und Moholo bricht die Begleitung in Einzelteile auf, um wieder zu verdichten – das skelettale Spiel halt, das zunächst natürlich sezieren muss … es ist ja viel Arbeit, bis zum Skelett vorzudringen. Und dann hat dieses so viele Verästelungen und Überraschungen bereit, wie die Oberfläche sie kaum erahnen liesse, auch wenn manches – Schädel, Becken, Rückgrat – unverrückbar gesetzt bleibt. „Double It“ ist wieder freier, energiegeladener – aber auch hier gibt es diese zugleich dichten und zugleich ausgespart wirkenden Beats. Das Zusammenfinden und Auseinandergehen spielt auch hier eine Rolle – ich vermute, es gab ein paar abgesprochene Passagen, die Osborne jeweils mit ein paar Handzeichen oder einer abgesprochenen Phrase ankündigt. Hier setzt der Leader bald zu einem wuchtigen Solo an. Nach einer kurzen Ensemblepassage ist Skidmore dran, der nicht ganz so virtuos und druckvoll wie Evan Parker unterwegs ist, nach einer frühen überblasenen Phrase sich zunächst anders besinnt, schnelle Linien im tiefen Register spielt, aus dem er dann in einem ruppigen Growl wieder nach oben durchbricht, um vom Ensemble eingebettet zu werden, bevor Surman übernimmt, auch in der tiefen Lage aber am Barisax. Die letzten Minuten gehören dann wieder dem ganzen Kollektiv – und es gibt Momente, die wie ein begleitetes Schlagzeugsolo klingen. Moholo treibt das alles auf vollkommen unverwechselbare Weise an, leicht und doch mit einem Push, der die Musik zum Tanzen, zum Schweben bringt – in der Hinsicht ist die Musik dieses Sextetts jener der Brotherhood nicht unähnlich. Auf mich wirkt das Album am Ende einiges weniger persönlich als „Outback“ – die zwei Bässe funktionieren zwar super zusammen und die Chemie von Osborne, Skidmore und Surman (S.O.S.) ist natürlich nicht zu verleugnen, aber ich finde das Ergebnis einfach weniger attraktiv als das zu viel mehr Fokus gezwungene Trio oder die Erweiterung mit den vielschichtigeren Stimmen von Beckett und McGregor.
Mike Westbrook: „Mike Osborne is one of the greatest, most dedicated and uncompromising jazz musicians I’ve worked with. We worked closely together for 10 years through a period of intense musical discovery, in which John Surman was also deeply involved. … He burnt himself out too soon, and his breakdown and early demise remains one of our world’s great tragedies.“
(Foto von der Rückseite des Booklets von „Dawn“)Drüben gibt es natürlich mehr Musik mit Osborne … und manches, was hier folgt, würde drüben schon auch hin passen, aber egal.
Mike Osborne – Starting Fires: Live at The 100 Club 1970 | Osborne, Übername „Ozzie“, war hier ja schon Thema – Engländer mit tragischer Biographie, Mitglied der Brotherhood of Breath mit Chris McGregor, Mongezi Feza, Dudu Pukwana, davor schon bei Mike Westbrook, wo Harry Miller die Band vom Bass aus befeuerte. Kein Südafrikaner, aber einer der lebendigsten und packendsten Musiker der Szene – einer, wie es ihn ohne die Südafrikaner vermutlich nicht gegeben hätte. Und die Südafrikaner sind hier auch mit dabei: Miller und Louis Moholo sorgen für ein pulsierendes, mitreissendes, aber instabiles, ständig sich bewegendes Fundament für die wilden, oft kollektiven Höhenflüge von Osborne und Alan Skidmore (die beiden plus John Surman kennt man natürlich auch als S.O.S.). Zwei lange Stücke aus dem 100 Club in London vom Dezember 1970 sind 2023 bei British Progressive Jazz erschienen, das Band gemastert hat noch Mike King (1957-2015), dem die Veröffentlichung gewidmet ist, Matt Parker von BPJ hat dann noch nachbearbeitet. „Parallel“ heisst das erste erste lange Stück, und die Bläser sind hier wirklich gewissermassen parallel unterwegs, das zweite Stück heisst dann wie das Album und geht fast wie ein Standards bzw. ist eigentlich einer, nämlich „Body and Soul“, und hier solieren die beiden vornehmlich einzeln, zuerst Skidmore und dann Osborne, und das gibt auch dem tollen Beat von Miller/Moholo mehr Freiraum. Vom Format her wär’s perfekt für Vinyl geeignet – weil „Parallel“ brav nach 20 Minuten ausgeblendet wird.
Stan Tracey Alone & Together with Mike Osborne – Live at Wigmore Hall, 1974 | Am 18. Juni 1974 spielt Stan Tracey in der Wigmore Hall. Das erste Set, eine 42minütige Solo-Improvisation, erschien damals als „Alone at Wigmore Hall“ unter dem Titel „Wigmore Extempore“ (Parts One & Two), für die erweiterte Doppel-CD von 2015 wurden die zwei Teile wieder zusammengesetzt und mit einem neuen Titel versehen: „Eighty-Eight Plus One“. Tracey ist in irrer Form, findet seinen Weg durch freies Spiel, Melodien, Riffs und Grooves, kostet den Klang des Instruments in der heiligen Halle aus (1901 als „Bechstein Hall“ eröffnet, gilt bis heute als einer der Säle mit der besten Akustik in Europa, beliebt v.a. für Kammermusik und Lied-Rezitale). Sehr toll!
Noch toller ist, dass 2015 auch der zweite Teil des Konzerts erschienen ist, „Two-Part Intention“ ist das 45minütige Stück betitelt, das Tracey mit Osborne zusammen improvisierte. Das packt mich im Vergleich mit den bisher wieder angehörten Aufnahmen Osbornes allerdings nicht so sehr – sein Spiel hat hier etwas etüdenhaftes, er spielt Reihen hoch und runter, schiebt sie herum, während Tracey ihn mal eher zurückhaltend begleitet, einrahmt, dann interveniert, Druck aufbaut. Ein wenig wirkt das wie Filmmusik, mal für sowas wie einen überlagen Feininger-Film voller abstrakter Bilder, dann wieder wie für eine Verfolgungsjagd oder sonst eine Action-Szene von Buster Keaton. In der Mitte entlädt sich das alles in einem Gewitter aus Crescendi und Arpeggien – und dann wird es im Falsett und Diskant ganz still … um wieder in ähnliche Fahrwasser zu finden wie davor. Ein seltsames Set, das irgendwie nie so recht in Fahrt kommen will. Nach dem fantastischen Solo von Tracey etwas enttäuschend.
Die beiden damals erschienenen Duo-Alben von Tracey und Osborne kenne ich noch gar nicht, aber netterweise gibt es beide in der Tube: „Original“ (Cadillac, 1973, aufgenommen im April 1972 in der Surrey Hall, Stockwell) und „Tandem – Live at the Bracknell Festival“ (Ogun, 1977, aufgenommen am 24. Juli 1976 beim Festival in Bracknell, das letzte Viertel auch in Bracknell, aber live im South Hill Park am 26. November 1976 – das Cover unschwer als Arbeit von Niklaus Troxler vom Jazzfestival Willisau erkennbar) – aber das hole ich dann ein anderes Mal nach.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaHighlights von Rolling-Stone.deQueen: Darum war ihr Live-Aid-Konzert nicht wirklich spektakulär
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WerbungMike Osborne Trio – Border Crossing | Fünf Jahre existierte das Trio von Mike Osborne mit Harry Miller und Louis Moholo bereits, als damals seine erste Aufnahme erschien, am 28. September 1974 live im Peanuts Club (Kings Arms, Bishopsgate, London EC2) aufgenommen. Natürlich war Ogun das Label, das die Platte herausbrachte (siehe dazu das Zitat im ersten Post oben). Sechs Originals von Osborne sind zu hören, dazu eins von Miller. Vieles ist recht kurz gehalten (manches wird leider auch ausgeblendet), aber das tut der Spielfreude und Experimentierlust des Trios keinen Abbruch. Die Tempi sind beweglich und der Beat stets flexibel, Miller ändert behende Tempo oder Rhythmus, Moholo setzt immer wieder überraschende Akzente, verschleppt, beschleunigt, setzt die Snare ein, um laut zu werden. Es entsteht ein Flow, der von Stück zu Stück weiter läuft. Das Album entwickelt einen Sog, der nach dem etwas verhaltenen Einstieg immer stärker wird. Highlight ist „1st“, das vierte Stück, das mit fast zehn Minuten klar das längste ist – und uns heute schon von einer Version von 1970 bekannt (siehe oben). Hier funktionieren auch die Wiederholungen und Variationen von Osborne wieder prächtig, er baut so immer wieder Druck auf, aber dank der leichten und enorm beweglichen, blitzschnellen Rhythmusgruppe nie zu mächtig oder zu schwer wird. Sehr toll der Übergang vom schnellen „Riff“ in den abschliessenden Titeltrack mit seinem langsamen Groove, in dem das Trio noch einmal alles in die Waagschale wirft. Von all den südafrikanischen Alben, die keine wirklichen südafrikanischen Alben sind, ist das vielleicht mein allerliebstes. Wieder aufgelegt wurde es 2004 auf einem CD-Twofer zusammen mit „Marcel’s Muse“ (1977, dazu später).
Mike Osborne Trio – All Night Long (The Willisau Concert) | 2007 starb Osborne, 25 Jahre nach seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit, ein paar Tage vor seinem 66. Geburtstag. 2008 wurde das Live-Album vom Jazzfestival Willisau mit zwei Bonustracks wieder aufgelegt und Reel Recordings veröffentlichte drei Aufnahmen von 1980/81, die auf dem Reissue des Willisau-Albums bereits angekündigt wurden. Der Mitschnitt entstand im Hotel Mohren (sagt die Willisau Archiv-Website) oder im Hotel Kreuz (sagt einer der dort zu findenden Presseartikel) – jedenfalls im Rahmen eines einzelnen Konzertes, nicht beim Festival. Hier zieht das Trio noch einmal andere Saiten auf, das ist alles intensiv brennende Musik, bei der um Millers rasenden Bass herum das geerdete und lodernd brennende Saxophon und die unberechenbaren Drums ihren Zauber entfalten – und ich finde das heute noch toller als „Border Crossing“, das im direkten Vergleich ein wenig verhalten wirkt. Drei Sets seien gespielt worden, zwei Auszüge aus einem davon wurden gemäss den Liner Notes von Keith Beal für die Platte ausgewählt. Seite 1 kriegte den Titel „All Night Long“ und enthält neben zwei Oscborne-stücken das Kollektive „Rivers“ und Monks Klassiker „Round Midnight“ (drei Tracks auf der CD). Dann folgt „Waltz“ (Osborne, 7 Minuten), vermutlich nicht auf der LP (obwohl beim CD-Reissue anders vermerkt). Seite 2 der LP heisst „Recapitulations“, dauert 23 Minuten und enthält die Segmente „Ken’s Tune“, „Country Bounce“, „All Night Long“ und „Trio Trio“ – ausser dem kollektiven „Country Bounce“ alles Stücke von Osborne (und ein einziger Track auf der CD). Die CD enthält 27 Minuten mehr Musik: nochmal „Scotch Pearl“ aus Willisau (halb so lang wie die Version auf Seite 1 der LP) sowie das 22:38 lange „Now and Then, Then and Now“ (auch von Osborne), zu dem nur „recorded live in Europe“ steht. Das Frontcover ist natürlich auch wieder von Troxler, auf der Papphülle gibt es auch Bandfotos (das vor der Holztür von Andreas Raggenbass wohl beim ersten Auftritt des Trios in Willisau am 21. September 1974, das andere von unbekannt, ich tippe auf Markus DiFrancesco, der entweder beim Auftritt am 3. April 1976, für den Troxler auch das Plakat gestaltet hatte, das als Plattencover dient, oder jenem mit Harry Millers Isipingo am 29. August 1976 zugegen war – auf dem Foto trägt Osborne jedenfalls dasselbe Shirt):
Von Raggenbass und dem Konzert am 21. September 1974 stammen auch diese Fotos von Osborne und Moholo in Aktion:
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaMike Osborne & Friends – Live at The Peanuts Club | Fliege an der Wand spielen? Geht hier! Der Peanuts Club lag anscheinend in einem laut Google geschlossenen Pub an der Wormworth Street in der City of London (ein paar Schritte von der „Gurke“ entfernt), und Ossie war jeden Freitag der Gastgeber einer Jam Session. Manchmal spielte nur das Trio mit Harry Miller und Louis Moholo, aber oft schauten andere Musiker vorbei, vor allem natürlich die Kollegen aus der Brotherhood of Breath. Jazz in Britain hat vor ein paar Jahren eine alte 90minütige Kassette digitalisiert, die einen Abend von ca. 1975/76 dokumentiert. Auf zwei unbekannten Originals von Osborne hören wir ihn und sein Trio plus Harry Beckett, Marc Charig und Alan Skidmore, für die zwei folgenden Standards „Well You Needn’t“ und „Cherokee“ stösst dann auch noch Elton Dean dazu. Der Sound ist sehr okay, man hörte jedenfalls den Bass recht gut und von den Drums erstaunlich viele Details … und dadurch, dass im Kern eine Band steht, die schon jahrelang eingegroovt ist und mit Spielfreude aber auch einem ständigen Überraschungsmoment agiert, wirkt das das nicht wie eine unverbindliche Jam Session sondern wie ein fokussierter Gig. Alle sind bei der Sache, alle liefern … während die beiden Altsaxophone nicht schwer auseinanderzuhalten sind, muss ich gestehen, dass ich bei den Trompeten (Harry Beckett vermutlich am Kornett) nicht ganz sicher bin. Der 18minütige Opener ist so catchy und funky, dass es mir ein Rätsel ist, dass niemand das Stück identifizieren konnte … ich tippe hier auf BoB-Repertoire. Miller/Moholo rollen den Groove aus, die Bläser tanzen darüber, Osborne setzt am Ende das Glanzlicht, aber ich finde auch Skidmore hier besonders stark, mit einem verschatteten Solo. Überhaupt ist die Atmosphäre hier sehr schön dunkel. Das zweite Stücke dauert dann schon 24 Minuten und hier ist es Osborne, der als erster loslegt, eine lange Improvisation des Trios, danach öffnet sich das Stück, des gibt auch zwei Trompetensoli, getrennt von einem unbegleiteten Bass-Intermezzo – das zweite Trompetensolo (Beckett, vermute ich) gefällt mir besonders gut – und es gibt einen enorm aktiven Moholo, der hier buchstäblich allem seinen Stempel aufdrückt und verdientermassen auch ein Solo spielen darf, während Millers Bass phasenweise leider etwas untergeht. Und Skidmore höre ich hier glaube ich gar nicht? Ein Gedanke, der mir bei Osbornes langem Solo durch den Kopf geht ist, dass mich sein Spiel in einer gewissen Weise ein wenig an den späten Art Pepper (eher 1978/80 als 1975) erinnert: wie dieser „setzt“ er seine Beiträge, wirkt auch in den bewegtesten Momenten vollkommen geerdet, in sich ruhend. Über eine halbe Stunde dauert die Version von „Well You Needn’t“ – und in den leisen Riffs hinter Osborne, der wieder als erster soliert, wird der BoB-Spirit hörbar. Moholo hält sich natürlich auch in einem Bop-Stück nicht zurück, reicht Press-Roll and Press-Roll, hält seinen Beat aber regelmässiger, es fehlt das Überraschungsmoment. Dean muss sich danach ziemlich ins Zeug legen, tut dies aber mit Gusto und sich manchmal überschlagenden, brechendem Ton. Nach einem ersten Trompetensolo (Charig mit seinem klaren Ton?) ist dann wieder Skidmore zu hören – und Moholo ist jetzt auch richtig in Fahrt. Das zweite Trompetensolo ist verspielter, ich tippe auf Beckett, der mit Miller/Moholo zu einem echten Trio verschmilzt (dieses gibt es dank einer späteren jazzwerkstatt-Veröffentlichung aus Peitz ja tatsächlich auch noch). Danach ist Moholo dran – er bleibt stellenweise eng an Monks Thema, irgendwann kommt Miller am Bass dazu, dann wiederholen die Bläser da Thema, aber Moholo trommelt einfach weiter, bis sich die Performance in einer Art kollektiven Coda aufzulösen scheint, aus der Miller mit einem Bass-Solo emporsteigt, das dann aber leider nach etwas mehr als einer Minute eher unvermittelt abbricht. Als Closer gibt es dann noch das kurze „Cherokee“ („nur“ 12 Minuten) – und hier sind natürlich die Saxophone dran. Skidmore setzt vielleicht das Glanzlicht mit einem Solo, das oft ins Tiefe Register hinabsteigt … und wer davor zu hören ist? Ich tippe eher auf Elton Dean hier. Danach kurz Moholo und dann nochmal ein Altsax, das aber schnell ins Thema zurück führt – Moholo stompt, die Trompeten irrlichtern – und die Band findet in einen anderen Bebop-Klassiker, den ich grad nicht benennen kann und es folgt eine kurze Kollektiv-Improvisation, bevor das Stück endet. Das ist sehr tolle Musik, auch wenn die 85 oder 86 Minuten natürlich eine Ansage sind – ein Brocken!
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaMike Osborne Trio with Harry Miller & Tony Levin – The Birmingham Jazz Concert | Ein Brocken ist auch das nächste Dokument von Mike Osborne, der hier nicht mit dem üblichen Trio sondern mit Harry Miller und Drummer Tony Levin zu hören ist. Es handelt sich dabei um das dritte Konzert der Reihe „Birmingham Jazz“, die 1976 gegründet wurde und die ersten fünf Jahre in der Warwick Suite des dortigen Grand Hotels stattfand. Osborne spielte am 7. November 1976 dort. 2009 grub George West, einer der Gründer der Konzertreihe, das Tape wieder aus, das die Musiker ihn damals machen liessen: „The musicians gave me permission to record the concert as a souvenir on my Maxwell C180 tape and Yamaha recorder“. 2012 erschien die Aufnahme als Doppel-CD bei Cadillac Records von John Jack, der so weit es dann noch möglich war mit Hilfe von involvierten Musikern die Titel zu rekonstruieren (Tony Levin starb als letzter 2011, ich nehme an, Jack fragte andere Leute, die mit Osborne spielten oder damals aktiv waren). Der Sound ist wieder sehr okay, der Bass hat Präsenz, nur das Drumkit klingt etwas unausgeglichen (die Höhen sind nicht gut). „Ossie’s Opener“ und „More Mike“ heissen die ersten Stücke, dann folgen Coltranes „Cousin Mary“ und Millers „Awakening Spirit“ (zwei Takes, die lange auf CD 2 ein Highlight), das wie das später zu hörende „Ken’s Tune“ (dem Besitzer des Peanut Club, Ken May, gewidmet) auch schon auf „Border Crossing“ zu hören war. „All Night Long“ stand wie „Ken’s Tune“ in Willisau auf der Setlist, zu weiteren Osborne-Stücken („Journey’s End“, „Almost Home Katy“, der Calypso „One for George“) kommen auch noch Rollins‘ „Alfie“, Monks „Nutty“ zum Einstieg ins zweite Set, sowie ganz am Ende „Don’t Stop the Carnival“ und eine Trio-Improvisation. Viele Stücke fliessen nahtlos ineinander über: das Tempo zieht plötzlich an und Osborne beginnt mit dem nächsten Thema. Das erste Set auf CD 1 dauert eine gute Dreiviertelstunde, das zweite dann eine knappe Stunde. Natürlich fehlt der freie Geist von Louis Moholo, aber Levin macht seine Sache ganz gut. Sein vorhersehbares, gewichtigeres Spiel passt zu Osbornes schwerem Saxophon – und Millers Bass scheint öfter die Rolle des Freigeists zu übernehmen und wird mehr als sonst zum Kern des Trios, etwa in „Almost Home Kathy“, dem tollen Closer des ersten Sets mit seinem endlos kreisenden Groove. Auch das ein tolles Dokument – das ausführlichste von Osbornes Trio, aber halt leider nicht mit Moholo. Dennoch eine hervorragende Ergänzung zu „Border Crossing“ und „All Night Long“.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaMike Osborne Quintet – Marcel’s Muse | Aus den Sessions im Peanuts Club ging irgendwann dieses Quintett hervor, mit dem Oborne am 31. Mai 1977 sein damals letztes Album einspielte – sieben Jahre nach dem Debut („Outback“) und fünf vor dem Verstummen. Eine kurze, aber sehr intensive Zeit, die inzwischen dank weiterer Dokumente noch etwas weiter geht (bis ca. 1980/81, es sind aber nur noch zwei weitere CDs). Zum Quintett gehört immer noch Harry Miller am Bass, neu sind Mark Charig (t), Jeff Green (g) und Peter Nykyruj (d). Die Musik ist weniger fokussiert und verdichtet als im Trio, aber Charig bittersüsse Trompete und sein stetiger Fluss an Ideen sind eine tolle Ergänzung und Green bringt neue Farben ohne etwas vollzuklecksen – eine recht elegante Gitarre mit schönem, klassischem Ton aber von den Ideen her durchaus auch einmal experimenteller unterwegs – was im zweiten Stück, „Sea Mist“, vielleicht auch das freie Arco-Solo von Miller mitinspiriert? „Molten Lead“ heisst der Opener, auf der zweiten Seite geht es mit „Where’s Freddy?“ los – alle drei Stücke von Osborne. Am Schluss steht dann ein obskures Cover, „I Wished I Knew“ von Billy Smith, dem Tenorsaxophonisten von Monks allererster Blue Note Session. Die tolle Ballade ist auch auf Freddie Hubbards „Goin‘ Up“ zu hören – hier glänzt Charig im Thema und nach Greens bestem Moment auch mit einem schönen Solo. Erst nach sechseinhalb Minuten hören wir hier den Leader mit einem kurzen aber äusserst konzentrierten Solo. Das ist vielleicht die klassischste Performance in Osbornes Werk – und dennoch oder gerade deshalb ein Highlight. Der mehr oder weniger unbekannte Drummer stammte aus Australien und spielte dort mit einer Prog Rock-Band namens Aragorn, von der 2022 ein Album von damals erschienen ist. Später taucht er nochmal in den Niederlanden auf (auf dem BVHaast-Album „Chicken Song“ des Quintetts von Maarten van Norden/Boy Raaymakers sowie einem Set mit dem Gitarristen Wiebe Wilbers in der LP-Box „Jazz From The Low Countries“ mit Radio-Aufnahmen).
Mark Charig, Jeff Green und Dave Holdsworth (er taucht gleich noch auf) haben für den Ogun CD-Twofer („Border Crossing“ und „Marcel’s Muse“) einen kleine Texte beigesteuert.
Charig berichtet über die Sessions im Peanuts Club: „[…] I got to play not only with Ossie but also with some of the best musicians in London at the time. A solid apprenticeship! […]“
Green: „Playing alongside Ossie was both a thrilling and galvanising experience – his passion and commitment to his music was inspirational and total. He made me dig deep down inside myself to try to match my efforts to his – his playing was, and still is, a benchmark to reach for, transcending time and fashions – was all truly great playing is – hair-raising but wonderful! Keep the faith!“
Und Dave Holdsworth berichtet etwas ausführlicher: „I played numerous gigs with Mike between the mid 1960s and 1982. My lasting impression is of music and performance of total integrity, searing passion, risk-taking and improbable tempos. I suspect that the music was as challenging for the listener as for the musicians. […] Verbal direction from Mike was virtually non-existent – you relied on your musical wits and what you had learned from playing with him over the years. […]“Und Charles Fox schrieb für die originalen Liner Notes einen schönen Gedanken nieder:
In a perfect world no good jazz player would ever be required to carry a passport, only to blow a handful of notes.
John Stevens Trio Featuring Mike Osborne & Paul Rogers – Live at The Plough | Drummer John Stevens was die treibende Kraft hinter dem Spontaneous Music Ensemble und leitete auch regelmässige Sessions (im Little Theatre Club in London, um die Ecke vom Trafalgar Square, wie es scheint, zwischen Strand und Themse). 2003 erschien bei Ayler Records ein Mitschnitt aus dem Nebenraum des Plough-Pubs in Stockwell (Lambeth). Laut Jan Ström ist davon auszugehen, dass dieses Trio sonst nicht zusammen spielte. Anscheinend gäbe es da noch sehr viel mehr Aufnahmen zu entdecken, wie Philippe Renaud in den längeren Liner Notes schreibt (er erwähnt auch ein Trio von Stevens mit John Tchicai und Danny Thompson von 1976). Mit dem jungen Paul Rogers am Kontrabass und John Stevens am Schlagzeug klingt das hier wieder völlig anders als das Trio mit Miller/Moholo – aber Osborne gräbt sich schon ins erste Stück tief ein, Jackie McLeans „Blue Rondo“ (angesagt zu Beginn der CD). Danach folgt „Cool Struttin'“ von Sonny Clark ein Hard Bop-Klassiker und noch ein Stück von Jackie McLean, der mit seinem Ton und teils auch seiner Phrasierung eh unschwer als das grosse Vorbild von Osborne zu erkennen ist (auf der Hülle heisst das Stück „Plough Story“ und wird Osborne zugeschrieben – dass die Avantgarde-Fans sowas nicht erkennen, ist für mein Empfinden geradezu typisch, das interessiert die einfach nicht). Auch das dritte Stück ist was anderes als „Carrousel“ von Osborne, aber da komme ich gerade nicht drauf (es gehört leider nicht zu den vier, die man auf Bandcamp streamen kann) – Osborne zitiert dann auch mal noch „Four“ in seinem Solo. Es folgt „Cherokee“, natürlich in rasendem Tempo und mit einem fliegenden Osborne – aber zunächst kriegt Rogers hier viel Raum, wobei aus dem Bass-Solo zwischendurch ein Duett mit Stevens wird. „Summertime“ muss als Hommage an Albert Ayler verstanden werden, der Stevens (und die ganze europäische Free Jazz-Avantgarde) massgeblich geprägt hat. Es geht los mit freiem Bass und einem Riff von Osborne, der erst nach einer Minute ins Thema überleitet. Seine Version ist dann aber sehr viel gradliniger als die von Ayler, auch wenn er da und dort ins Falsett gleitet und den Rahmen vielleicht gerne sprengen würde. Aber das lässt Stevens an dem Abend generell nicht zu, er bleibt beim festen Puls, dem, was bei ihm gerne „free bop“ genannt wird. Dann folgen „The Restart“ (von Osborne – ich erkenne hier zumindest nichts anderes) und „MO Recapitulations“, 23 Minuten lang … und ist in Wahrheit „Alfie’s Theme“ von Sonny Rollins, aber hier bricht die Band dann wirklich aus, öffnet Räume und lässt sich Zeit. Osborne streift andere Stücke (bei „It Don’t Mean a Thing“ mit Reaktion des Publikums) – und das Rollins Trio, die Rollins Trios (ich habe nicht nachgeschaut, welche überhaupt in England waren, er spielte natürlich auch im Ronnie Scott’s mit dem Trio von Stan Tracey) dürfte hier eh die Haupt-Referenz sein. Das alles macht schon sehr viel Spass, wie beim Mitschnitt aus dem Peanuts Club bin ich hier gerne die Fliege an der Wand, die diesen Einblick in eine verschwundene (und bei uns eh unbekannte) Welt geniesst und schätzt. Der Mitschnitt ist mit 73 Minuten aber etwas gar lang, auch wegen des mässigen, dumpfen Sounds. Ein interessantes Dokument also, keine Sternstunde.
Mike Osborne – Force Of Nature | Diese spätesten Aufnahmen von Osborne sind 2008 bei Reel Recordings erschienen. Los geht es mit einem 42minütigen Set aus Köln, vom Festival des Jazzhaus Köln am 17. Oktober 1980. Osborne, Dave Holdsworth (t), Marcio Mattos (b) und Brian Abrahams (d) sind zu hören, das Stück heisst „Ducking & Diving“ und die Atmosphäre ist sofort wieder eine andere: fokussiert, drängend, dicht. Mattos und Abrahams (Brite, 1947 in Südafrika geboren, in den Achtzigern auch Mitglied von District 6 mit Chris McGregor, Jim Dvorak usw., zudem auf Abdullah Ibrahims „African River“ und späten Aufnahmen der Brotherhood of Breath zu hören) spielen freier auf. Es gibt einen festen Puls, aber der wirkt flexibler und Mattos umspielt den Groove, während er ihn gleichzeitig setzt. Osborne legt los – und es tut gut, seinen Ton nach dem Pub-Sound wieder richtig hören zu können („Professional open reel recording at 7&1/2 IPS“ steht auf der Hülle). Nach sieben Minuten übernimmt Holdsworth. Die Begleitung beruhigt sich etwas, während der Trompeter recht gradlinig beginnt – mit nach oben gerichteten Cries und einem glänzenden Schimmer am Ende seiner Phrasen … um Lester Bowie kamen die Leute damals wohl nicht herum. Danach Mattos mit dem Bogen, Abrahams … und damit ist Halbzeit und das Pflichtpensum erledigt. Jetzt öffnet sich die Musik: Holdsworth spielt im Duett mit Mattos (pizzicato), Abrahams setzt mit einzelnen nachhallenden Beckenschlägen wieder ein, es entsteht eine tolle, ruhige Atmosphäre. Und dann bricht Osborne mit „Cool Struttin'“ rein, Holdsworth stösst dazu, die Rhythmusgruppe, vor allem Mattos, verweigert sich dem Groove aber noch eine ganze Weile – und auch danach scheint der Walking Bass gegen den Strich gebürstet – zu laut und nie recht auf den Beat – wenn Osborne zum Solo anhebt und Abrahams, einen leichten Swing spielt. Auch so kann man sich Hard Bop aneignen … und wenn Holdsworth dahinter zu riffen anfängt, wird das fast noch ein wenig ellingtonesk (den Gedanken hatte ich gestern schon, bevor Sonny Clark plötzlich aufkreuzt: ich hörte schon anderswo Parallelen zwischen Zorn und Osborne … würde mich echt wundernehmen, ob Zorn der Musik von Osborne mal begegnet ist, oder ob das einfach Zufall ist, ähnliche, parallel verlaufende Linien von Jackie McLean aus?). Das Solo von Holdsworth – zunächst wieder mit nur minimaler Begleitung von Abrahams – ist dann echt toll. Es fängt recht konventionell aber klasse an, verdichtet sich allmählich … und Abrahams geht mit, während sich Mattos nun vergleichsweise zurückhält. Aus der Steigerung von Abrahams, der unterwegs von den Besen an die Sticks wechselt, wird dann ein brennendes Duett mit Osborne. Nach einer Weile stösst Mattos dazu, das groovt völlig anders als mit Miller/Moholo aber ist ähnlich packend. Holdsworth stösst dazu und es gibt eine kurze, energiegeladene Kollektivimprovisation, bevor Osborne in ein Riff fällt. Die Band geht sofort mit und es gibt einen tollen Groove. Und bald geht es weiter, ein langsaremes aber immer noch groovendes Tempo, Osborne legt noch einmal los, im Trio mit Mattos/Abrahams, bevor Holdsworth zum Abschluss dazu kommt und der Groove zerfällt: Mattos greift zum Bogen, Abrahams beschleunigt, während die Bläser lange Töne legen … eine kurze letzte Kollektivimprovisation, die vermutlich so halbwegs konzipiert ist und in ein letztes schnelles Thema mündet.
Es folgen noch zwei Stücke, 20 Minuten, vom 27. April 1981 aus London (ein Ort wird nicht genannt, dafür, dass ein Terry Sullivan die Aufnahme gemacht habe, „using Sony TC355 at 3&3/4 IPS“). Neben Osborne und Holdsworth sind jetzt Paul Bridge (b) und Tony Marsh (d) zu hören. „Journey’s End“ ist leider ein passend gewählter Titel, doch es folgt noch „All Night Long“, das längere der beiden Stücke. Der Trompeter erweist sich wieder als ebenbürtiger Sidekick, während Marsh einen viel härteren Stil pflegt als Abrahams, fast hektisch und nicht swingend trommelt und dem ersten Stück zusammen mit dem schnellen Bass von Paul Bridge einen nervösen Touch gibt. Der Übergang ins zweite Stück ist fliessend, das Tempo rasend aber aufgeräumt, Osborne setzt zu einem Solo an, kurze Phrasen, repetitiv, von einer Idee zur nächsten, aber mit viel Zeit und Raum dazwischen. Zwölf Minuten dauert die tolle Performance, die in den Soli durch mehrere Teile geht – erst nach sieben Minuten übernimmt Holdsworth, das Tempo hoch, die Intensität noch höher: Bridge rast, Marsh attackiert die Snare. Und nach einem Schlagzeugsolo und der Themenrekapitulation endet leider Osbornes dokumentierte Zeit als Musiker, fünf Monate und einen Tag vor seinem 40. Geburtstag.
Dave Holdsworth hat für die Hülle einen ähnlichen Text wie für den Ogun-Twofer beigetragen, nimmt aber auch Bezug auf die Band, die hier zu hören ist, zu der er von 1979 bis zu Osbornes Rückzug 1982 fix gehört habe: „[…] Verbal direction from Mike was virtually non-existent. Most of his tunes were not written down and had to be committed to memory. The structure and rhythm of his compositions were often idiosyncratic. Certainly the demands he made on other musicians were not for the faint hearted. […] To my mind, I had always thought that the quartet had never played better than at the concert in Koln, but it was only in November 2007 that I was made aware that the event had been recorded. What a joy!“
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba -
Schlagwörter: British Jazz, Free Jazz, Mike Osborne
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