Antwort auf: Mike Osborne

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Mike Osborne Quintet – Marcel’s Muse | Aus den Sessions im Peanuts Club ging irgendwann dieses Quintett hervor, mit dem Oborne am 31. Mai 1977 sein damals letztes Album einspielte – sieben Jahre nach dem Debut („Outback“) und fünf vor dem Verstummen. Eine kurze, aber sehr intensive Zeit, die inzwischen dank weiterer Dokumente noch etwas weiter geht (bis ca. 1980/81, es sind aber nur noch zwei weitere CDs). Zum Quintett gehört immer noch Harry Miller am Bass, neu sind Mark Charig (t), Jeff Green (g) und Peter Nykyruj (d). Die Musik ist weniger fokussiert und verdichtet als im Trio, aber Charig bittersüsse Trompete und sein stetiger Fluss an Ideen sind eine tolle Ergänzung und Green bringt neue Farben ohne etwas vollzuklecksen – eine recht elegante Gitarre mit schönem, klassischem Ton aber von den Ideen her durchaus auch einmal experimenteller unterwegs – was im zweiten Stück, „Sea Mist“, vielleicht auch das freie Arco-Solo von Miller mitinspiriert? „Molten Lead“ heisst der Opener, auf der zweiten Seite geht es mit „Where’s Freddy?“ los – alle drei Stücke von Osborne. Am Schluss steht dann ein obskures Cover, „I Wished I Knew“ von Billy Smith, dem Tenorsaxophonisten von Monks allererster Blue Note Session. Die tolle Ballade ist auch auf Freddie Hubbards „Goin‘ Up“ zu hören – hier glänzt Charig im Thema und nach Greens bestem Moment auch mit einem schönen Solo. Erst nach sechseinhalb Minuten hören wir hier den Leader mit einem kurzen aber äusserst konzentrierten Solo. Das ist vielleicht die klassischste Performance in Osbornes Werk – und dennoch oder gerade deshalb ein Highlight. Der mehr oder weniger unbekannte Drummer stammte aus Australien und spielte dort mit einer Prog Rock-Band namens Aragorn, von der 2022 ein Album von damals erschienen ist. Später taucht er nochmal in den Niederlanden auf (auf dem BVHaast-Album „Chicken Song“ des Quintetts von Maarten van Norden/Boy Raaymakers sowie einem Set mit dem Gitarristen Wiebe Wilbers in der LP-Box „Jazz From The Low Countries“ mit Radio-Aufnahmen).

Mark Charig, Jeff Green und Dave Holdsworth (er taucht gleich noch auf) haben für den Ogun CD-Twofer („Border Crossing“ und „Marcel’s Muse“) einen kleine Texte beigesteuert.
Charig berichtet über die Sessions im Peanuts Club: „[…] I got to play not only with Ossie but also with some of the best musicians in London at the time. A solid apprenticeship! […]“
Green: „Playing alongside Ossie was both a thrilling and galvanising experience – his passion and commitment to his music was inspirational and total. He made me dig deep down inside myself to try to match my efforts to his – his playing was, and still is, a benchmark to reach for, transcending time and fashions – was all truly great playing is – hair-raising but wonderful! Keep the faith!“
Und Dave Holdsworth berichtet etwas ausführlicher: „I played numerous gigs with Mike between the mid 1960s and 1982. My lasting impression is of music and performance of total integrity, searing passion, risk-taking and improbable tempos. I suspect that the music was as challenging for the listener as for the musicians. […] Verbal direction from Mike was virtually non-existent – you relied on your musical wits and what you had learned from playing with him over the years. […]“

Und Charles Fox schrieb für die originalen Liner Notes einen schönen Gedanken nieder:

In a perfect world no good jazz player would ever be required to carry a passport, only to blow a handful of notes.

John Stevens Trio Featuring Mike Osborne & Paul Rogers – Live at The Plough | Drummer John Stevens was die treibende Kraft hinter dem Spontaneous Music Ensemble und leitete auch regelmässige Sessions (im Little Theatre Club in London, um die Ecke vom Trafalgar Square, wie es scheint, zwischen Strand und Themse). 2003 erschien bei Ayler Records ein Mitschnitt aus dem Nebenraum des Plough-Pubs in Stockwell (Lambeth). Laut Jan Ström ist davon auszugehen, dass dieses Trio sonst nicht zusammen spielte. Anscheinend gäbe es da noch sehr viel mehr Aufnahmen zu entdecken, wie Philippe Renaud in den längeren Liner Notes schreibt (er erwähnt auch ein Trio von Stevens mit John Tchicai und Danny Thompson von 1976). Mit dem jungen Paul Rogers am Kontrabass und John Stevens am Schlagzeug klingt das hier wieder völlig anders als das Trio mit Miller/Moholo – aber Osborne gräbt sich schon ins erste Stück tief ein, Jackie McLeans „Blue Rondo“ (angesagt zu Beginn der CD). Danach folgt „Cool Struttin'“ von Sonny Clark ein Hard Bop-Klassiker und noch ein Stück von Jackie McLean, der mit seinem Ton und teils auch seiner Phrasierung eh unschwer als das grosse Vorbild von Osborne zu erkennen ist (auf der Hülle heisst das Stück „Plough Story“ und wird Osborne zugeschrieben – dass die Avantgarde-Fans sowas nicht erkennen, ist für mein Empfinden geradezu typisch, das interessiert die einfach nicht). Auch das dritte Stück ist was anderes als „Carrousel“ von Osborne, aber da komme ich gerade nicht drauf (es gehört leider nicht zu den vier, die man auf Bandcamp streamen kann) – Osborne zitiert dann auch mal noch „Four“ in seinem Solo. Es folgt „Cherokee“, natürlich in rasendem Tempo und mit einem fliegenden Osborne – aber zunächst kriegt Rogers hier viel Raum, wobei aus dem Bass-Solo zwischendurch ein Duett mit Stevens wird. „Summertime“ muss als Hommage an Albert Ayler verstanden werden, der Stevens (und die ganze europäische Free Jazz-Avantgarde) massgeblich geprägt hat. Es geht los mit freiem Bass und einem Riff von Osborne, der erst nach einer Minute ins Thema überleitet. Seine Version ist dann aber sehr viel gradliniger als die von Ayler, auch wenn er da und dort ins Falsett gleitet und den Rahmen vielleicht gerne sprengen würde. Aber das lässt Stevens an dem Abend generell nicht zu, er bleibt beim festen Puls, dem, was bei ihm gerne „free bop“ genannt wird. Dann folgen „The Restart“ (von Osborne – ich erkenne hier zumindest nichts anderes) und „MO Recapitulations“, 23 Minuten lang … und ist in Wahrheit „Alfie’s Theme“ von Sonny Rollins, aber hier bricht die Band dann wirklich aus, öffnet Räume und lässt sich Zeit. Osborne streift andere Stücke (bei „It Don’t Mean a Thing“ mit Reaktion des Publikums) – und das Rollins Trio, die Rollins Trios (ich habe nicht nachgeschaut, welche überhaupt in England waren, er spielte natürlich auch im Ronnie Scott’s mit dem Trio von Stan Tracey) dürfte hier eh die Haupt-Referenz sein. Das alles macht schon sehr viel Spass, wie beim Mitschnitt aus dem Peanuts Club bin ich hier gerne die Fliege an der Wand, die diesen Einblick in eine verschwundene (und bei uns eh unbekannte) Welt geniesst und schätzt. Der Mitschnitt ist mit 73 Minuten aber etwas gar lang, auch wegen des mässigen, dumpfen Sounds. Ein interessantes Dokument also, keine Sternstunde.

Mike Osborne – Force Of Nature | Diese spätesten Aufnahmen von Osborne sind 2008 bei Reel Recordings erschienen. Los geht es mit einem 42minütigen Set aus Köln, vom Festival des Jazzhaus Köln am 17. Oktober 1980. Osborne, Dave Holdsworth (t), Marcio Mattos (b) und Brian Abrahams (d) sind zu hören, das Stück heisst „Ducking & Diving“ und die Atmosphäre ist sofort wieder eine andere: fokussiert, drängend, dicht. Mattos und Abrahams (Brite, 1947 in Südafrika geboren, in den Achtzigern auch Mitglied von District 6 mit Chris McGregor, Jim Dvorak usw., zudem auf Abdullah Ibrahims „African River“ und späten Aufnahmen der Brotherhood of Breath zu hören) spielen freier auf. Es gibt einen festen Puls, aber der wirkt flexibler und Mattos umspielt den Groove, während er ihn gleichzeitig setzt. Osborne legt los – und es tut gut, seinen Ton nach dem Pub-Sound wieder richtig hören zu können („Professional open reel recording at 7&1/2 IPS“ steht auf der Hülle). Nach sieben Minuten übernimmt Holdsworth. Die Begleitung beruhigt sich etwas, während der Trompeter recht gradlinig beginnt – mit nach oben gerichteten Cries und einem glänzenden Schimmer am Ende seiner Phrasen … um Lester Bowie kamen die Leute damals wohl nicht herum. Danach Mattos mit dem Bogen, Abrahams … und damit ist Halbzeit und das Pflichtpensum erledigt. Jetzt öffnet sich die Musik: Holdsworth spielt im Duett mit Mattos (pizzicato), Abrahams setzt mit einzelnen nachhallenden Beckenschlägen wieder ein, es entsteht eine tolle, ruhige Atmosphäre. Und dann bricht Osborne mit „Cool Struttin'“ rein, Holdsworth stösst dazu, die Rhythmusgruppe, vor allem Mattos, verweigert sich dem Groove aber noch eine ganze Weile – und auch danach scheint der Walking Bass gegen den Strich gebürstet – zu laut und nie recht auf den Beat – wenn Osborne zum Solo anhebt und Abrahams, einen leichten Swing spielt. Auch so kann man sich Hard Bop aneignen … und wenn Holdsworth dahinter zu riffen anfängt, wird das fast noch ein wenig ellingtonesk (den Gedanken hatte ich gestern schon, bevor Sonny Clark plötzlich aufkreuzt: ich hörte schon anderswo Parallelen zwischen Zorn und Osborne … würde mich echt wundernehmen, ob Zorn der Musik von Osborne mal begegnet ist, oder ob das einfach Zufall ist, ähnliche, parallel verlaufende Linien von Jackie McLean aus?). Das Solo von Holdsworth – zunächst wieder mit nur minimaler Begleitung von Abrahams – ist dann echt toll. Es fängt recht konventionell aber klasse an, verdichtet sich allmählich … und Abrahams geht mit, während sich Mattos nun vergleichsweise zurückhält. Aus der Steigerung von Abrahams, der unterwegs von den Besen an die Sticks wechselt, wird dann ein brennendes Duett mit Osborne. Nach einer Weile stösst Mattos dazu, das groovt völlig anders als mit Miller/Moholo aber ist ähnlich packend. Holdsworth stösst dazu und es gibt eine kurze, energiegeladene Kollektivimprovisation, bevor Osborne in ein Riff fällt. Die Band geht sofort mit und es gibt einen tollen Groove. Und bald geht es weiter, ein langsaremes aber immer noch groovendes Tempo, Osborne legt noch einmal los, im Trio mit Mattos/Abrahams, bevor Holdsworth zum Abschluss dazu kommt und der Groove zerfällt: Mattos greift zum Bogen, Abrahams beschleunigt, während die Bläser lange Töne legen … eine kurze letzte Kollektivimprovisation, die vermutlich so halbwegs konzipiert ist und in ein letztes schnelles Thema mündet.

Es folgen noch zwei Stücke, 20 Minuten, vom 27. April 1981 aus London (ein Ort wird nicht genannt, dafür, dass ein Terry Sullivan die Aufnahme gemacht habe, „using Sony TC355 at 3&3/4 IPS“). Neben Osborne und Holdsworth sind jetzt Paul Bridge (b) und Tony Marsh (d) zu hören. „Journey’s End“ ist leider ein passend gewählter Titel, doch es folgt noch „All Night Long“, das längere der beiden Stücke. Der Trompeter erweist sich wieder als ebenbürtiger Sidekick, während Marsh einen viel härteren Stil pflegt als Abrahams, fast hektisch und nicht swingend trommelt und dem ersten Stück zusammen mit dem schnellen Bass von Paul Bridge einen nervösen Touch gibt. Der Übergang ins zweite Stück ist fliessend, das Tempo rasend aber aufgeräumt, Osborne setzt zu einem Solo an, kurze Phrasen, repetitiv, von einer Idee zur nächsten, aber mit viel Zeit und Raum dazwischen. Zwölf Minuten dauert die tolle Performance, die in den Soli durch mehrere Teile geht – erst nach sieben Minuten übernimmt Holdsworth, das Tempo hoch, die Intensität noch höher: Bridge rast, Marsh attackiert die Snare. Und nach einem Schlagzeugsolo und der Themenrekapitulation endet leider Osbornes dokumentierte Zeit als Musiker, fünf Monate und einen Tag vor seinem 40. Geburtstag.

Dave Holdsworth hat für die Hülle einen ähnlichen Text wie für den Ogun-Twofer beigetragen, nimmt aber auch Bezug auf die Band, die hier zu hören ist, zu der er von 1979 bis zu Osbornes Rückzug 1982 fix gehört habe: „[…] Verbal direction from Mike was virtually non-existent. Most of his tunes were not written down and had to be committed to memory. The structure and rhythm of his compositions were often idiosyncratic. Certainly the demands he made on other musicians were not for the faint hearted. […] To my mind, I had always thought that the quartet had never played better than at the concert in Koln, but it was only in November 2007 that I was made aware that the event had been recorded. What a joy!“

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