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bft #34, alec wilder, abschlusspost.
das thema des blindfoldtests waren die kompositionen des pop- und klassik- und inbetween-komponisten alec wilder (1907-1980), in gesungenen und instrumentalen aufnahmen.
das kam ein bisschen daher, dass ich mich seit längerem für die grundlagen des great american songbooks interessiere und wilder darüber eines der standardwerke geschrieben hat, ich ohnehin manchmal abendelang verschiedene versionen von songs irgendwelcher komponist*innen durchhöre (angefangen mit frank loesser, dann die beider bernsteins, leonard und elmer, hoagy carmichael steht an) und deshalb auch mal interpretationen von wilder-songs gesammelt habe, ohne eigentlich fan zu sein, und, dritter punkt: ich song-recherchen nicht in diesem forum abbilde, wo man ja vor allem über alben schreibt. (dann gibt es eigentlich auch noch einen vierten punkt, da mich außenseiterische zugänge zu diesem handwerk interessieren, also songs von komponistinnen, dezidiert schwarze beiträge zum american songbook, in wilders fall ist es ein eher queerer zugang, im weiteren sinn des konzepts).
wilder kam ein bisschen spät auf party, auf dem broadway konnte er vor lauter leuten, die gut im geschäft waren, nicht mehr landen, zu hollywood hatte er auch keine produktiven verbindungen, weswegen er sich einerseits eine kammermusikalische nische zwischen pop und klassik gebaut hat und sich andererseits zu einem vielseitig einsetzbaren multitalent in vielen bereichen des komponierens, arrangierens, textens, vermittelns etc. entwickelte. seine karriere ist überhaupt ziemlich merkwürdig verlaufen. er studierte in seiner heimatstadt rochester an der eastman school of music, allerdings nicht als eingeschriebener student, sondern als gast, der vermögend genug war, sich privatstunden bei einzelnen dozierenden zu nehmen. vieles funktioniert von da aus über dort geknüpfte netzwerke, wobei klassik-, pop- und jazz-unternehmungen zum teil über die gleichen leute aufgespannt wurden (vor allem über mitch miller, der als oboist bei wilders kammermusikprojekten dabei war, aber auch popsongs für seine entdeckungen bei mercury, okeh und columbia bei ihm bestellte; wilder schrieb aber auch direkt für sänger*innen im jazz- und kabaret-bereich, arrangierte für benny goodman und schrieb später für befreundete jazzer wie zoot sims oder stan getz klassische solokonzerte). die eigenartigen bewegungen zwischen genres und sparten (und rollen) scheint für viele musiker*innen, die ebenfalls (gewollt oder ungewollt) auf mehreren partys tanzten, interessant gewesen zu sein: leute zwischen jazz und klassik (don shirley), zwischen jazz und pop (johnnie ray, dinah washington, marvin gaye), zwischen kabarett und jazz (martha davis, mabel mercer, bobby short), zwischen den klassischen geschlechterrollen(erwartungen) (shirley, ray, short, johnny mathis, marvin gaye, jimmy scott).
was die songs angeht: wilder hatte einen theoretischen zugang zu populärer musik, ihn interessierte die linie von komponist*innen, die sich von europäischer kunstmusik emanzipierten und durch integration von country- und spiritual-elementen so etwas wie eine „ureigene“ us-amerikanische musik entwickelten. kern war ihm noch nicht emanzipiert genug, mit irving berlin fing eigentlich das an, was ihn interessierte. sein eigentliches vorbild war arlen, der für tanzbands schrieb, nicht für konzertsäle, und der als sänger an meloden glaubte.
melodien sind wilder größte liebesbeziehung, er hasste songs, die mit notenwiederholungen arbeiteten, bei denen also die harmonien die ganze arbeit machten (gershwin als besonderer streitfall, jobims „one note samba“ ist vielleicht als provokation an wilder geschrieben worden…), bei wilder ist es umgekeht: die melodie erzeugt die harmoniewechsel, was dazu führte, dass seine songs keine hooks haben und als wunderlich und zu sophisticated galten. die texte schrieb er oft selbst, sie sind relativ funktional und bedienen (nochmehr in der partnerschaft mit dem texter william engvick) auf ziemlich ungeschützt-radikale weise konventionen des torch-songs (ein partner zieht weiter, der andere hält am erlebten fest). wilders ziemlich spürbaren A-vibes aus dem LGBTAIQ-spektrum könnten zumindest meinen eindruck bestärken, dass es hier eher um die idee eines songs geht als um umgesetzte tiefere erfahrungen. oft thematisieren die songs das songschreiben selbst („the wrong blues“, „the lady sings the blues“, die „dissonance“ in „the winter of my discontent“ etc.). texte für andere hat wilder auch geschrieben, für sein arrangement für benny goodmans „all the cats join in“, für adaptionen aus anderen sprachen („senza fine“), am bekanntesten ist wohl sein text zu thad jones‘ „a child is born“). von wilder gibt es aber nicht nur torch songs, er hat auch novelty songs geschrieben (der schlimmste: „basta“ für louis prima, aber auch sowas wie „good for nothing“ für marlene dietrich und rosemary clooney). und es gibt natürlich auch einen ganz hübschen weihnachtssong von ihm, „how lovely is christmas“ für bing crosby.
im blindfoldtest sind songs aus allen phasen von wilders popkomponistentätigkeit zu finden.
1940er
„give me time“ (1940), für mildred bailey geschrieben, hier in der aufgewühlten version von johnnie ray.
„it’s so peaceful in the country“ (1941), auch für bailey, hier von tony bennett gesungen.
„moon and sand“ (1941), ein stück exotica für xavier cugats walldorf-astoria-band, von betty blake und kenny burrell in den 60ern aufgeriffen, so richtig populär aber eigentlich erst seit den 1990ern (die jarrett-version auf STANDARDS 2 kann geholfen haben).
(es fehlt: „who can I turn to“, ein quasi standard, 1941 für peggy lee geschrieben, mit vielen vokal- und intrumentaleinspielungen.)schließlich die beiden hits:
„i’ll be around“ (1943), lange zeit mit zwei falschen harmonien gesungen (auch in der hit-version der mills brothers), bis wilder mit sinatra zusammen nochmal drüber ging. berühmte versionen von billie holiday, zuletzt von m.ward eingespielt, es gibt das auch von miles davis (mit chaka khan), im bft von don shirley, marvin gaye, jimmy scott und marian mcpartland zu hören.„while we’re young“ (1943), etwas später von peggy lee populär gemacht, es gibt ca. 150 aufnahmen, von teagarden und coleman hawkins bis zu jarrett, hier hören wir zwei ungewöhnliche versionen von jimmy smith und charles mcpherson.
„trouble is a man“ (1947), für peggy lee geschrieben, durch die eindeutige geschelchterrollenfestlegung des textes nur instrumental für männer adaptierbar, hier von charlie mariano, gesungen von martha davis (es gibt tolle versionen von sarah vaughan, ella fitzgerald, chris connor, wird bis heute gesungen, z.b. von barber oder mclorin salvant)
„i’ll wait“ (1948), wahrscheinlich ein auftrag für von mitch miller für dianh washington, die hören wir hier, ansonsten finde ich eigenartigerweise nur noch zwei version von sängerinnen nach 1990.
1950er
„the winter of my discontent“ (1954), ein komplexer song mit shakespeare-anleihen, ziemlich nackte verzweiflung und komplizierte melodie, hier eine herausforderung für den arrangeur al cohn für dick collins und auf den punkt gesungen von jackie cain (mit eheman roy kral am klavier), bekannt ist natürlich auch die version von helen merrill (mit dick katz).
„the lady sings the blues“ (1956), wie schon erwähnt: für billie holiday geschrieben, die es aber nicht aufnimmt, sondern eine variation davon mit quasi dem gleichen titel schreibt, cleo laine übernimmt die ersteinspielung des wilder-songs, wir hören die chris-connor-version, stan getz hat den song geliebt und auch eingespielt.
(es fehlt: „where do you go“ von 1959, gibt es von davis/getz, von merrill/katz und von sinatra)
1960er
da gibt es ein paar broadway- und filmsoundtrackflops von wilder und poppige, luftige songs:
„mimosa and me“ (1963), bekannt in der version von jackie & roy, hier vom wenig bekannten sänger/gitarristen eddie hazell.
(weitere songs aus der phase: „remember my child“, „walk pretty“ und „lovers and losers“, gibt es alle von jackie & roy)1970er
mit dem texter loonis mcglohon gibt es eine späte blütezeit, highlights „blackberry winter“ (1976, hier in einer frühen übernahme durch keith jarrett) und „be a child“ (für cleo laine, hier nicht zu hören).
wilders letzte songs waren aufträge für/von frank sinatra, „south – to a warmer place“ und „the long night“, geschrieben kurz vor wilders tod 1980, für sinatras vorletztes album SHE SHOT ME DOWN.
danke fürs mitmachen, @gypsy-tail-wind, @redbeansandrice, @brandstand3000, @thelonica, @friedrich und @wahr. macht doch auch mal wieder einen bft!
p.s. zum thema der queer-männlichen strategien im frühen pop empfehle ich das hier, lese ich gerade, da geht es explizit um johnnie ray und johnny mathis (neben little richard und liberace), aber auch um ihr gemeinsames vorbild jimmy scott. these: sie waren populär wegen und nicht trotz ihres genderbendings.
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WerbungGloria Wood hatte 1958 auf „Wood By The Fire“ eine Version von „The Wrong Blues“. Ich höre den Song gerade, gab es denn noch frühere Versionen? Über Credits von William Engvick findet man ja noch ein paar andere Sachen. Interessante Karriere bei Gloria Wood, abgesehen davon gibt es auch Singles mit Gus Bivona oder Pete Candoli und nur ein (?) Album mit ziemlich edlen Arrangements von Jerry Fielding.
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den song habe ich heute morgen auch gehört, weil ich wissen wollte, ob es überhaupt vokalversion von „the wrong blues“ gibt. sehr interessante aufnahme, gloria wood kannte ich bisher gar nicht. auf jeden fall die ersteinspielung, zwei jahre vor brookmeyer.
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vorgarten
friedrich
02.09. – Keith Jarrett erkenne ich hier an den ersten paar Takten, noch bevor er anfängt mitzusingen. Jarrett und Haden fast im Duo, der von mir sehr geschätzte Paul Motian hätte hier eigentlich auch konsequent einfach die Hände in den Schoß legen können. Wunderschön. Braucht man eigentlich nicht viel dazu zu sagen. Mich verblüfft, das KJ hier eigentlich genauso klingt wie auch 20-30 Jahre später.das finde ich interessant. du kannst ihn vor dem mitsingen eigentlich nur an den arpeggien erkannt haben, die er aber 20-30 jahre später nicht mehr eingesetzt hat. hier sind noch deutliche gospel-pop-einflüsse zu hören, finde ich, die aufnahme klingt auch dreckiger. aber dass paul motian nicht nur swingen, sondern manchmal auch einfach schweben kann, ist doch bekannt?
Rückfahrt über den Brenner zurück nach Berlin.
Arpeggio gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz und ich hätte es vielleicht anders beschrieben: Diese perlenden Läufe, die feinst nuancierten Anschläge, Verzögerungen und Verdichtungen, mit denen Keith Jarrett Spannung, Dramatik und – ja – Sentimentalität erzeugt? Vielleicht habe ich Keith Jarrett tatsächlich aber auch erst am Mitsingen erkannt und gedacht: „Na, das war ja klar!“ Was mir sonst noch auffällt: Hier fasst Keith Jarrett sich ungewöhnlich kurz. Es ist (später) ja keineswegs ungewöhnlich gewesen, dass er einen Standard auf 10-15 Minuten oder sogar mehr dehnt.
Ich hatte im Jazz in den 90ern-Thread mal geschrieben: Paul Motian ist ein lyrischer drummer, oder? Er streichelt das Schlagzeug mehr als dass er trommelt. Ich war mir nicht sicher, ob das eine originelle oder total triviale Feststellung war. Aber es hat sowieso niemand darauf reagiert.
Vielleicht hatte ich bei dieser Aufnahme mit Keith Jarrett nicht so genau hingehört. War nicht zuhause und hörte die Musik im Berggasthof neben dem Ofen sitzend, nippte am Portwein und kraulte gelegentlich die Katze, die neben mir auf der Bank lag. Ich hatte den Eindruck, hier geht Motian noch einen Schritt weiter und – äh … – haucht das Schlagzeug eigentlich nur noch an. Beim wiederholten Hören fällt er mir aber tatsächlich doch etwas mehr auf, wenngleich er auch hier sehr zurückhaltend agiert.
Ergänzung: Und noch mal herzlichen Dank für diesen sowohl konzeptionell starken als auch sehr schönen und ausgezeichnet moderierten Jahresend-BFT!
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)Danke für die tolle Zusammenfassung – und nochmal für den ganzen BFT!
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbafriedrich
Ich hatte im Jazz in den 90ern-Thread mal geschrieben: Paul Motian ist ein lyrischer drummer, oder? Er streichelt das Schlagzeug mehr als dass er trommelt. Ich war mir nicht sicher, ob das eine originelle oder total triviale Feststellung war. Aber es hat sowieso niemand darauf reagiert.das ist halt nur die halbe wahrheit. motian kann sehr laut trommeln, es gibt auch dieses element des zirkus-tuschs bei ihm. und er kann auf außergewöhnliche art swingen. beispiele für beides hatte ich kürzlich mal in diesem post verlinkt.
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