Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Miles Davis › Antwort auf: Miles Davis
30. märz 1974. das new york konzert in der carnegie hall wird von columbia mitgeschnitten, aber nicht direkt veröffentlicht. nachdem AGHARTA und PANGAEA kommerziell hinter den erwartungen zurückblieben, sah man von weiteren live-aufnahmen aus dieser phase erstmal ab. schließlich kam DARK MAGUS 1977 bei cbs-japan heraus, in der rückzugsphase von miles.
für die herausbringung wurde das live-material in mehrfacher hinsicht überarbeitet. aus den üblichen themen und kompositionen („turnaroundphrase“, „tune in 5“, „mr foster“, „ife“, „calypso frelimo“ usw.) wurde eine suite in vier teilen, in swahili „moja“, „wili“, „tatu“ und „nne“ genannt. abgebildet wurden dafür zwei (nicht vollständige) sets. viel interessanter als diese umbenennungen ist aber, wie macero die band abgemischt und das material anschließend bearbeitet hat. de facto baut er einen völlig eigenen artifiziellen raum aus den spuren und nimmt sich darüber hinaus freiheiten in ihrer bearbeitung. hier wird ein trip gebaut, und es ist nicht 1:1 der trip, den die band auf der bühne eingeworfen hat.
grundbaustein, fast wie eine insel, ist michael hendersons minimalistischer bass. al fosters drums sind dahinter und sie schießen von dort aus frontal ins geschehen. eng damit verzahnt ist reggie lucas, bei dem man so zum ersten mal hören kann, wie perfekt er mit dem rhythmus verzahnt ist (in seinem funk-begleitungs-modus; sein zweiter modus sind die ambivalenten harmonischen begleitakkorde, die nach dem modell von miles‘ synthesizer-spiel druck aus der musik nehmen und sie auf ein nebengleis führen). mtumes congas sind stereophonisch verteilt und fungieren wie ein ganzkörperliches rhythmus-bett, quasi flankierende triebwerke, lauter als die drums, die viel eher punktieren als dominieren.
in diesem raum dann die drei solisten – miles ist völlig individuell im mix behandelt, als wandernde stimme im raum, mal vorne mit wahwah den groove kommentierend, mal über allem, effektlos, als himmelwärts gerichteter aufschrei, mal verloren, auratisch, verhallt, hinter der band. wenn liebman ins geschehen eingreift, ist er kaum elektrifiziert, aber sehr laut und mit auratischem hall – endlich wird wieder seine individuelle stimme betont, die im durchwühlen des materials ans tageslicht aufsteigt. ganz anders dagegen pete cosey: dessen verzerrte blues-gitarre wird diversen echo- und hallbearbeitungen ausgesetzt, so dass teilweise kaum mehr zu hören ist, was genau er spielt, sondern er als eketrostatische wellenbewegung in die musik ein- und wieder ausfließt.
fast möchte man sagen: so wird aus dieser band ein schuh. war bisher kein live-mix der welt mit ihr klargekommen, versschafft ihr macero im nachinein den adäquaten klangraum. aber spätestens ab minute 16 in „moja“ passiert noch etwas anderes. nach einem noise-haften cosey-solo werden plötzlich einzelne percussionakzente geloopt. mtumes rhythm machine kommt zum einsatz, aber auch sie wird als space-effekt über die live-musik gelegt. das passiert daraufhin immer wieder – die ohnehin kaum im raum zu verortende percussion von mtume und cosey, verstärkerrauschen (?), manchmal auch stimmen ergeben geloopt eine neue, zusätzliche, außerirdische rhythmische struktur. und die ohnehin angelegten funk- und dub-elemente werden um breakbeats und primitive synth-konserven angereichert.
part2, „wili“ beginnt mit einem unfassbar schweren funk, der so klingt, als sei er bereits von bill laswell geremixed worden. in dessen zweitem teil, die band spielt eigentlich „mr foster“, verdichten sich die verminderten akkorde mit miles‘ tieftrauriger trompete zu einem garagen-sound, der sich fast in sich selbst zurückzieht. und das set, das mit dem vollkraf-funk von „turnaroundphrase“ anfing, immer tänzerischer wurde, schließlich ins weltall abhob, schließt mit glöckchen, rauschen und einem ausvibrierenden bass-ton, ganz tief im keller.
—
dave liebman hat erzählt, wie sehr diese band von internen spannungen gelebt habe. kaum einer war mit den anderen längere zeit als nötig zusammen. miles hätte mtume bevorzugt, der hätte wiederum nur mit reggie lucas zusammen gehangen. pete cosey war komplett für sich, henderson auch. liebman, mit dem kaum jemand außer miles gesprochen habe, fühlte sich isoliert. al foster kam mit der ganzen zusätzlichen percussion nicht klar. miles hätte das alles sehr bewusst so arrangiert, meint liebman, damit die auftritte niemals vorhersehbar und langweilig würden. aber am 30. märz 1974 hat er noch eine weitere idee: beim zweiten set sind plötzlich ein zusätzlicher saxofonist (azar lawrence, vorher bei mccoy tyner) und noch ein weiterer gitarrist (dominique gaumont, den die band in paris kennengelernt hat und der sich, sobald er in new york ankam, bei foster meldete) dabei, die zusammen das konzert der band besuchten und nun ohne probe und absprache plötzlich auf der bühne ins spotlight geraten.
„tatu“ beginnt mit einem von miles auf der orgel angespielten funk-riff. henderson, foster und cosey (auf einem doppelgong) steigen ein – und lucas macht ein bisschen mit. dann gibt es eine pause und gaumont setzt ein – kreissägen-sound, kompressor, ekstase, irgendjemand schreit, miles haut einen orgelakkord rein. die band zwischen orientierungslosigkeit und bereitschaft, jetzt alles loszulassen. eine zweite gitarre kommt dazu (lucas? coseys doppelgong ist noch zu hören), ein erstes duell, macero lässt die sounds zwischen den kanälen wandern. was ist da los? overdubs? was gaumont da anbietet, ist super, unfassbar selbstbewusst, dekonstruktivistisch, flucht nach vorne. miles‘ orgel bietet ihm einen dialog an. dann full stop der band, gaumont darf in die lücke; kreischende sounds, mühsam herausgepresst – und dann kommt lawrence. knarzender tenor-ton, von henderson vor sich her geschubst. das stop and go ist auch für ihn – allerdings steigt liebman mit ein, das nächste duell. die intensität steigert sich sportlich, obwohl nur die halbe band mitmacht – lucas und mtume machen pause.
nach einem unbegleiteten moment von lawrence beruhigt sich alles und mtume und lucas steigen wieder ein, cosey ist wieder geräuschhaft an der gitarre zu hören. lawrence macht weiter mit seinem exstentialistischen solo (ziemlich toll). dann neuorientierung der band, aus pausen, auf zehenspitzen. miles führt in den funk zurück und leitet auf der orgel in den „calypso-frelimo“-teil über. dichte, verzerrte sounds, dann, auf halber geschwindigkeit, ein daumenklavier-solo (!) von cosey, schließlich faded die band in einer art blues aus.
part 4, „nne“, beginnt direkt im weltall. es gibt einen sich verlangsamenden groove, dazu geloopte percussion, die durch die kanäle wandert. cosey oder gaumont solieren dazu, aber dann bleiben die artifiziellen jungle-beats über, in denen das „ife“-thema angespielt wird. auch das liebman-solo wird immer wieder davon überlagert, abgelöst von trippigen orgelakzenten von miles, dann wieder einem gaumont-solo, während die soudlandschaft immer unübersichtlicher wird. was passiert da auf der bühne? egal, gaumont spielt einfach immer weiter. irgendwann ganz viel ruhe, ein miles-solo, ganz bei sich. lawrence übernimmt – und die band prescht plötzlich wieder mit „turnaroundphrase“ los. ausfasern, ein duo mit cosey?, liebman steigt auch ein, gaumont auch, freier jam, ohrenbetäubend. der abend endet mit dem fragezeichen des conga-teppichs von mtume, in den die band noch ein paar mal einsteigt, aber er bleibt am ende übrig, vom applaus umrauscht.
nach diesem konzert bleibt gaumont dabei und die band hat nun drei gitarristen. für azar lawrence war es ein einmaliges gastspiel. und jungle kam dann eigentlich erst in den 80ern.
--