Antwort auf: Jazz-Glossen

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aus einem Interview mit Branford Marsalis in der NZZ, vor ein paar Wochen (vollständig hier nachzulesen) – er spricht ein paar interessante Punkte an (Kamasi Washington, ECM) und ist dabei auch einigermassen polemisch drauf … einen wirklich passenden Thread fand ich nicht, daher hier bei den Glossen:

[…]

Aber als Ritual hat die Jam-Session die Jazzgeschichte doch mitbestimmt?
Bei der Session geht es hauptsächlich um das eigene Solo. Ich orientiere mich aber daran, mit meiner Working-Band eine Musik zu spielen, die als Ganzes stimmig ist. Stücke von einer gewissen Komplexität kann man ohne feste Band nicht spielen. In einer Session würde man sich darauf konzentrieren, keine Fehler zu machen. Das ist wesentlich für gute Musik: Es geht nicht mehr darum, keine Fehler zu machen. Die Kategorie falsch oder richtig lässt man hinter sich, wenn man das künstlerische Material verinnerlicht hat.

Wenn Sie aber immer mit den gleichen Kollegen spielen, lernen Sie wohl kaum jüngere Musiker kennen?
Weshalb sollte ich mit jungen Musikern spielen? Ich bleibe aber in Kontakt mit der jüngeren Generation. Ich gebe Ratschläge, ich unterrichte. Die Jungen haben nicht unbedingt grosse Ideen – dafür viel Enthusiasmus. Bei uns spielt am Schlagzeug übrigens Justin Faulkner, der ist 24-jährig und sorgt bei uns für Enthusiasmus, seit er 18 ist (er lacht).

Sie könnten den nächsten Generationen die Jazzgeschichte näherbringen.
Ich glaube, die sind daran nicht besonders interessiert. Die meisten jungen Musiker konzentrierten sich auf ihre eigenen Ideen. Das ist typisch: Die Jungen denken: Wir haben alle Antworten, wir brauchen nicht auf ältere Leute zu hören. Ich war da allerdings eine Ausnahme. Ich realisierte, dass ältere Musiker unglaubliche Ressourcen bereithalten – davon wollte ich profitieren. Heute bin ich sehr froh über alles, was ich zum Beispiel von Art Blakey gelernt habe.

Lange Zeit war das Saxofon das prägende Instrument des Jazz. Nun aber scheint seine Faszination abzunehmen. In Europa jedenfalls spielen immer weniger Menschen Saxofon.
In den USA aber gibt es Millionen von Saxofonisten. Und für den eigentlichen Jazz wird das Saxofon weiterhin wichtig bleiben. Es wird heute allerdings viel als Jazz bezeichnet, was meines Erachtens mit Jazz nicht viel zu tun hat. Ausserdem wird Musik immer öfter elektronisch produziert. Zeitgenössische Pop-Produktionen sind oft weitgehend synthetisch, die Musik entsteht quasi im Innern des Computers. Das macht sie nicht unbedingt schlecht, aber es bleibt so natürlich weniger Raum für akustische Instrumente wie das Saxofon.

Was halten Sie vom Hype um den kalifornischen Saxofonisten Kamasi Washington, der weltweit ein jüngeres, Pop-affines Publikum abholt?
Mir hat kürzlich jemand gesagt, Kamasi Washington rette den Jazz. Aber das ist natürlich Quatsch! Erstens halte ich seine Musik nicht unbedingt für Jazz – aber das ist egal. Den Jazz aber würde Washington erst dann retten, wenn er seine jungen Zuhörer dazu bringen könnte, ein Album von Louis Armstrong, von Lester Young oder von John Coltrane zu kaufen. Wenn man Jazz für sich in Anspruch nimmt und behauptet, die Zukunft dieser Musik zu sein, dann macht man Werbung für sich, aber kaum für die ganze Jazzkultur.

Sie haben sich früher aber auch kaum um Genregrenzen geschert – mit Ihrer Band Buckshot LeFonque beispielsweise spielten Sie Jazz, Funk, R’n’B . . .
Das war eine Funkband – ich bin eben mit Funk und R’n’B aufgewachsen. Jazz habe ich erst mit den Jahren lieben gelernt. Ich habe aber nie behauptet, mit Buckshot LeFonque spielten wir Jazz. Ich habe auch nicht versucht, den Jazz zu retten. Man hört heute oft, man müsse den Jazz populärer machen. Ich glaube das nicht. Populäre Musik will eben immer hip sein. Jazz aber sollte vor allem gut sein – das ist nicht immer hip.

Es gibt Musiker, etwa den Pianisten Ethan Iverson, die hoffen, dass durch Musiker wie Kamasi Washington die afroamerikanische Tradition im Jazz wieder gestärkt werde – und dass so tatsächlich wieder ein jüngeres, grösseres Publikum für Jazz zu gewinnen sein könnte.
Jazz ist eine afroamerikanische Tradition. Wenn es nicht afroamerikanisch ist, ist es nicht Jazz.

[…]

Was sagen Sie denn zu den Produktionen bedeutender europäischer Jazzlabels – wie insbesondere ECM?
Oft ist das wirklich nicht Jazz. Und ich verstehe gar nicht, weshalb man das unbedingt Jazz nennen soll, aber so what . . . Vielleicht können all diese Musiker nicht Jazz spielen. So spielen sie immerhin, was sie spielen können.

Und wie würden Sie denn diesen einzig wahren Jazz beschreiben?
Oft heisst es, das Besondere am Jazz sei die Improvisation. Dabei wird seit Jahrhunderten in fast allen Musiktraditionen improvisiert. Neu am Jazz ist einzig der Swing – und die verminderte Quinte. Aber ich will gar nicht zu viel über die Musik reden. Ich bin sozusagen ein Troubadour, und solange ich kann, gehe ich hinaus und mache Musik. Und das Publikum schert sich ja eigentlich keinen Deut um Erklärungen. Es ist wie beim Microwave. Wofür ist der gut? Er macht Esswaren heiss. Wie funktioniert er? Ist mir völlig egal!

[…]

Quelle: http://www.nzz.ch/feuilleton/aktuell/interview-mit-branford-marsalis-wenn-zorn-und-trauer-klingen-sollen-ld.86356 (Zugriff am 17. August 2016)

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