Re: Sonny Stitt

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Norman Granz, der Gründer und Produzent von Verve (und davor Norgran und Clef Records) war immer schon ein Fan von Jam Sessions. Schon in den 40ern veranstaltete er Konzerte, die unter dem Etikett „Jazz at the Philharmonic“ für Aufsehen sorgten – aber auch für Ablehnung von Seiten der soignierteren Jazz-Kritik. Jam Sessions organisierte er immer wieder auch im Studio, und Mitte der 50er Jahre hatte er so viele gestandene Jazzer bei seinem Label wie kein anderer es je hatte. Da waren alte Kämpen wie Coleman Hawkins, Lester Young, Ben Webster, Benny Carter, Johnny Hodges, Roy Eldridge, Harry „Sweets“ Edison, Teddy Wilson, Art Tatum oder Lionel Hampton und jüngere Musiker wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Oscar Peterson oder Stan Getz. Granz nahm von 1952-54 eine Reihe von Studio Jam Sessions auf, die als „Norman Granz Jam Sessions“ bekannt wurden und auf neun LPs erschienen.

Auch in den Jahren danach fanden unter Granz‘ Leitung regelmässig Jam Sessions statt, die extra für Platten-Aufnahmen einberufen wurden. Sonny Stitt nahm in den Jahren 1956 und 1957 an vier solchen Sessions Teil, die alle unter der Leitung seines alten Chefs Dizzy Gillespie stattfanden. Die erste wurde am 12. Januar 1956 in New York aufgezeichnet und später unter dem Titel The Modern Jazz Sextet veröffentlicht.
Gillespie ist in grossartiger Form, kaum setzt er die Trompete an, sprühen förmlich die Funken. Stitt ist in der Frontline hier quasi der ruhende Pol, der Stabilität vermittelt neben dem rasenden Gillespie. Nach „Tour der Force“ – der Titel sagt schon alles über die Musik – und „Dizzy Meets Sonny“ folgt ein Balladen-Medley: Stitt spielt „Old Folks“, John Lewis folgt mit „What’s New“ und Dizzy endet mit „How Deep Is the Ocean?“. Dann folgt der alte Klassiker „Mean to Me“ und zum Abschluss „Blues for Bird“. Die Rhythmusgruppe besteht neben Lewis aus Skeeter Best (g), Percy Heath (b) und Charli Persip, dem damaligen Drummer von Dizzys Band.
Das Album brauchte bei mir lange, um einzusinken – zu leicht war es, mit einem Schulterzucken zu sagen: „halt noch ein Bebop-Album“. Hört man richtig hin wird man allerdings belohnt: nicht nur ist Dizzy in stupender Form, auch Stitt (er spielt nur Altsax) trägt schöne Soli bei und die Rhythmusgruppe swingt sehr solide. Lewis ist für diese Art orthodoxen Bop ein sehr toller comper, er gefällt mir auch auf den Savoy-Sessions mit Parker hervorragend – und natürlich ist er ein toller Solist, der glasklare phrasiert und auf eine feine Art hart swingt. Heath und Persip ihrerseits gehören zu den unterschätzteren Musikern jener Zeit, werden selten wie es ihnen gebührt neben Paul Chambers oder Philly Joe Jones genannt. Skeeter Best bleibt – wie irgendwie fast immer, wenn er auftaucht – seltsam unbeschrieben… bestimmt ein guter Musiker (man kann das z.B. auf den Trio-Sessions von Lucky Thompson mit Oscar Pettiford hören), aber keiner, der es vermochte, den Sessions, an denen er beteiligt war, einen Stempel aufzudrücken oder sie zu prägen. Im Blues für Parker spielt er allerdings ein schönes Solo und lässt durchblicken, dass ihm auch die Bluesgitarre keineswegs fremd war.

Am 16. Oktober 1956 trafen in Los Angeles erneut Gillespie, Stitt und Lewis zusammen. Das Septett bestand zudem aus Stan Getz, Herb Ellis, Ray Brown und Stan Levey. Das Resultat heisst For Musicians Only. Stitt beschränkte sich erneut aufs Altsax und spielt auf dem rasanten Opener „Bebop“ ein tolles Solo, das die Messlatte hoch legt. Für Gillespie und Getz ist das allerdings nicht weiter ein Problem. Levey treibt die Band mit einem festen aber leichten Beat – er war einer der ersten Drummer, die die Neuerungen von Kenny Clarke und Max Roach übernahmen und spielte schon 1945 mit Charlie Parker (und dürfte damit einer der ersten Weissen im inner circle des Bebop gewesen sein). Getz folgt mit einem leicht verhangenen Ton, zum Abschluss gibt es ein paar Runden exchanges von Dizzy und Levey.
Es folgt „Dark Eyes“, ein altes russisches Stück, das viele Jazzer gerne spielten. Über gestrichenen Bass und Gitarren-Arpeggios spielt Gillespie das Tempo im Rubato. Dann fällt die Band ein und die Saxophone spielen über Leveys entspannten Latin-Beat eine Gegenmelodie. Getz bläst das erste Solo, der Beat wechselt in einen relaxt swingenden 4/4 und Getz dreht rasch auf. Er war wohl irgendwie in einer Art Interregnum, die grossen frühen Aufnahmen hatten schon fast ein Jahrzehnt davor begonnen, die Band mit Bob Brookmeyer war auch schon wieder Geschichte, bis zum Bossa Nova vergingen nochmal sechs, sieben Jahre… im Vorjahr war er in Schweden und nahm dort ein schönes Verve-Album mit Bengt Hallberg auf, in die Zeit von „For Musicians Only“ fallen aber auch die nicht so bekannten West Coast Sessions mit Lou Levy, Leroy Vinnegar, Shelly Manne bzw. auf der letzten Session Stan Levey sowie Conte Candoli in der ersten Session, die auf dem Album „West Coast Jazz“ zu hören ist. Die beiden anderen Alben heissen „The Steamer“ und „Award Winner“, diverse weitere Tracks sind auf „Getz & The Cool Sounds“ und anderen LPs erschienen – Getz war jedenfalls in phänomenaler Form. Stitt steht ihm kaum nach, wirkt enorm fokussiert, sein Ton voll zwar, aber an den Rändern weich, die Artikulation zwar sehr präzise aber auch sehr sanft. Es scheint Stitt gut getan zu haben, mal nicht den einsamen Wolf spielen zu müssen! Für den Auftakt von Gillespies Solo wechselt die Rhythmusgruppe in eine Art montuno, während Ellis seine patentierten Hufschlag-Sounds zum besten gibt. Auf der CD it zudem ein etwas kürzerer Alternate Take des Stückes zu finden, den Phil Schaap bei den Vorbereitungen für die CD von 1989 ausgegraben hat (ich hab’s bisher nie für nötig befunden, die Verve Master Edition Ausgabe des Albums zu kaufen).
„Wee“ von Denzil Best ist der zweite Bop-Knaller, mit demm die zweite Seite des Albums beginnt. Wieder spielt Getz das erste Solo und sein Einstieg, direkt aus dem Thema heraus, ist pure Magie! Gillespie folgt und spielt ein unglaubliches Solo, sprühend vor Ideen und rhythmischen Impulsen. Er war in jener Zeit mit Sicherheit der beste Trompeter des Jazz! Stitt folgt und nimmt die Herausforderung nur zu gerne an – auch sein Solo ist voller Überraschungen, wenngleich rhythmisch viel organisierter als Dizzy, bei dem man manchmal das Gefühl kriegt, er könne zu jedem Zeitpunkt in absolut jede Richtung explodieren.
„Lover Come Back to Me“ wird wie üblich im breackneck Tempo gespielt. Aber zunächst präsentiert Gillespie im Rubato und begleitet von gestrichenem Bass und einigen Piano-Akkorden das Thema. Getz übernimmt für ein Intermezzo, bevor das Rubato mit Gillespie zurückkehrt und das Thema abgeschlossen wird. Und danach ist kein Halten mehr… Stitt bläst ein unbegleitetes break und startet ein rasantes Solo, gefolgt von Dizzy und Getz.

Im Dezember ging Gillespie zweimal mit denselben Leuten ins Studio: Sonny Rollins, Sonny Stitt, Ray Bryant, Tommy Bryant und Charli Persip. Stitt spielte dieses Mal fast nur Tenorsax. Am ersten Tag, dem 11. Dezember, spielte Gillespie im Duets mit Rollins oder Stitt. Das Album bestand wieder aus vier längeren Titeln, Rollins ist auf Seite 1 zu hören auf „Wheatleigh Hall“ und „Sumpin'“, Stitt auf Seite 2 mit „Con Alma“ (+ alt tk), „Haute Mon'“ sowie dem Outtake „Anythin'“.
Persip eröffnet das exotisch klingende „Weatleigh Hall“ (irgendwas zwischen Wolga und Havah Nagilah?) mit einem zickigen Beat, aber rasch wechselt die Rhythmusgruppe in 4/4. Tommy Bryants Beat bleibt jedoch spürbar rauh, altmodisch mit viel „boom“ und Pausen zwischen den Tönen. Ray Bryant erdet die Musik enorm, sein bluesiges Spiel ist sofort bemerkbar. Rollins hebt zu einem grossartigen Solo an – die Alben vor und nach diesen Sessions waren immerhin „Saxophone Colossus“ und „Freedom Suite“, er war zwar erst 27 Jahre alt aber bereits ein gestandener Musiker von grosser Reife. Gillespie folgt und scheint von Rollins‘ motivischer Improvisation einiges abzuschauen.
„Sumphin'“ ist wie der Titel erahnen lässt ein langsamer Blues. Nach einem Intro in 4/4 fällt die Rhythmusgruppe in 2/2 für die Unisono-Präsentation des Themas durch Dizzy und Sonny – ein klassischer Hardbop-Groove, den Bryant mit amen-chords untermalt. Bryant spielt dann auch das erste Solo, anfänglich begleitet von Riffs der beiden Bläser und dem riesigen Ton seines Bruders am Bass. Dann folgt Rollins mit riesigem Sound. Er steigt mit einer ganz simplen Phrase ein und lässt sich alle Zeit der Welt, sein Solo zu entwickeln. Grossartig, wie er der Rhythmusgruppe Raum lässt und langsam die Intensität steigert, seine Linien beschleunigt und verdichtet, aber nie den riesigen Sound aus den Augen verliert. Gillespie folgt, steigt verspielt ein und sprüht schon bald wieder nur so über vor Ideen. Aber auch er spielt immer wieder mit einfachsten Phrasen und Ideen. Dann riffen Sonny und Dizzy zusammen ins Thema zurück, das wieder von einem fetten Backbeat von Persip und rollendem Piano von Bryant begleitet wird.
„Con Alma“ war natürlich 1957 schon ein Gillespie-Klassiker. Die fliessende, leicht melancholische Linie mit der zweiten Stimme, die zwischen Gegenmelodie und Harmonie schwankt wird vom üblichen ausgespaarten Latin-Beat begleitet. Auf der CD ist zuerst der damals neu gefundene Alternate Take programmiert, der etwas kürzer ausfällt. Stitt bläst muskulös, man hört gerade neben Rollins (und zuvor Getz) seinem Tenor die Wurzeln bei Lester Young deutlich an, es wird aber auch klar, dass er seinen eigenen Ton gefunden hat. Der Latin-Beat zieht sich durch sein Solo durch, Gillespie fällt zwischenzeitlich mit leisen Riffs ein, derweil Stitt double time Phrasen aneinanderhängt, dabei aber nie den melancholischen Unterton des Themas aus den Augen (oder eher: den Ohren) verliert. Dizzys Solo ist zwar sehr schön, aber es klingt auch irgendwie seltsam vertraut, als reihe er in diesem Stück stets die selben Versatzstücke aneinander. Beim Übergang zu Ray Bryants Piano-Solo gibt’s ein paar rhythmische Unsicherheiten zwischen Persip und Tommy Bryant.
Im Master Take spielt Persip den Beat von Beginn an mit einem offeneren Sound (und einem Shaker wohl?). Dizzy entfernt zudem kurz vor Ende des Themas seinen Dämpfer, aber es ist wieder Stitt, der das erste Solo spielt. Dizzy folgt, sein Solo wirkt etwas frischer aber auch lyrischer, linearer. Die rhythmischen Unsicherheiten sind hier zudem verschwunden und Ray Bryant kann sein Solo ganz ohne Probleme in Angriff nehmen.
Von der Stitt-Hälfte der Session hat Phil Schaap wie erwähnt neben dem alternate take von „Con Alma“ noch ein neues Stück gefunden, als er die CD-Ausgabe von 1988 einrichtete. Er berichtet in den Liner Notes, dass die Verve-Logs ein „untitled themeless blues“ als alternate take von „Haute Mon'“ verzeichneten. Das Stück ist aber ein anderes, und so habe er im April 1988 Dizzy informiert. Dieser habe ihn gefragt, warum er sich sicher sei, dass es kein alternate take sei (es ist in F-Dur, „Haute Mon'“ ist in G-moll). Dann habe Schaap ihn gefragt, wie er das Stück nennen sollte, worauf Dizzys Antwort lautete: „Anythin‘, ha, ha.“ Das Stück ist ein groovender Blues und das einzige Stück von den Dezember 1957 Sessions mit Dizzy, das Stitt am Altsax präsentiert. Gillespie öffnet a cappella, Stitt gibt ihm Antwort und die beiden spinnen einen Dialog, der sich zu einer kurzen Kollektivimprovisation steigert, als die Rhythmusgruppe einsteigt. Gillespie spielt das erste kurze Solo, dann folgt Stitt. Sein Ton auf dem Alt ist satt und seine Phrasierung fast wie am Tenor, leicht träge, aber stets bereit, loszurennen. Sehr effektvoll, wie Tommy Bryant zu pedal points übergeht, während Stitt (und mit ihm Persip) das Tempo verdoppeln. Gillespie folgt dann mit einem grossartigen zweiten Solo und auch Stitt kehrt zurück, dieses Mal am Tenorsax. Gillespie rifft leise unter ihm und bläst dann lange liegende Töne. Bryant spielt ein viel zu kurzes Piano-Solo mit toller Begleitung von Bruder Tommy am Bass, bevor diese tolle Nummer endet.
Der Closer des Albums, der Blues „Haute Mon'“, ist von einer leicht mysteriösen Aura umgeben. Persip spielt zum Auftakt Kesselpauken und trommelt dann einen Latin-Beat, der sich mit dem rennenden Bass und den kontrapunktischen Linien von Trompete, Tenorsax und Piano verzahnt. Rhythmisch bleibt das Konstrukt auch unter den Soli erhalten. Der Kontrapunkt fällt zwar weg, dafür streut Bryant „amen“-Passagen ein. Tommy Bryant spielt mitten drin auch ein Solo, während Persip den Beat etwas variiert und auflockert. Es folgt dann wieder eine längere arrangierte Passage mit Ausbrüchen der Bläser und Varianten von Persip (da ist auch wieder dieser Shaker… hat da noch jemand mitgeholfen? Sonny Rollins vielleicht?). Am Ende wird die Musik quasi Schritt für Schritt langsam heruntergefahren, bis nur noch der Bass und die Kesselpauken übrig bleiben. Ein sehr toller Closer für ein tolles und zu unrecht völlig verkanntes Album, das durch den Bonustrack „Anythin'“ sehr dazugewinnt.

Das vierte und letzte Album der kleinen Reihe entstand am 19. Dezember mit exakt derselben Band, aber dieses Mal war Dizzy quasi der Gastgeber einer tenor battle – und was für eine! Doch dazu morgen mehr…

Eine kleine Fussnote zu den Covers noch: Es ist, als seien die vertauscht worden – auf „Duets“ sind zwar alle drei Protagonisten gemeinsam spielend abgebildet, aber sie spielen eben nur auf „Sonny Side Up“ wirklich zusammen. Und dort sind die beiden Sonnys auf kleinen Fotos neben dem grossen von Dizzy abgebildet, quasi jeder in seiner eigenen Schublade, gerade so wie die Musik auf „Duets“ organisiert ist. Was man sich da wohl überlegt hatte?

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