Re: Gustav Mahler

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In der Mahler-Strauss-Frage geht es mir ganz wie katharsis – ich bin noch nicht darauf gekommen, Strauss in irgend eine Verbindung mit Mahler zu bringen. Musikalisch ist mir das (S., nicht M.) eher verschleiert. Dass Ross – ich kenne das Buch nicht, finde die zitierten Zeilen aber stilistisch einigermaßen seltsam, und also auch inhaltlich bedenklich – davon spricht, dass Mahler über Straussens, seines »Antipoden«, Tod betroffen war, sagt wenig. (Ich füge jetzt nicht immer hinzu, dass das meine Meinung ist und mir jede persönliche Verletzung ganz fern liegt.) Aus der Vogelperspektive von Ross – da er sie in der zitierten Stelle eingenommen hat, glaube ich nicht, dass er auch anders kann – erschließt sich immer einiges, man rast so übers Feld und will die Maus. Die Geschichte der Kunst – damit meine ich für den Moment auch die Geschichte der Musik und Literatur – ist voll von seltsamen persönlichen Beziehungen. Seltsam aber nur deshalb, weil die Konstellation, in der die Leute sich befanden, nicht geradewegs nachzuvollziehen ist. Wie auch? Dass z. B. Hölderlin Bitt- und Werbebriefe an Schiller und auch Goethe geschrieben hat, ist in ästhetischer Hinsicht nicht zu verstehen. Individualpsychologisch aber ganz sicher – weil es nämlich so war. Nur: Wie schneidere ich mir die Psyche eines Musikers zurecht? Eine Aussage wie die, dass Mahler sich einer »antiquierten christlichen Moral unterworfen habe«, ist mimosenhaft. Um 1900 lag es in der Luft, die voll war von Nietzsche, obwohl der am Ende sich meist im Bett aufhielt, sich in irgend ein Neuland zu begeben. Das tut es individuell zwar meist, aber wenn der Drang zu Neuem kollektiver Schrei wird, verändert – und vernebelt – das manchmal auch die Individuen. Und dann gibt es noch das Tagebuch- und Briefphänomen: Selbst ein Bekenntnis, schonungslos und wahr, so offen, wie noch nie jemand über sich geschrieben habe und also so, wie es tatsächlich um einen steht, schreiben zu wollen, kann nicht davor schützen, die Dinge zu verfärben. Mon coeur mis à nu? Warum nicht, aber was wir bekommen, ist eben immer nur das krumme Holz des Lebens. Zu Argumenten taugt es meistens nicht. Man könnte sich ja auch leicht über die Beziehung Mahlers zu seiner Frau aufregen, so oder so, je nach Laune. Aber dann: wozu? Dass Mahler einmal in einem symphonischen Satz die Alma porträtieren wollte, ist so ziemlich die letzte Erkenntnis, die sich mir musikalisch erschließen wollte. Trotzdem wird Mahler recht haben – nur nicht für uns, um Kafka zu variieren.

Haben wir nicht mehr davon, Bergs Orchesterstücke zu hören und auch die Anhänglichkeit darin an Mahler VI? Man sollte die Sache auch einmal herunterbrechen auf die Tatsache, dass die, die wir heute groß verehren, zunächst einmal Gymnasiasten (nichts gegen andere Schulformen …) und Studenten waren, die sich etwas suchten. Heraussuchten. Und was man nicht alles finden, inzwischen: ergooglen, kann! Dass die Leute der Zweiten Wiener sich kaum einkriegen, wenn es um Mahler geht, dürfte auch damit zu tun haben, dass der Mann überhaupt als störrisch, unerbittlich und natürlich – das fehlt nie in Künstlerbiografien – schwierig bekannt war. Das zieht an, und ich muss auch nichts Verwerfliches daran finden. Am Ende steht das Werk, aber die Biografie mit ihm in Beziehung zu setzen, ist nicht leicht. Umgekehrt – davon leben die Verkaufskataloge – geht es aber noch weniger, will man es ästhetisch, meinetwegen auch: human, fassen.

Die Standpunkte von Mahler und Strauss scheinen mir unvereinbar. Angenommen, sie fänden sich in einer Talkshow wieder: Strauss würde brillieren, Mahler die Brille putzen und dann sich unbeliebt machen. Der kleine Haken an dem Vorschlag ist, dass es keine Talkshows gab. Man korrespondierte und las Zeitung – es blieb also viel Zeit, sich selbst zu entwerfen und zu formen. Und das ist immer seltsam – die Besänftigung über diese Irritation besteht gewöhnlich darin, den Betreffenden nett, sympathisch oder liebenswert zu finden; wird es ernst, liebt man ihn eben wirklich.

Gut. Mag Mahler also christlich gewesen sein, da er seinen Feind liebte, als er starb. Es gibt ja schöne Lieder von beiden, um konkreter zu werden. Die sogenannten vier letzten von Strauss sind schön – gerade in den Karajan-Fassungen. Nun sind aber auch die Kindertotenlieder schön (da gibt es aber keinen Karajan, glaube ich). Der Unterschied besteht darin, dass Mahler auch von Messern gesungen hat, und der wäre ein Hund, der es sich für alles Weitere, was er täte, nicht merkte. Mahler hat es sich gemerkt und die Tatsache, dass das verdammte Adagietto aus V das beliebteste seiner Stücke ist, zugleich aber man sich darüber belehren kann, dass dieses Ding eine werkimmanente Parodie ist, zeigt, dass etwas nicht stimmt mit Mahlers Schönheit. Ich glaube, ich sollte es kurz machen und vorschlagen: M., scheint mir, kämpft mit der Ironie – zu bändigen ist sie aber nicht, wenn man sie einmal entdeckt hat.

Kurz zu den Empfehlungen in diesem Thread, denen ich manches Mal zustimmen möchte. Ich greife einmal heraus: Mahler II, 1 konnte ich mit Abbado (Luzern) nachvollziehen, den Rest nicht mehr. Den dritten Satz habe ich überhaupt erst durch Stokowski (1963) kapiert, der mir dann auch das Weitere hörbar gemacht hat. Abbado kann ich ansonsten nur mit VII hören, I gefällt mir von ihm nicht, und ebensowenig von Solti. Gerade für die erste Symphonie (und die fünfte) möchte ich einmal den vernachlässigten Inbal stark machen – es gibt eine Gesamteinspielung von ihm, die das Schöne an sich hat, nicht aufdringlich zu sein: Es ist alles zu hören, und man hat die Freiheit, mehr zu wollen. Die ich aber also bei Solti nicht suchen würde, bei Kempe (hat er Mahler dirigiert?) und Reiner schon eher, gewiss aber bei Mitropoulos in I, Zender, Gielen und auch Boulez bei VI, Neumann und vor allem bei Barshai in V (Barshai hat X auch selbst rekonstruiert und eingespielt, geht weit über Rattle und Ormandy/Cook hinaus). Rattle mag, wie Napoleon sagt, ein Betriebler sein, aber die IX sollte irritieren. IX auch sehr gut mit Paavo Järvi, weiß aber nicht, ob es sie schon auf CD gibt. Dann fehlte mir unter all den Namen Hans Rosbaud. Auch hier VII und IX. Karajan ist in meinen Augen allenfalls interessant, aber das ist, gegen Schlegel, kein ästhetisch relevantes Kriterium mehr (Schlegel kannte die Werbewelt noch nicht.) – Horenstein kenne ich nur mit dem Lied von der Erde und mich wundert nicht, dass er in den Listen so oft genannt wird. – Die beste Voraussetzung für Mahler ist aber womöglich, keine Musik mehr hören zu können.

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