Antwort auf: Enja Records

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gypsy-tail-wind
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Ich hoffe, es ist okay, dass Du @redbeansandrice hier zum Thread-Ersteller wurdest – es wäre mir etwas gesucht vorgekommen, bis zu meinem ersten Post oder gar dem zum ersten Album zu warten und die davorgehenden drüben zu lassen!

Ich mache noch etwas weiter:

Walter Norris / George Mraz – Drifting | Ein Album, das ich liebe, seitdem ich es entdeckt habe, was wohl ca. 1997/98 oder so gewesen sein dürfte, in der Ausgabe unten aus der „25th Anniversary Series“ (1991), die damals noch in den Läden herumstand, mit Pappschuber drumrum. Im Booklet gibt’s neben ein paar Statements über Norris (geboren 1931 in Little Rock) von Whitney Balliett, Leonard Feather, Gary Giddins und Andrew Sussman auch einen neuen Text von Arnold Jay Smith. darin steht u.a., dass Norris der einzige Pianist sei, der mit Ornette Coleman aufgenommen habe. Wenn man es genau nimmt, hat nicht Paul Bley mit Ornette sondern dieser mit Bley gespielt, und die Aufnahmen mit Geri Allen und Joachim Kühn gab es 1991 noch nicht. Was Norris hier genau macht, verstehe ich bis heute nicht, aber wenn ich das beschreiben müsste, würde ich wohl eine Art Synthese der Linearität von Lennie Tristano mit dem eleganten Swing von Teddy Wilson und dem Impressionismus von Ravel und Debussy beschreiben, dazu kommt eine Umsetzung, die in ihrer Logik und Stringenz an manche (vermutlich ausgearbeiteten) Soli von Oliver Nelson erinnert, eine Zielstrebigkeit und Folgerichtigkeit, die verblüffend ist. Für meine Ohren ist das völlig eigenständige Musik, ich kenne nichts Vergleichbares.

Es ist dabei nicht so, dass Norris nicht seine Sporen abverdient hätte und die üblichen Jazz-Credits gesammelt hat (ich fleddere den Text von Smith): intermission pianist im Playboy Club in New York von 1960-62, danach dessen Haus-Pianist und musikalischer Leiter bis 1970, ab 1973 Pianist mit dem Thad Jones-Mel Lewis Jazz Orchestra, inkl. Touren durch die USA, Europa, Japan und die UdSSR und Aufnahme von „New Life“ (Horizon). In der Zeit im Playboy Club lernte er bei Heida Hermanns von der Manhattan School of Music, eine aus Deutschland stammenden Lehrerin, die ihm Musiktheorie, Interpretation, Harmonie und die Klassik des 20. Jahrhunderts beibrachte. 1976 verliess er die Jones-Lewis Band und machte sich selbständig, „Drifting“, das schon im August 1974 in den Trixi Studios in München entstand, war ein erstes Ergebnis. 1976 trat Norris in Rotterdam, Kongsberg und Molde bei den Festivals auf, spielte zurück in den USA kurze Zeit mit Mingus und zog dann nach Berlin, wo er mit der Radioband des SFB spielte und rund um die Uhr einen grossen Bösendorfer nutzen konnte, auch nachts, ohne jemanden zu stören. „Synchronicity“ mit Aladar Pege entstand im Mai 1978 beim Jazz-Ost-West-Festival in Nürnberg, 1980 folgte „Winter Rose“, wieder mit Pege, aber im Studio aufgenommen. Auf Enja ist er zudem auf Alben von Chet Baker und Herb Geller zu hören (kenne ich beide nicht), 1990 brachte er seinen Eintrag der „Live at Maybeck Recital Hall“-Serie bei Concord heraus (kenne ich auch noch nicht), 1991 folgte ein starkes Album im Quartett mit Joe Henderson, Larry Grenadier und Mike Hyman („Sunburst“, auch bei Concord) – es sah also um den Dreh rum, als Smith seinen Text schrieb, grad ziemlich gut aus für Norris. Aber allzu viel folgte dann nicht mehr: noch zwei Alben für Concord (zwischen Maybeck und „Sunburst“ gab’s auch noch eins, fünf insgesamt), danach wurde es stiller, bis Norris 2011 in Berlin starb.

Auf dem CD-Reissue von „Drifting“ sind noch drei Bonustracks zu finden, die vom Konzert stammen, bei dem „Synchronicity“ entstand. Nach dem Titelstück folgen „Spacemaker“ und „Drifting“, wobei letzteres auf dem Album nicht zu hören ist (die anderen die A-Seite bilden; auf der B-Seite der LP finden sich „Escalator“ und „Romance“). Da es dazu keinerlei Kommentare gibt, ist das ordentlich verwirrend. Jedenfalls habe ich „Winter Rose“ auf CD (die Chance, dort den Rest von „Synchronicity“ zu verwursten, wurde vertan, obwohl das dort ja auch wirklich gepasst hätte), aber „Synchronicity“ kenne ich wie gesagt nicht. Unabhängig davon ist „Drifting“ das Album, das sich in mein Hirn eingebrannt hat und mir bis heute wahnsinnig gut gefällt – besser auch als die Bonustracks, bei denen ich inzwischen angekommen bin. 1979 sah dann auch die Cover-Art von Enja ganz anders aus:

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