Antwort auf: Deutscher Jazz der Siebziger / Krautjazz

#12112859  | PERMALINK

redbeansandrice

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ich poste das mal hier statt im Hoerthread, deutscher Jazz ca 1970, und ein etwas laengerer post… bloss weder Kraut noch Empfehlung…

AMIGA 8 55 149 – Jazz

In einer Diktatur leben bedeutet vieles… Zum Beispiel: wenn der Herr Gerlach aus der Leitung der zentralen Arbeitsgruppe Tanzmusik des Staatlichen Rundfunkkomitees dich fuer sein Lyrik & Jazz Konzeptalbum gewinnen will, kannst du dir ein Nein kaum leisten… „Neben dem Schlager galt sein besonderes Interesse der sich entwickelnden Beat-Musik“ heisst es in Herrn Gerlachs Wikipedia-Eintrag, der Titel „Die Junge Welt Ist In Berlin Zu Gast“ duerfte eines seiner sichtbarsten Werke gewesen sein… Aber sozialistische Gedichte ueber Jazz verfasste er auch… Sozialistisch heisst, in dem Fall, dass alles von den aeusseren Umstaenden gepraegt ist… dass sich aus dem rassistischen Umfeld die Suchtproblematiken entwickelt haben, aus denen der Bebop entstand, liest man noch vergleichsweise haeufig, wenn auch selten in dieser Deutlichkeit… aber dass die Musik von Chick Webb sich aus dessen Behinderung ergab, ist bestimmt nicht das erste, was mir einfallen wuerde… Stilistisch bewegt sich Herrn Gerlachs Lyrik irgendwo zwischen einer humorlosen Version von Bertolt Brecht und einer Holzhammerversion von Georg Trakl…. „der Hunger ist ein mieser Kerl“ ist die Zeile, an die ich mich am besten erinnere, aus seinem Gedicht ueber Bessie Smith, die kommt gleich mehrfach… und da war irgendwas mit Elektronenhirnen in seinem Gedicht ueber Lennie Tristano… die ertraeglichsten Momente sind jedenfalls die etwas abstrakteren, die ueberwiegend von Drogenerfahrungen handeln… (historische Randbemerkung: Kokain bei der Original Dixieland Jazzband hat mich ueberrascht… ob das mal nicht frei erfunden ist). Selber vorlesen muss Herr Gerlach hier natuerlich nichts, neben den besten Jazzmusikern der DDR hat er auch zwei ihrer besten Schauspieler gewinnen koennen Gisela May (fuer Wessis: die Mutter aus „Adelheid und ihre Moerder“) und Fred Dueren (der seine Sache im Rahmen der beschraenkten Moeglichkeiten extrem gut macht).

Genug schlechtes ueber einen anderen Jazzfan gesagt, der Gerlach mutmasslich war, warum sonst ein Album wie dieses… Die beteiligten Jazzmusiker wie Friedhelm Schoenfeld, Hubert Katzenbeisser, Klaus Koch, Guenter „Baby“ Sommer durften wenig spaeter eine ebenfalls „Jazz“ betitelte Split-LP aufnehmen, fuer die sich der Unfug hier absolut gelohnt hat, falls er denn noetig war… Hier begleiten sie Lesungen von sehr unterschiedlichen Gedichten, kriegen aber doch immer wieder ganze Minuten, in denen sie frei aufspielen koennen… Wenn man sich die Titel der Gedichte ansieht, koennte man erwarten, eine grosse Bandbreite an Jazzstilen zu hoeren, Bessie Smith, Blind Boy Fuller, Pinetop Perkins, Billie Holiday, Miles Davis… Tatsaechlich ist die Musik fast durchgaengig Hard Bop, sehr gut gemacht, fur Charlie Parker gibt es Bebop, fuer Django Reinhardt ein Basssolo und fuer Lennie Tristano einen Track, der nahelegt, dass Schoenfeld sich als Saxophonist bei Mingus extrem gut gemacht haette… einzig der Pianist Bernd Wefelmeyer („Gemeinsam mit den Puhdys, Karat, Silly & Anna Loos, Ute Freudenberg, Veronika Fischer und dem Filmorchester Babelsberg präsentierte er die Produktion Ostrock in Klassik (CD, DVD und Konzerte). 1986 erhielt er den Kunstpreis der DDR.“ steht bei wiki) fuehlt sich gelegentlich in der Pflicht, Boogie Woogie Piano zu spielen… Manchmal wuensch ich mir, ich waer jemand, der eine Platte wie diese einfach im Laden stehenlaesst…

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