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Anonym
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@plattensammler
Dem stimme ich teilweise zu. Veränderungen von Kunstwerken gab es immer.
Nur hat sich unser Verständnis davon, was ein „Original“ ist und dass es sowas wie ein „Original“ gibt, eben historisch verändert durch technische Entwicklungen. Bei der Bibel bildete sich die Vorstellung eines „Originals“ erst über Jahrtausende heraus, und das, was heute viele für das „Original“ halten, ist ja eher die Fiktion eines Originals. Bei Thomas Mann sieht es hingegen anders aus, es gibt zumindest eine vom Autor abgesegnete Erstausgabe. Wir tapern also nicht durch den Nebel, wenn wir eine Urform von den Buddenbrooks suchen.
Und deshalb können wir uns heute all die Fragen stellen, um die es in diesem Thread geht: Welche Änderungen kommen uns – wobei Du vielleicht zu anderen Antworten kommst als ich, und das ist okay! – nachvollziehbar vor und bei welchen sprechen wir von Verhunzung, ideologischer Umschreibung oder Verfremdung eines kulturellen Artefakts, das genau mit den einzelnen Worten, die es wählt, den Referenzpunkten, auf die es sich bezieht, den Themen, die es erörtert, den Standpunkten, die es artikuliert, ein authentischer Ausdruck eines Individuums in einer bestimnten Zeit ist und eine Position im Kontinuum kultureller Entwicklung besetzt?
Daran nachträglich rumzuschrauben, kann dann für den einen „in Ordung“ sein und für den anderen „problematisch“. Und natürlich hängt die Beurteilung auch von den Motiven ab, die hinter einer Veränderung stehen.
Aus Moby Dick eine 200seitige Jugendbuchfassung zu machen, kann dann zum Beispiel voll okay sein – wenn aber der monumentale Originaltext verschwände, weil in allen Ausgaben alle heute sperrig, schwer verständlich oder anstößig wirkenden Passagen getilgt würden, wäre das ein katastrophaler kultureller Verlust.
In diesem Sinne: Der Satz „Veränderungen gab es schon immer“ hilft für eine differenzierte Debatte ebenso wenig weiter wie der Satz „Veränderungen sind des Teufels“.
Mein Wunsch bei all dem: Wir sollten nicht bloß deshalb, weil mit dieser Debatte rechte Hetzer gegen „wokeness“ ihr politisches Süppchen kochen, darauf verzichten, die Debatte zu führen und dabei neben den verbrieften Rechten des Buchmarkts auch die unverbrieften Rechte des Kunstwerks im Auge behalten.
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