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Anonym
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latho Das kommt ein bisschen darauf an, was man unter Genozid versteht. Während es heutzutage anscheinend bedeutet, das viele Leute gestorben sind, ist ein Genozid für mich ein zentral gesteuerter Versuch eine gewisse Volksgruppe auszulöschen, der zumindest teilweise gelingt. An den nordamerikanischen Eingeborenen gab es Massaker (ja, Dee Brown habe ich auch gelesen, allerdings ist der auch an der „Hippiesierung“ der Indianer mitschuld), Vertragsverletzungen, ethnische Säuberungen, aber keinen Genozid. […] Recht gut dargestellt hier.
Das Thema hat mir keine Ruhe gelassen, weshalb ich nochmal Dee Brown aus dem Schrank geholt und vor allem das deutlich jüngere Standardwerk von Aram Mattioli gelesen habe („Verlorene Welten“, 2017).
Mattioli tut sich erkennbar mit dem pauschalen Überbegriff „Genozid“ für die komplette Inbesitznahme Nordamerikas schwer, weil er auch nicht den einen, von Washington zentral ausgegebenen Vernichtungsbefehl sieht.
Sehr wohl aber hält Mattioli „regionale Genozide“ für glasklar belegt (sowohl Politiker als auch Zeitungen sprachen bereits, während sich das Morden vollzog, von „wars of extermination“, von Ausrottungs- oder Vernichtungskriegen also).
Unterhalb dieser Geschehnisse mit explizit genozidaler Intention gab es dazu eine elende Fülle mal mehr, mal weniger systematischer, mal von der Regierung geduldeter, mal halbherzig kritisierter, mal aktiv begrüßter halbstaatlicher Verbrechen (enthemmte Militärs, eher private Milizen): Pogrome, Massaker, Metzeleien in dichter Folge und als unausweichliche Begleiterscheinung jedes einzelnen weiteren Landnahmeschrittes.
Begleitet wurde das von der Vernichtung traditioneller Lebensräume, gigantischen Umweltsauereien, Vertragsbrüchen en masse, Einschleppung von Krankheiten.
Und abgerundet wurde es von dem, was Mattioli „kulturellen Ethnozid“ nennt, also dem Versuch, Reste von indigenem Selbstverständnis, Sprache, Bräuche, Weltanschauungen auszurotten.
Für mich ergibt sich aus diesem Flickenteppich aus genozidalen Projekten, brutalen Landnahmeaktionen, Massenmordexzessen und Betrugsmanövern das Panorama eines – wenn auch nicht von Anfang an in all seiner Konsequenz durchgeplanten – Ausrottungsprogramms. Dass das nicht dasselbe wie der Holocaust ist, ist ja klar. Aber das Verbrechenskonglomerat ist so monströs und die gezielte Ausrottungsabsicht in so vielen Fällen derart klar durch die Äußerungen der Mörder selber belegt, dass sich mir da ein Fazit aufdrängt: Völkermord.
Und deshalb empfinde ich die Entscheidung von Ravensburger, Büchlein, die all das noch im Jahr 2022 komplett ignorieren, nicht zu veröffentlichen, als lobenswertes Zeugnis der Reflexions- und Lernbereitschaft; und nicht als Cancel-Culture-Skandal.
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