Antwort auf: Culture Wars, Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism …

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krautathaus Eine übertrieben linksidentitäre Meinungsblase auf Twitter und Co. ist schon etwas anderes, als die täglich volksverhetzende Meinungsmache der Rechtspopulisten Hand in Hand mit der auflagenstärksten Presse.

Da stimme ich Dir zu.

Dass es eine riesige, höchst rentable rechte Hetzindustrie gibt, die in manchen Ländern furchterregende Erfolge verzeichnet, sollte uns aber nicht davon abhalten, auch die linksidentitäre Bewegung als freiheitsfeindlich anzuprangern. Dringend notwendiger Widerstand gegen rechtsextreme Menschenfeindlichkeit schließt dringend notwendige Kritik an pseudolinken Verirrungen nicht aus.

Und ich glaube, @bullitt hat einen wahren Punkt getroffen, wenn er darauf hinweist, dass das Erstarken der Rechtspopulisten auch etwas mit den Auswüchsen einer linksidentitären Bewegung zu tun hat, die sich nicht mit dem Eintreten gegen Rassismus begnügt, sondern die Rassismus-Definition immer weiter ins Mikroskopische verschiebt (Stichwort Mikroaggression, „I-Wort“ usw.) oder einen US-Uniprofessor schon dann canceln will, wenn er das Wort negro beim Zitieren eines historischen Textes in den Mund nimmt. Diese vollkommen aus dem Ruder gelaufene, mit tatsächlich pseudoreligiös anmutenden Tabus arbeitende Moraldoktrin ist nicht nur ein gefundenes Fressen für rechte Kampagnenprofis und die Zyniker von der Bildzeitung (die natürlich jeden einzelnen dieser Fälle, von Winnetou bis zu Rastalocken, ausschlachten, das es kracht), sondern muss doch auch fast jeden Menschen, der nicht in die entsprechenden universitären Diskurse eingebunden ist, vor den Kopf stoßen.

Auf die Gefahr, mit meinen vielen Buchtipps zu nerven: „Ein falsches Wort“ von Rene Pfister (Spiegel-Reporter USA) ist sehr empfehlenswert. Er schreibt ohne Schaum vorm Mund, aus einer gelassenen, aber entschlossenen liberalen Perspektive. Die Fälle, die er beschreibt, sind alle längst bekannt, von Ian Buruma, der als Chefredakteur der New York Review of Books rausflog, weil er es zuließ, dass in dem Blatt ein wegen sexueller Übergriffe angeklagter, aber freigesprochener Rockmusiker und Radiomoderator seine Erfahrungen schilderte, bis zu Dorian Abbot, dessen Vorlesung zum Klimawandel gecancelt wurde, weil er die systematische Benachteiligung asiatischer gegenüber afroamerikanischen Studenten an den amerikanischen Universitäten angesprochen hatte. Pfister liefert eine gute Zusammenfassung, die zeigt, dass zumindest in den USA die identitätslinke Bewegung äußerst kampagnenfähig, schlagkräftig, einflussreich und, jawohl, sehr cancelfreudig ist und in vielen Redaktionen und an vielen Universitäten Karrieren kappen kann.

Vor allem aber finde ich eine Kernthese Pfisters sehr bedenkenswert:

Linke Identitätspolitik trage nicht zur Beseitigung von Diskriminierung bei, sondern schade im Gegenteil „dem aufgeklärten Lager“.

Denn diese linke Identitätspolitik helfe nur „einem bestimmten politischen Milieu, sich selbst zu vergewissern und sich in der Meinung zu bestärken, mit einer höheren Moral ausgestattet zu sein. Die Dogmen und Glaubenssätze in dieser kleinen Blase aber sind so rigide, dass sie auf eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler abstoßend wirken – und zwar ganz unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe.“ Und das nutzt die Rechte dann natürlich, indem sie jeden einzelnen Fall zum Riesenpopanz aufbläst, damit nur ja niemand verpasst, „wie doof diese Linken alle sind“. Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass linke Politik ob ihres Kampfes gegen Mikroaggressionen in den vergangenen Jahren allzu oft vergessen hat, sich für die viel handfesteren ökonomischen Anliegen der Bevölkerung mit voller Wucht einzusetzen. Dass diese falsche Prioritätensetzung maßgeblich mit zum 2016er-Wahltriumph von Donald Trump beigetragen hat, ist mittlerweile, glaube ich, unter Polit-Analytikern unumstritten.

Insofern glaube ich nicht, dass jemand, der radikal überhitzte linke Identitätspolitik anprangert, „Rechten in die Hände spielt“. Das Gegenteil ist, glaube ich, der Fall: Es ist wichtig, diese Kritik nicht exklusiv den rechten Demagogen zu überlassen, sondern aus einer freiheitlich-linken Haltung heraus gegen linkssektiererische Freiheitsfeindlichkeit einzutreten.

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