Antwort auf: Culture Wars, Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism …

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latho
No pretty face

Registriert seit: 04.05.2003

Beiträge: 37,711

Und jetzt noch ein paar Worte zu den Reizwörtern:

May:
May war der Volksschriftsteller des entstehenden Deutschen Reiches, es kann nicht überraschend, dass sich in seinen Büchern Ansichten aus der Zeit wiederfinden: Rassismus, zumindest rassistische Stereotype, Sexismus (wenn Frauen überhaupt vorkamen), Kolonialismus, Frömmelei, auch antisemitisch geprägte Stellen. Und natürlich, dass, was Rapp im oben genannten Artikel schön formuliert: am Ende findet sich immer der Autor selbst, findet sich immer in Deutschland. Allerdings das alles nicht außerhalb seiner Zeit. Wenn ich 19. Jhd. lese, bekomme ich das eben. Das ist dann rassistisch etc., aber ich kann letzten Endes keinem vorwerfen, außerhalb seiner Zeit und deren Moral zu schreiben. Ihm, dem Wunschreisenden, kam man ja, für mich unfassbarerweise, erst in den 00er Jahren des 20. Jhd.s drauf, dass er eventuell seine Abenteuer gar nicht selbst erlebt haben könnte. Ironischerweise, als er selber erstmals seine Schauplätze bereiste: das zerkrümelnde Osmanische Reich (May war entsetzt angesichts des Schmutzes).
Es ist fraglich, ob May über 100 Jahre nach seinem Tod noch als Jugend- (oder Erwachsenenliteratur) taugt. Das hängt von Eltern und Kindern ab, aber, Eigenversuch, mir hat’s nicht geschadet und ich bin trotzdem Sozialist, Anti-Rassist und Kriegsdienstverweigerer geworden. May als „typisch deutscher“ Schriftsteller, also einer, der irgendwie in den Nationalsozialismus (oder anderer Sünden des alten weißen Mannes) übergeht, taugt – trotz seines Erfolges – sowieso nicht. Dann nehme man lieber Felix „Bambi“ Salten (Pornographie) oder Waldemar „Biene Maja“ Bonsels (wüster Antisemitismus und ausgewachsener Sozialdarwinimus), deren Erzeugnisse in Zeichentrickform auch die linksidentitäre Jugend geprägt hat.
May selber, der gegen Ende seines Lebens in einem zunehmend kriegsbesoffenen Land immer mehr mystisch-verblasene Gleichnisse über die Notwendigkeit von Frieden schrieb, reiste im letzten Jahr seines Lebens zu einer Veranstaltung in Wien, wo er den Vortrag „Empor ins Reich der Edelmenschen“ hielt, auf einer Veranstaltung der „ultralinken“ Bertha von Suttner (man stelle sich Helene Fischer vor, die auf der Bühne ein glühendes Bekenntnis zur Immigration, sexueller Freizügkeit und gegen die AfD hält). Ein Gast des Vortrags, der sichtlich die Aussage nicht verstanden hatte, war Adolf Hitler. Der, grunddumm wie er war, davon auch später nicht loslassen wollte, sprach er doch davon, sich auf seine Regierungszeit 1933 durch das Lesen des May’schen Werkes vorbereitet zu haben. Will heißen: Kudos an May, als poster child für den alten, weißen Mann des 19. Jhds, den sich die Poststruktualisten aus Bequemlichkeit immer aussuchen, taugt er nur sehr bedingt.

Indianer:
Nobody got it right, stelle ich mit zunehmender Lektüre in das Thema fest. Erst waren sie edle Wilde, gelegentlich blutrünstige Teufel (im 19 Jhd.), dann Hindernisse auf dem Weg ins Glück, in Hollywood Kanonenfutter-Staffage (Ausnahmen bestätigen die Regel) und in Deutschland eben, dank May, die zum Zeitpunkt des Schreibens schon arg altmodischen Edelmenschen in Hirschhaut. Dabei waren sie zum größten Teil nomadische Völker, herumziehend, Krieg führend, gar nicht mal so anders als Turkmenen oder Mongolen, alles Kulturen, die irgendwann man mal von seßhaften, technisch fortgeschrittenen Kulturen besiegt und eingehegt wurden. Dank der US-Kultur (und May) kennt man hier die Geschichte der Indianer, während kein Mensch mehr Ahnung hat, was Krim-Tartaren waren.
Und edle Wilde waren sie allesamt nicht. Die Comanchen zum Beispiel (nicht zufällig bei May die Bösen, bei Dee Brown rausgelassen), waren eigentlich ein steinzeitliches Volk, bis sie die Pferde entdeckten und zu einer reinen Reiterkultur wurden (angeblich ein Grund für ihren Untergang war die fortschreitende Unfruchtbarkeit der ständig auf dem Pferderücken hockenden Männer). Sie drangen nach Süden vor, ins Gebiet des heutigen Texas, mit brutalen Terror-Methoden: bei Überfällen wurden die gefangenen Männer gefoltert, getötet und verstümmelt, die Frauen vergewaltigt, danach im Normalfall getötet, die Kinder entführt – die Lebenden verließen rasch das Land. Die Weißen waren ihnen gegenüber am Anfang wehrlos, die Spanier/Mexikaner wehrten sich, die angelsächsischen Siedler an den Küsten waren zu wenige und auch waffentechnisch den Comanchen unterlegen. Eine Gruppe Comanchen schaffte es, Mitte des 19. Jhds. sogar Corpus Christi einzunehmen (sie verließen die Stadt wieder, weil sie als Nomaden mit der ganzen Sache nichts anfangen konnten). Eine andere Gruppe der südlichen Comanchen nahm vermutlich eine Siedlerin gefangen, die pockeninfiziert war und war kurz darauf praktisch ausgestorben. Will (länglich) sagen: Es gibt auch solche Geschichten. Und das ist eben die Crux: als das, was sie sind, Menschen nicht Projektionsflächen, werden sie selten dargestellt, glücklicherweise gibt es dazu mehr und mehr (amerikanische) Literatur. Und vielleicht ergibt das ja mal ein richtiges Bild. Für Kinder braucht es eben Winnetou. Oder Yakari. Aber keine gelehrten Bücher, keine Grauensliteratur, die 10-Jährigen im wohligen Grauen von den Untaten des „weißen Mannes“ erzählt, sondern Fiction, Fiktion. Und die Kompetenz, das auch als Fiktion zu verstehen.

Genozid:
Eines dieser Wörter, das an der grassierenden word inflation leidet, überall ist Genozid, in der Ukraine, in den USA (an Schwarzen und Indianern) und überall sonst, wo viele Menschen sterben. Das ist ungerecht, denn der amerikanisch-polnische Wissenschaftler Raphael Lemkin  hat das ja Mitte der 40er auf der Blaupause der Shoah klar definiert. Ich weiß nicht, warum mass killings oder Massenmord/-tötung nicht ausreichend sind, für mich sind das schwerwiegende Anschuldigungen. Lemkin gibt es darum, dem Verbrechen der Deutschen einen Namen zu geben („a crime without a name“, Churchill), dass die Definition eng ist und bei weitem nicht auf alle Verbrechen zutrifft, die man mittlerweile als Genozid bezeichnet, ist Folge davon. Aber nichts Schlechtes: Ob beispielsweise die Kriegsverbrechen deutscher Kolonialtruppen in Namibia/Deutsch-Südwest-Afrika ein Völkermord waren, ist meines Wissens wissenschaftlich nicht endgültig geklärt, ebensowenig ist der Holodomor in der Ukraine in den 30ern so einfach dazuzuzählen, den Begriff „straticide“ (also Mord an einer Schicht, einer Klasse) macht da mehr Sinn etc pp. Für all diese Verbrechen gibt es Begriffe (nicht zuletzt „Verbrechen“), die ausreichend verdammend sind.
Kurz: für mich ist die unbeschränkte Verwendung des Begriffs oft Übertreibung, dabei gleichzeitig eine Entwertung des Begriffs. Und das hat Lemkin nicht verdient und die Opfer wahrer Genozide gleich zweimal nicht.

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If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.