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zappa1
Ich war zwischen 10 und 19 in den 70ern. Ich würde sagen, dass „Popmusik“, in all ihren Spielarten, insgesamt schon Abgrenzung war, im Grunde schon ab den 50/60ern. Zumindest als Abgrenzung zur Erwachsenenwelt, weil sie die Musik nicht verstanden, weil es etwas war, was den „jungen Leuten“ gehörte, da konnten die Alten nicht mitreden. Man denke nur an die legendäre Ansage von Wilhelm Wieben vor der Ausstrahlung der ersten „Beat-Club“-Sendung. Da wurde sich noch dafür entschuldigt. Ansonsten habe ich das, was du schreibst, ja auch nie abgestritten. Die Sounds und auch den Musikexpress habe ich seit etwa 1974 gelesen, im Radio (Club 16/Zündfunk) haben Leute wie Ingeborg Schober von Beginn an über diese Entwicklung von „Punk/New Wave“ berichtet und die Musik gespielt. Die CBGB-Szene war ebenso von Beginn an Thema. Und ja, ich fand das meiste auch sehr erfrischend. Gut atmen konnte ich aber auch davor schon…
Hier kommt aber die Dynamik ins Spiel, weswegen die Aussage „Popmusik in all ihren Spielarten war schon immer Abgrenzung zur Erwachsenenwelt“ sich eben im Zeitablauf ändert. Jede Pop-Spielart hat ihre Zeit (oder besser Zeiten, wenn man Retrowellen mit einbezieht). Rock taugt schon lange nicht mehr zur Abgrenzung zu Erwachsenen, auch einen Wilhelm Wieben konnte er 10 Jahre nach seiner Beat-Club-Ansage sicher nur noch ein müdes Lächeln abringen. Welche Popmusik wann als Abgrenzung taugt(e), ist zeitabhängig, gilt also nicht für immer. Deswegen greifen auch Aussagen, die hier im Thread gefallen sind (nicht von dir, glaube ich) – ‚xyz gab es schon vorher/immer‘ – eben nicht unbedingt. Es kommt auf die Zeit an, über die wir reden. Nach dem Punk-Knall waren die Bedingungen eine zeitlang so, dass kurz vorher noch relativ aktuelle Pop-Spielarten von vielen Hörern plötzlich als überkommen und weniger bedeutend wahrgenommen worden sind. Sei es Prog, sei es Boogie-Rock oder andere etablierte Formen der Popkultur wie Folkmusik, Country, Elvis-Rock’n’Roll oder Rockhelden der 1960er. Wer das hörte, gehörte in bestimmten, resonanzstarken Szenen plötzlich zum alten Eisen. Eben auch Genesis-Hörer, Pink Floyd, die Stones, Beatles, etc. (die sich zum Teil auch vom Zeitgefühl veranlasst sahen, sich zu ändern und weiterzuentwickeln, nicht immer zum Nachteil). Relativ schnell kam der Blick auch wieder auf die Vorbilder, aber dieser Cut, dieses Gefühl der „Umwertung aller Werte“, der durch Punk/Postpunk entstanden war, der hallte und hallt für viele immer noch nach (manchmal ein Leben lang).
Popmusik ging natürlich auch danach ganz andere Wege, aus Glam und Disco/Funk wurde Club, HipHop, Acid House, Techno, R&B und Crossover-Spielarten. Die Rezeption von Punk und Post-Punk unterliegt selbstverständlich ebenfalls dem Zeitbezug und spielt heutzutage keine Rolle mehr, oder eben nur noch als Bestandteil des Nischenrauschens der Spielarten.
Musik ist schon länger nicht mehr das Abgrenzungswerkszeug zur Erwachsenenwelt. Ich habe das Gefühl, diese Abgrenzung findet sowieso viel weniger statt. Und wenn, dann wird sie eher nicht durch Musik zusammengehalten. Was hört „Fridays For Future“, was hört „Die Linke“, was „Greenpeace“ oder „4 Pfoten“? Möglicherweise Justizminister Buschmann auf Soundcloud, oder irgendwas anderes. Identitätsstiftung wird nicht mehr unbedingt über Musik geschaffen. Man teilt Musik übers Smartphone, bis nächste Woche was anderes geteilt wird, was vielleicht gar nichts mit Musik zu tun hat. An die Stelle der Musik ist das Smartphone getreten.
Jedenfalls finde ich, wir müssen immer wissen, über welche Spielart der Popmusik wir uns innerhalb welchen Zeitrahmens unterhalten. Von anderen Kontexten mal ganz abgesehen. Aber das wäre dann nochmal eine andere Baustelle.