Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Neue Konzertreihe Zürich – Zürich, Tonhalle, 28. September 2021

The English Concert
Maurice Steger
Blockflöte und Leitung

Händel: Water Music HWV 348-350 – Suite Nr. 1
Vivaldi: Concerto C-Dur RV 537 für zwei Trompeten, Streicher und b.c.
Corelli/Geminiani: Concerto Nr. 7 d-Moll für Blockflöte, Streicher und b.c.

Vivaldi: Concerto F-Dur RV 570 «La tempesta di Mare» für Blockflöte, Streicher und b.c.
Händel: Water Music HWV 348-350 – Suite Nr. 3
Corelli/Geminiani: Concerto Nr. 10 F-Dur für Blockflöte, Streicher und b.c.
Händel: Water Music HWV 348-350 – Suite Nr. 2

Das war mein erstes Konzert in der frisch renovierten Tonhalle – nebenan im Kongresshaus lief glaub ich mehr oder weniger Parallel zur Weltpremiere in London im Rahmen des Zurich Film Festivals der neue Bond, über der Seepromenade schwirrten Kameradrohnen herum und Damen in Absätzen, mit denen man töten kann, staksten herum – ein leicht surreales Ankommen also, besonders für mich in Jeans und auf dem alten Fahrrad. Der Saal erstrahlt tatsächlich in einem Glanz, wie ich es mir trotz aller Ankündigungen kaum vorstellen konnte. Der graue Anstrich aus den Achtzigerjahren (der wie jahrundertealte Patina aussah und wirklich hässlich war) ist weg, jetzt glänzt ganz viel Gold, was zur Architektur, den Kronleuchtern usw. auch wirklich besser passt. Eine neue Orgel wurde eingebaut, womit leider die pro Seite vier Plätze hinter der Bühne verschwanden, die ich besonders bei Klavierrezitalen toll fand. Die wichtigste Neuerung ist aber, dass der frühere Fehler (ich weiss nicht, ob von Beginn oder als Resultat einer vermurksten früheren Renovation) betreffend des Bodens behoben wurde: Dieser endete vor dem Umbau an der Bühnenkante, was akustisch einen negativen Effekt hat. Der neue Boden wurde jetzt unter die Bühne gezogen und alles so miteinander verbunden, dass quasi das Gemäuer die Schwingungen der Musik aufgreifen kann – so, wie das in Konzertsälen eben sein soll. Zudem wurde die Bühne etwas tiefer gesetzt, was mir, der ich bei der Neuen Konzertreihe ein Abo mit Sitz in der vordersten Reihe habe, natürlich genehm ist. Wegen der etwas geringeren Höhe ist auch eine der grössten bisherigen Sünden getilgt: vermutlich als Vorsichtsmassnahme zur Abgrenzung gab es an der Bühnenkante stets eine Reihe mit Geranien oder sonstigen Blumen, jetzt gibt es da nichts, einfach nur Holz – wie in der Übergangshalle, der von mir so geliebten „Tonhalle-Maag“, die leider Geschichte ist. So viel zu „Zürich als Kulturstadt“. Bah.

Die Musik des Abends war dann so unmittelbar, unkompliziert und direkt, dass ich mir, ohne Krawatte und mit dem Fahrrad, überhaupt nicht mehr unpassend vorkam … Steger leitete in der ersten Hälfte zumindest bei der auf drei Blöcke verteilten längsten, ersten Suite aus Händels Wasserkmusik (die „Horn-Suite“) mehrheitlich das kleine Orchester, hie und da griff er sich eine seiner Blockflöten und spielte mit, das tat er dann aber vor allem im ersten Konzert, dem von Corelli (orchestriert von Geminiani, Verzierungen der Oberstimme von Pietro Castrucci). Da blitze neben seiner sehr sympathischen Art und seiner offensichtlichen Freude am Musizieren dann auch ein erstes Mal sein genialisches Können als Blockflötist auf. Nach der Pause war Vivaldis Konzert RV 98 für Blockflöte, Oboe, Violine und Fagott (und ganz klein besetztes b.c.) ein schöner Auftakt, bevor es mit der dritten Suite aus Händels Wassermusik los ging, wo Steger nur richtig glänzte. Seine Virtuosität am Instrument ist jedenfalls atemberaubend, dabei wirkt alles ganz leicht, es geht immer um die Musik und nie um die Pose oder die pure Technik. Wenn The English Concert mal richtig in Fahrt kam, hörte man auch die Flöte kaum noch, aber sie löste sich immer wieder, und es gab auch im folgenden Corelli-Konzert (wieder von Geminiani orchestriert, die Verzierungen der Oberstimme stammten hier von William Babell) reichlich Gelegenheit, Steger als Solist zu hören. Den Abschluss machte dann die zweite Suite aus Händels Wassermusik, deren letzter Satz dann als Zugabe gleich noch wiederholt wurde. Ich kann nicht sagen, dass das so ganz meins war, aber Steger zu hören, das Glänzen seiner Augen zu sehen, die grosse Freude, mit der er und das Orchester (das er wohl öfter mal als Gastdirigent leitet) zu Werke gingen – das war wahnsinnig schön. Und auch nochmal greifbarer, unmittelbarer als bei den beiden davor in Basel gehörten Konzerten, die zwar mir wesentlich nähere Musik vorstellten.

Festival Alte Musik Zürich Saitenspiel – Zürich, Kulturhaus Helferei, 2. Oktober 2021
Sous l’empire d’Amour: Airs de cour und Lautenmusik

Marie-Claude Chappuis Mezzosopran
Luca Pianca Erzlaute & Theorbe

Michel Lambert (1610–1696): Goutons un doux repos
Gabriel Bataille (1575–1630): Ma bergère non légère
Michel Lambert: Charmante nuit
Gabriel Bataille: Qui veut chasser une migraine
Lorenzo Tracetti (ca. 1552–1590): Preludio
Barbara Strozzi (1619–1677): Eraclito amoroso
Charles Hurel (um 1665/92): Pièces de Théorbe: Prélude – Courante – Gavotte “La Lionne” – Sarabande “La Bolonoise” – Gigue – Musette
Trad.: Trois Chants Suisses anciens: Rossignolet du bois joli – Pauvre Jacques – Rossignolet gentil
Jean Baptiste Lully (1632–1687): Repans, charmante nuit
Robert de Visée (ca. 1655–1732/33): Ouverture de La Grotte de Versailles, Tambourin
Gabriel Bataille: Un satyre cornu
Michel Lambert: Ma bergère est tendre et fidèle
Gabriel Bataille: Amis enivrons-nous
Jean-Baptiste Lully: Récit de la Beauté

Ein paar Tage später ging es am Samstagabend an ein relativ kurzes, aber sehr schönes Konzert im Rahmen dies diesjährigen Festival Alte Musik, das „Saitenspiel“ überschrieben war und allerlei Musik mit Saiteninstrumenten präsentierte (letzte Jahr hiess es „Tastenspiel“ und ich hatte, in der halben Pandemiepause, die Gelegenheit, Mahan Esfahani und Kristian Beuzuidenhout zu hören). Marie-Claude Chappuis und Luca Pianca haben dieses Programm vor ein paar Jahren auch auf einer CD bei der Deutschen Harmonia Mundi herausgebracht. Chappuis hat eine wunderbare, warme Stimme, Pianca begleitete sie an der Erzlaute, für seine zwei instrumentalen Zwischenspiele griff er dann zur Theorbe (ich glaube von de Visée spielte er was anderes als im Programm angegeben, das ich oben reinkopiert habe).

Besonders schön fand ich die Kantate von Barbara Strozzi, die eigentlich ja nicht zum Thema passte bzw. eben den italienischen „Exzess“ und „falschen Schein“ (Nicolas Boileau) der französischen Konzentration darauf, „dem Ohr zu schmeicheln und in ihrem Gesang eine anhaltende Sanftheit zu pflegen“ (Marin Mersenne – beides Auszüge aus Zitaten im Programmheft) entgegenstellt. Wobei das jetzt sicherlich nicht das beste Stück war, um diesen Gegensatz zu verdeutlichen (mir kommt da wie kurze Passage der Italienerin in Charpentiers „Médée“ in den Sinn, da wird anhand einer überexaltierten Arie der Gegensatz quasi als Teil des Plots der Oper direkt verdeutlicht – natürlich mit ein paar besonders sinnfremden Trillern).

Sehr schön waren auch die drei alten Schweizer Lieder, keine „Volkslieder“ im eigentlichen Sinn sondern altes Liedgut, das Chappuis und Pianca auch bereits für eine CD eingespielt haben (die jetzt zu mir unterwegs ist). Etwas zuviel wurden mir dafür ein paar theatralische Einlagen, die in den airs à boire natürlich nicht deplaziert sind, aber ich mag den plumpen französischen Komödienhumor sowieso nicht – aber das, pardon, Altersheim um mich herum hat sich köstlich amüsiert (was natürlich wieder mal die Frage aufwirft, wie solche Formate zu überleben gedenken, ist ja im Konzertsaal nicht anders, in der Oper gibt es vergleichsweise viel mehr junge Leute hier, aber das liegt wohl am Besonderen, am „Event“, und macht das Genre kein bisschen nachhaltiger oder kostendeckender – schwieriges Thema.)

Konzert Nr. 3 – „Majestäten“: Haydn-Nacht – Basel, Don Boco, 5. Oktober 2021

Kammerorchester Basel
Giovanni Antonini
Leitung
Christian Tetzlaff Violine

Joseph Haydn (1732 – 1809)
Sinfonie Nr. 62 in D-Dur Hob. I:62
Violinkonzert A-Dur Hob. VIIa:3
Sinfonie Nr. 50 in C-Dur Hob. I:50 «Der Götterrath»
Sinfonie Nr. 85 in B-Dur Hob. I:85 «La Reine»

Wo ich gerade das Wort „Event“ verwendet habe … mein – wegen Corona um eineinhalb Jahre verzögertes – erstes Live-Konzert im Rahmen das Projektes Haydn2032 der Basler Joseph Haydn Stiftung und Giovanni Antonini mit Il Giardino Armonico und dem Kammerorchester Basel, kann man wohl auch als solches durchgehen lassen. Don Bosco ist eine ehemalige Kirche, die erst kürzlich zum Probelokal des KOB und zum Konzertsaal umgebaut wurde. Eine Stunde vor Konzertbeginn sass Antonini mit dem Klassikjournalisten Andreas Müller-Crepon auf der Bühne und sprach über Haydn, danach sollte der Publizist Bruno Preisendörfer einen eigens verfassten Text lesen – er war jedoch abwesend und stattdessen sprang jemand von der Stiftung (nehme ich an, er stellte sich nur als Ersatz für den Abwesenden vor, las dann aber ziemlich gut) ein – doch leider hätte Preisendörfer wohl ein schnelleres Tempo draufgehabt, jedenfalls marschierte dann das Orchester auf, bevor der Text – u.a. über Haydns stibitzen Schädel und besonders über den (biologischen) Mikrokosmos auf den von Haydn so geschätzten Perücken – zu Ende gewesen wäre. In der Pause gab’s dann auch noch Suppe. Man hat ja ein Zertifikat und muss daher keine Maske tragen … unverständlich für mich, aber anders als im Stadtcasino, wo wohl noch 5-10 Prozent des Publikums eine trug, war ich im Don Bosco vielleicht der einzige. Und Suppe brauchte ich auch keine. Eine Konzerteinführung finde ich ja gut aber man kann’s auch übertreiben, Suppe essen in einem mickrigen Foyer, in dem man sich nicht drehen kann, ohne drei Leute anzurempeln, mitten in einer durch ein airborne Virus ausgelösten Pandemie finde ich schon fast darwinpreiswürdig. Aber gut, die Menschheit schafft sich ja eh demnächst selbst ab und ich tue mich schwer, darob traurig zu sein.

Neben dem ganzen Rahmenprogramm gab es natürlich auch noch Musik, zu der ich ja schon einen Satz geschrieben hatte. Ich kann auch rückblickend nicht viel mehr schreiben, als dass mir das alles etwas brav und manchmal etwas schwunglos vorkam, dass ich oft dachte, ein paar von Antoninis mit Il Giardino Armonico doch so eifrig gepflegten Zuspitzungen hätten dem Abend gut getan. Wo wir es kürzlich im Hörfaden von Mozart hatten: Haydn empfinde ich (abseits der Streichquartette) oft als etwas brav, quasi zuviel Biedermeier, zuwenig Revolution. Dabei scheint er ja von Zeitgenossen ganz und gar nicht so wahrgenommen worden zu sein? Das Highlight war für mich an dem Abend jedenfalls Tetzlaff mit dem Violinkonzert, nicht nur weil das eine Abwechslung bot, sondern auch, weil der Solopart wunderbar gespielt war. Ich gehe sicher gerne wieder mal hin, wenn ich die Gelegenheit haben sollte, Tetztlaff erneut zu hören (und ich gehe nächstes Jahr, sofern und das alles nicht nochmal um die Ohren fliegt, auch noch ins nächste Haydn-Konzert in Basel Ende Januar, wenn Il Giardino Armonico und das KOB gemeinsam spielen werden … Haydn-Symphonien mit Il Giardino Armonico unter Antonini hörte ich ja auch schon mal in Zürich, aber da gab’s dazwischen noch Konzertarien von Mozart und Haydn mit Sandrine Piau, noch in der alten Tonhalle vor der Renovation, das war definitiv ein anderes Kaliber – und es gab mehr Abwechslung – als dieses Konzert in Basel).

Zürich, Opernhaus – 12. Oktober 2021

Tosca
Melodramma in drei Akten von Giacomo Puccini (1858-1924)
Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica, nach dem Drama «La Tosca» von Victorien Sardou

Musikalische Leitung Paolo Carignani
Inszenierung Robert Carsen
Ausstattung Anthony Ward
Ausstattungsmitarbeit Alexander Lowde
Lichtgestaltung Davy Cunningham
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger

Floria Tosca Sonya Yoncheva
Mario Cavaradossi Joseph Calleja
Baron Scarpia Thomas Johannes Mayer
Cesare Angelotti Stanislav Vorobyov
Mesner Valeriy Murga
Spoletta Martin Zysset
Sciarrone Ilya Altukhov
Hirte Claire Schurter
Un carceriere Benjamin Molonfalean

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Kinderchor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Die volle Dröhnung gab es dann letzten Dienstag – ich hatte meine StoneFM-Sendung deshalb verschoben. Und am nächsten Tag gab es nach dem dreifachen Bühnentod dann plötzlich auch noch einen im richtigen Leben. Der Schock sitzt mir noch in den Knochen.

Die Inszenierung fand ich alles in allem ganz in Ordnung, aber wenn man das Stück – mit seiner Selbstreferentialität, der mise en l’abyme, dazu der Titelrolle, die einer Diva bedarf, die im Stück eine Diva spielt, in seiner ganzen Modernität betrachtet (was im Programmheft getan wird), könnte man damit vermutlich schon etwas mehr anstellen als diese recht biedere Aufführung es tut.

Musikalisch gab es allerdings wenig zu meckern. Klar, da ist vieles laut, es geht nicht ganz ohne Geschrei. Aber Yoncheva war grossartig, auch in den stilleren Passagen in der zweiten Hälfte und in der Verzweiflung zum Schluss. Ihr „Vissi d’arte“ war grandios und der Szenenapplaus endete erst, als die einfach weiterzuspielen begann und das Orchester wieder einsetzte. Mit Calleja wurde ich nicht sofort warm, aber auch ihm gelang der Spagat zwischen Überschwang und Intimität, zwischen Fortissimo und Pianissimo, am Ende sehr gut. Sein „Lucevan le stelle“ war dann ein weiteres Highlight zum Schluss hin. Thomas Johannes Mayer als Scarpia hatte neben den beiden starken Stimmen einen recht schweren Stand, behauptete sich aber sehr gut. Das Orchester spielte unter Paolo Carignani hervorragend auf, das Solo-Cello übernahm Lev Sivkov, den ich im November 2019 bei einem Gesprächskonzert mit Helmut Lachenmann dessen „Pression“ spielen hörte. Unterm Strich jedenfalls ein sehr guter Abend.

(Foto oben vom Schlussapplaus, zwischen Calleja und Yoncheva der Dirigent)

Als neulich der Vorverkauf des Opernhauses für November und Dezember startete (pandemiebedingt immer in Tranchen, sonst geht das im Juli oder August für die ganze Saison los, könnte auch so bleiben, finde ich sehr viel angenehmer, als von Anfang an alles planen zu müssen), besorgte ich Karten für „Anna Bolena“ mit Diana Damrau, Luca Pisaroni und Karine Deshayes Ende Dezember – das ist dann eine neue Produktion (David Alden inszeniert, Enrique Mazzola dirigiert).

Und heute Abend höre ich zum ersten mal das noch relativ junge Swiss Orchestra mit seinem dritten Programm im Konzert (das ich teils schon von der ersten CD kenne) – einmal mehr mit der Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis, die Stücke von Joseph Joachim Raff (1822-1882) singen wird, dem einen Schweizer, der heute auf dem Programm steht. Der andere ist August Walter (1821-1896), dessen erste Symphonie in der zweiten Konzerthälfte aufgeführt wird wird. Ihnen gegenübergestellt (bzw. Raff umklammern) werden die Melusine-Ouvertüre von Mendelssohn und „Träume“ aus Wagners Wesendonck-Liedern (wie ein Stück von Raff für Violine und Orchester – da aber kein Violinsolist bekannt gegeben wurde, wird das wohl der Konzertmeister sein … an sich wollte ich letztes Jahr das zweite Programm mit Heinz Holliger als Gast hören, das wurde aber in den Juni 2022 verschoben – mal schauen, ob das hinhaut).

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