Antwort auf: Was liest der Forumianer im Moment?

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soulpope
"Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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snowball-jackson

soulpope

snowball-jackson Louis-Ferdinand Cèline- Tod Auf Raten Als ich Cèlines Erstling „Reise Ans Ende Der Nacht“ das erste Mal gelesen hatte, war das ein ähnliches Erweckungserlebnis wie bei Rimbaud, Kafka, Miller und Pessoa. Nicht das er unbedingt vergleichbar mit den genannten Autoren ist aber seine ungestüme wie enthemmte Prosa war für mich was völlig Neues. Seinen zweiten Roman empfand ich dann zunächst etwas enttäuschend (damals „Tod auf Kredit“) da ich nur die zensierte Version gelesen hatte. Nun endlich liegt die originale Edition in einer grandiosen deutschen Übersetzung vor und je weiter ich vordringe, desto klarer wird: dies ist sein Meisterwerk. Nun bedarf es als politisch eher links ausgerichteter Mensch eine Erklärung warum man einen politischen Nazi-Kollaborateur, Antisemiten und Ekel wie Cèline überhaupt liest und auch empfiehlt (aber nur seine ersten beiden Romane): u.a. weil seine ersten beiden Romane sprachliche Barrieren brechen, seine Figuren eine ungemein psychologische Tiefe erzeugen und mich das beides so in den Bann zieht, dass ich den politischen Dummkopf Cèline zumindest ansatzweise vergessen kann.

Habe vor langer Zeit „Reise Ans Ende Der Nacht“ gelesen und die von Dir als „ungestüm und enthemmt“ beschriebene Sprache eher an der Grenze zu schlicht vulgärer Geschwätzigkeit (und wiederkehrend darüber) verortet …. zahlreiche Ansätze finden sich im heutigen Wutbürgertum wieder und diese Welle wird ja landauf/-ab vom rechten Sumpf geritten …. nichtsdestotrotz ein interessanter Hinweis bezüglich dieser neuen Edition von „Tod Auf Raten“ ….

Politisch mag Cèline ein vollkommender Trottel gewesen zu sein aber sprachlich ist er in seiner Bildhaftigkeit und Intensität auch in der deutschen Übersetzung ein ganz Großer. Eine Symbiose zwischen Eleganz und Gosse; zwischen menschlichen Abgründen und Schönheit. Seine beiden ersten Romane sind freilich ein wilder Ritt, den nicht jeder durchsteht aber die Art menschliche Existenzen zu beschreiben mit dieser metaphernreichen und auch analytischen Sprache…das ist schon große Kunst, die ja selbst einen jüdischen Schriftsteller wie Phillip Roth beeindruckte (und auch stark beeinflusste). Die Verbindung zu den „Wutbürgern“ kann ich da nicht recht nahvollziehen. Zumindest kam aus deren Richtung nie etwas intelligentes.

Es ist einerseits natürlich eine verschwimmende Grenze zwischen Sprachgewalt und Gewalt an/in der Sprache, andrerseits ist dieses Sprachsegment auch wiederholt Faszinosum  für Schöngeister (nehme mich dabei bewusst nicht heraus) im Sinne einer (vermeintlich) klaren Ausdrucksform ….. und bezüglich Wutbürgertum : mir ist dieses Buch auch als Abrechnung mit Eliten und Krisensorgen der Unterschichten (hat ihn da nicht mal Macron sogar namentlich zitiert ?) in Erinnerung und so verstehe ich – obwohl ich dies nicht verstehe – den Nährboden dieser Gesinnung ….

Schlussendlich hast Du meine Interesse an „Tod Auf Raten“ geweckt – mal sehen ob sich diese bei mir im Sinne eines Buchkaufes) durchsetzen wird ….

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