Antwort auf: Musik im Wandel der Zeit: Wie Musik sich verändert

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jan-lustiger

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go1

herr-rossiDas ist doch alles auch kein Phänomen, das mit Lady Gaga oder Billie Eilish Einzug gehalten hätte. Man hätte doch schon bei den Rock’n’Rollern der späten 50ern vom „Tod der Melodie“ sprechen können.

Das hätte man tun und hätte es auch begründen können, es wäre nur etwas voreilig gewesen […]

Das hätte man nicht nur tun können, das hat man auch getan. Als Rock’n’Roll auf den Plan trat, sah man das vor allem im Tin-Pan-Alley-Umfeld als die Zuspitzung einer jahrelangen Entwicklung, in der Songs, die sowohl in der Melodie als auch den Lyrics sehr sophisticated waren (die Cole Porter-/Irving Berlin/et al.-Tradition), an Popularität verloren und von Novelty-Nummern wie dem Nummer-Eins-Hit „The Doggie in the Window“ (1953) verdrängt wurden. Diese Songs waren one trick ponies; sie hatten meistens ein sehr prägnantes Merkmal, das sehr unsubtil und prominent in dem Track platziert wurde, bei „The Doggie in the Window“ das Hundebellen etwa. Die meisten dieser Songs betrachtet man heutzutage nicht zu Unrecht mit einem müden Lächeln (oder sogar Scham), wobei dabei gerne vergessen wird, dass in dieser Ära, der ersten Hälfte der 50er, auch ein Bewusstsein für das Studio als eigenes „Instrument“ entwickelt wurde, was heute pophistorisch etwas kurz gedacht eher in der zweiten Hälfte der 60er verortet wird. (Die Ergebnisse waren in den 60ern natürlich deutlich beeindruckender.) Rock’n’Roll sah man einfach als das nächste Novelty-Genre: Die machen etwas Krach und singen anzüglich übers Tanzen – big deal!

Den klassischen Pop-Song (man sprach tatsächlich bereits von „popular music“ bzw „popular songs“) nach Great-American-Songbook-Vorbild hingegen betrachtete man als die über allem thronende, universelle Form populären Songwritings, und wenn man bedenkt, wieviele Jahrzehnte diese Songs eine, wenn nicht sogar die tragende Rolle in der amerikanischen Populärkultur gespielt haben (bei gleichzeitig hohen Ansprüchen an die Kompositionen selbst), ist da sicherlich auch etwas dran. Dann entwickelten Teenager plötzlich ein eigenes Profil, das in den 50ern anfing, den Musikmarkt zu dominieren, und dazu noch ein gegenkulturelles Bewusstsein, das bedeutete, dass man nicht mehr hören wollte, was Mom & Dad gut fanden. Dass Rock’n’Roll mit seiner „Körperlichkeit“ ein vielleicht sogar noch universelleres Potenzial in sich trug als clever geschriebene Standards mit tollen Melodien, verkannte man ebenso wie dass die Attitüde der Performer eine immer größere Rolle spielen würde, und Ende der 50er/Anfang der 60er wurde das Great American Songbook sozusagen endgültig geschlossen.

Schon vorher gab es einen deutlichen Anstieg der Popularität von Country sowie Rhythm’n’Blues, die wir heute als Kerngenres der Populärmusik begreifen, aber von führenden Songwritern, Performern, Funktionären ebenfalls als B-Ware eingestuft wurden. Wie immer hatte das ganze Spiel eine materielle Komponente: Es gab zwei Verwertungsgesellschaften für Songwriter, also quasi zwei GEMAs: ASCAP und BMI. ASCAP war älter und zählte die komplette alte Great-American-Songbook-Riege sowie neue Talente in dieser Tradition zu ihren Mitgliedern. BMI war die weniger glanzvolle Variante, zu der viele Autoren und Autorinnen von Novelty-, Country-, Rock’n’Roll, Blues-Songs gehörten. Die Abwertung dieser Genres war natürlich auch einfach ein Versuch seitens der ASCAP, die eigene Marktvorherrschaft zu bewahren. Needless to say: Heute ist BMI größer als ASCAP. Alleine die Vorstellung wäre 1945 völlig absurd erschienen.

Ein sehr interessanter Titel in dem Zusammenhang, der mehr als relevant für die hiesige Diskussion über den „Tod der Melodie“ ist, ist Nat King Coles „Mr. Cole Won’t Rock and Roll“. Der Song beginnt mit der Zeile „Once upon a time a song had melody and rhyme“, was natürlich impliziert, dass das im Rock’n’Roll nicht mehr der Fall sei. Später macht sich Cole (der den Song als Künstler der alten Schule natürlich nicht selbst geschrieben hat) direkt über Rock’n’Roll-Lyrics lustig (die Musik imitiert den Rhythmus der neuen Musik streckenweise ebenfalls): „One o’clock, two o’clock, three o’clock, rock / You gotta sing rock or you go into hock / Four o’clock, Five o’clock, six o’clock, roll / Throw away your senses and your self control“. Das mündet dann in der im Titel angekündigten Distanzierung: „But brother, I’ve got news / Mr. Cole won’t rock and roll“.

Hier eine Live-Performance des Songs, 1960 in der Dinah Shore Show. Die Anmoderation ist bemerkenswert: „Everyone knows that America is a mixture of many different cultures. But there’s one thing that’s really and truly ours: popular music and jazz.“ Daraufhin spielen Cole und Shore einen Dialog durch, in den sie ein paar amerikanische Genres einbauen und dem Blues immerhin seinen Einfluss auf Jazz zugestehen, was dann aber alles als Hinleitung zu Coles Anti-Rock’n’Roll-Nummer, die selbst Elemente einer Rock’n’Roll-Pastiche aufweist, dient (der Song selbst beginnt dann bei 2:31):

Und ja, voreilig war diese Verurteilung auf jeden Fall. Und die Ablehnung oft einseitig. Die Fab Four zB coverten ja nicht nur Rock’n’Roll, sondern auch den einen oder anderen Songbook-Standard.

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