Antwort auf: Funde aus dem Archiv (alte Aufnahmen, erstmals/neu veröffentlicht)

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Barney Wilen Quartet feat. Tete Montoliu – Barney and Tete: Grenoble ’88 (Elemtnal, 2 CD, 2020) | DasWilen geht ganz grossartig los, mit einer zehnminütigen Version von „L’Âme de poètes“ im Duo mit Riccardo Del Fra am Kontrabass. Beginnt mit Drone-artigen Klängen, die beiden Instrumente klingen streckenweise fast gleich (das Sopransax nach einer Klarinette, der gestrichene Kontrabass nähert sich an – später wechselt Wilen zum Tenor) … danach kickt die Band mit „Billie’s Bounce“ in den Bebop-Modus. Das ist dann das erste Stück, das auf der LP fehlt. Die folgenden „‚Round Midnight“ (Wilen zunächst am Sopran, später am Tenorsax) und „Summertime“ sind auf Seite A nach „L’Âme“ zu finden, das Medley am Ende von CD 1 fehlt wieder: ein Klaviersolo über „It Never Entered My Mind“ und dann ein Trio (mit Del Fra und Drummer Aaron Scott) über „Invitation“.

Von CD 2 finden sich auf Seite B der LP dann die ersten drei Stücke, „All the Things You Are“, „La Valse des lilas“ und das Medley über „Sous le ciel de Paris“ und „Les Feuilles mortes“ („Autumn Leaves“). Die letzten drei fehlen wieder: „Blues for DN“ , „Scrapple from the Apple“ und „Someday My Prince Will Come“. Wirkt, als sei eine gute Auswahl getroffen worden. Die beiden CDs dauern jeweils ca. 49 Minuten (die LP etwa 52, wenn ich richtig gerechnet habe).

Das Booklet umfasst 24 Seiten, die erste Hälfte in Englisch, die zweite in Französisch (gleicher Inhalt). Los geht es mit einer Dankesnote von Patrick Wilen, dem Sohn, der die Herkunft des Aufnahme erklärt: direkt ab dem Mischpult auf Wilens DAT-Recorder. Der erste längere Text stammt von Philippe Vincent (ca. 3 Seiten), der zweite (ca. 4 Seiten) von Ashley Kahn, danach folgt eine Seite Erinnerungen von Riccardo Del Fra. Dazu gibt es acht Fotos, die meisten (fast) ganzseitig (und auf dem 18-Fold-Digipack [ich zähle auch noch beide Seiten der verklebten zusätzlichen Pappstücke mit, hoffe, das ist gestattet :whistle: ] noch ein paar weitere.

Bassist Del Fra, so schreibt Vincent, war das Bindeglied zwischen Wilen, zu dessen regulärer Combo mit Alain Jean-Marie und Sangoma Everett er damals gehörte, und Montoliu, mit dem er schon durch Europa getourt war. Geprobt wurde gemäss der damaligen Managerin von Wilen, Martine Palmé (auf die Vincent sich bezieht), nicht. Nach dem Intro (Wilen/Del Fra) gab es erstmal Bebop, Balladen und eine funky Version von „Summertime“ über ein Bass-Ostinato – alles Material, mit dem vermutlich alle vier bestens vertraut waren. Danach folgt Montolius Showcase, solo und im Trio.

Die zweite Hälfte öffnet wieder mit einem Standard im Quartett, „All the Things You Are“, dann folgt der zweite französische Song aus der Feder von Michel Legrand (diese Songs knüpfen natürlich an das Album „French Ballads“ an, von dessen Programm ein paar Stücke Eingang in Wilens Live-Repertoire fanden) und mit dem zweiten Medley gleich ein Nachschlag, bevor das Konzert mit einem spontanen Blues (der Wilen/Montoliu zugeschrieben wird, den Titel konnten die involvierten nicht aufschlüsseln, die beiden Protagonisten fragen geht leider nicht mehr) – und nach langem Applaus in die erste Extrarunde geht, nochmal mit Charlie Parker („Scrapple“). Als zweite Zugabe folgt dann nicht, wie so oft bei Wilen, Gordon Jenkins‘ „Goodbye“, sondern „Someday My Prince Will Come“.

Gemäss Vincent war das Konzert das einzige in dieser Phase (gemeint ist wohl ca. 1980-1996, als Wilen zum akustischen Jazz zurückfand bis zu seinem Tod), bei dem Wilen auf einen Musiker traf, mit dem er nicht schon gespielt hatte. Palmé erinnert sich (wieder gemäss Vincent), wie die beiden Minuten vor dem Konzert total entspannt nebeneinander auf einem Sofa sassen und ein paar Details zum Ablauf besprachen …

Kahn erzählt dann die Geschichte der Kiste, die Wilen kurz vor seinem Tod seinem Sohn Patrick gegenüber erwähnte. Wilen war sich wohl bestens bewusst, dass darin einiges Material lag, das einer Veröffentlichung würdig war. Obendrein war er von Technik und Technologie fasziniert. Klanglich ist das auch eine sehr gute Aufnahme hier. Spätestens in „‚Round Midnight“ finden die beiden wirklich zusammen, und von da an läuft alles wie geschmiert, die Interaktion im ganzen Quartett unterstreicht die Klasse aller vier – vor lauter Einfällen stieben die Funken, Wilen selbst beeindruckt immer wieder mit seinem elegant-geschmeidigen Spiel (Lester Young war eins seiner grossen Vorbilder).

Begegnet sich sich Montoliu und Wilen danach definitiv nicht mehr – dass sie sich vorher schon mal trafen, kann gemäss Kahns Liner Notes zwar nicht ausgeschlossen werden, ist aber unwahrscheinlich, denn in den Jahren, als Montoliu durch ganz Europa zog, hatte Wilen sich vom aktiven Musikerleben zurückgezogen. Davor war er nie in Barcelona und Tete nicht in Paris tätig. Überhaupt scheint Montoliu in Frankreich nicht sehr bekannt gewesen zu sein – dass er aber ein echter Star war, der wie Wilen zu der sehr kleinen Gruppe von Europäern gehörte, die schon in den Vierzigern Bebop verstanden und ihre Sporen auch durch Arbeit mit Amerikanern (Don Byas und Lionel Hampton bei Montoliu, Miles Davis und Art Blakey bei Wilen) abverdient hatten.

Ich bin jedenfalls vom ersten Eindruck her ziemlich begeistert!

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