Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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gypsy-tail-wind
Winterthur, Stadthaus – 06.12.2018

Musikkollegium Winterthur
Thomas Zehetmair
Leitung
Carolin Widmann Violine
Wolfgang Amadeus Mozart Ouvertüre zur Oper „Die Zauberflöte“, KV 620
Dieter Ammann „unbalanced instability“, Konzertsatz für Violine und Kammerorchester (2012/13)

Johannes Brahms Sinfonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
Am Donnerstagabend schleppte ich mich dann, nach geschaffter, strenger Woche bei der Arbeit und mit heftiger Erkältung, doch noch nach Winterthur. Und zum Glück kapitulierte ich nicht! Es gab direkt vor dem Konzert eine Einführung mit Ammann, der erzählte, wie sein Werk 2012/13 (für die Wittener Tage für neue Kammermusik, wo es 2013 von Carolin Widmann mit dem WDR Sinfonierochester Köln uraufgeführt worden ist – war @vorgarten damals vielleicht dabei?) entstanden ist, überhaupt, wie er beim Komponieren vorgehe. Dazwischen wurden Ausschnitte gespielt, die das Gehör schärften für die folgende Aufführung im seltsamen Saal im Stadthaus Winterthur, einem typischen historistischen Protzbau von Gottfried Semper, der bis 2015 tatsächlich auch Regierungssitz war und parallel seit 1934 als Konzertsaal des Musikkollegiums Winterthur dient, das eine lange Geschichte hat (von 1922 bis 1950 wurde es von Hermann Scherchen geleitet und spielte in den Jahren über 120 Uraufführungen). Die Einführung fand im Stadtratszimmer statt, wo wohl einst die Exekutive tagte – und ein Blatt mit Noten, eine Kopie von Ammanns handschriftlicher Reinschrift der Solo-Kadenz kurz vor dem Ende des Werkes, durfte ich auch noch mitnehmen.
Thomas Zehetmair ging mit dem Orchester im Herbst schon in seine dritte Saison, und so lange hat es auch gedauert, bis ich es schaffte, endlich Karten für Konzerte zu kaufen (im Frühling höre ich noch Nelson Freire mit Brahms‘ zweitem Klavierkonzert). Die laufende Saison steht im Zeichen von Brahms, dessen Orchesterwerke und Konzerte aufgeführt werden (die vier Symphonien werden auch mitgeschnitten und sollen nächsten Frühling auf CD erscheinen). Doch los ging es, quasi zum Aufwärmen, mit der Ouvertüre zu Mozarts Oper „Die Zauberflöte“. Das kam eher als Aufwärmübung rüber, mit Amman gibt es keine Berührungspunkte. Zudem wurden auch schon gewisse Schwächen des klein besetzten Orchesters (Streicher: 6-5-5-4-3, glaube ich) bzw. von Zehetmairs Dirigat deutlich: es wurde zwar sehr engagiert musiziert (und dirigiert), aber mit der Genauigkeit in der Phrasierung haperte es da und dort ein wenig. Präzise ist Zehetmairs Gestik gerade nicht, eher zielt sie – manchmal mit weit ausholenden Bewegungen – auf die Interpretation, die Gestaltung. Im Kleinen wäre etwas mehr Genauigkeit nicht falsch, aber darunter könnte dann wieder die Gestaltung leider, wer weiss …
„Caro“, so wird Widmann von Freunden gerufen – und damit fängt Ammans Konzert an: C, A, D („re“), G („sol“ – das „do“ zu wiederholen fand er nicht so interessant), pizzicato von der Solistin gezupft, ganz leise, wiederholt mit anderen Techniken, Abstufungen, schliesslich Reaktionen des Orchesters hervorrufend, die sich allmählich verdichten, stapeln. So entwickelt das Werk sich tatsächlich in einer Art nicht-ausbalancierten Instabilität, es gibt keine Hinweise darauf, wie es weitergehen wird, was folgen mag. Ein langer Satz, in dem die Solistin auch einmal vom Orchester verschluckt wird, in dem das Sehen und das Hören nicht mehr übereinstimmen: die Solistin müht sich sichtlich an schnellen Läufen und Griffen ab, aber zu hören ist: nichts. Dann wieder übertrumpft sie das Orchester scheinbar mühelos, spielt glanzvoll virtuose Passagen, die durchaus an die grosse Konzert-Tradition erinnern, doch auch das ist natürlich nicht das Ende der Weisheit. Klanglich ist der Orchestersatz sehr reich, neben den Bläsern (je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner, eine Trompete und eine Posaune) gibt es eine Harfe und einiges an Schlagwerk. Daraus mischt Ammann immer wieder neue Klänge zusammen, die Streicher spielten teils auch einzelne bzw. pro Gruppe mehrere Stimmen, was das ganze zu einem ziemlich undurchsichtigen Teppich werden lässt. Widmann glänzt dann ein letztes Mal in der erwähnten Solo-Kadenz, die zum Ende des Werkes hinführt, und in die Ammann Versatzstücke anderer Werke aus Widmanns Repertoire aufgenommen hat, wie er bei der Einführung erläuterte (er nannte leider keins dieser Werke, erkannt habe ich natürlich nichts). Am Ende dann, es gesellen sich wieder einzelne Streicher dazu, spielt die Geige ihren tiefsten Ton, die leere G-Saite, verklingt beinah, und das Cello spielt denselben Ton als eine Art Echo – und mit einem Bartók’schen Pizzicato schneidet die Solistin diesen Ton dann durch. Finis.

Corona macht’s möglich – das Musikkollegium füttert derzeit seinen Tuben-Kanal mit einigen Live-Mitschnitten, und darunter ist seit einigen Tagen auch Ammanns Violinkonzert für Carolin Widmann, „unbalanced instability“ (in der Tube peinlicherweise falsch benannt, Ammann hat’s kommentiert):

Muss ich mir auch wieder zu Gemüte führen!

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