Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Neue Konzertreihe Zürich – Zürich, Tonhalle-Maag – 09.02.2020

András Schiff Klavier

Johann Sebastian Bach «Das Wohltemperierte Klavier» Teil II, BWV 870-893

Ich habe im Bach-Faden schon ein paar Zeilen zu diesem monumentalen Konzert geschrieben. Es ging um 19 Uhr los und dauerte inkl. Pause fast drei Stunden. Zum Auftakt spielte Schiff das C-Dur Präludium, dann richtete er sein Wort an das Publikum (der Saal war voll, es wurden wieder einmal – ist bei den Konzerten von Grigory Sokolov jedes Mal so – zusätzliche Stuhlreihen auf die Bühne hinter den Flügel gestellt). Schiff erzählte ein wenig über das Werk, holte auch etwas aus und äusserte sich zu den Goldberg-Variationen, zum Musikalischen Opfer, spielte deren Hauptmotive am Flügel … im Programmheft findet sich auch sein Text zur ECM-Einspielung des WTC, in dem er sich ebenfalls über die Aufführungspraxis äussert. Dass ein Clavichord nicht für den heutigen Konzertbetrieb taugt, dass das Werk überhaupt eh nicht für letzteren geschrieben wurde, dass mit dem Pedal höchst behutsam umzugehen gelte usw. Die kurze Ansprache zu Beginn des Konzertes war mir aber etwas zu schnell, zu oberflächlich, er hätte gerne ein paar Hinweise oder Andeutungen in die Tiefe machen dürfen statt billiger Lacher abzuholen („man stelle sich vor, Trump würde so ein Motiv schreiben und einen Komponisten beauftragen …“ – obwohl die Herkunft des Motivs der Goldberg-Variationen soweit ich weiss nicht wirklich geklärt ist, aber Schiff, so scheint mir, hat wohl das eine oder andere für sich geklärt und beharrt dann auch darauf – was ja auch vollkommen in Ordnung ist). Aber gut, die Mischung aus Demut und Selbstbewusstsein war irgendwie auch sehr sympathisch, dass da ein denkender Mensch sitzt, wurde schon klar. Weniger klar ist für mich, ob ich diese Gedanken kennen muss, ob nicht das Hören allein reicht (es sagt ja dann doch auch genug über das Denken aus, dünkt mich). Das Konzert widmete er den kürzlich verstorbenen Freunden Peter Schreier und Peter Serkin.

Dann fing Schiff wieder von vorne an, das Präludium C-Dur erklang also zum zweiten Mal, und nun galt es ernst. Schiffs Instrument ist eine spezielle Anfertigung des neuen Bösendorfers 280VC in Pyramiden Mahagoni, ein Instrument, dass so farbig schimmerte, wie die Musik, die Schiff diesem entlockte (hier gibt es Fotos und mehr aus Luzern vor ein paar Jahren, und hier ein Bild, auf dem das ganze Instrument zu sehen ist). Das Faszinosum dabei war, dass er kaum zu gestalten, zu interpretieren schien: wenig Agogik, wenig „Emotion“ – all das formt sich unter Schiffs Händen aus der Musik Bachs selbst. Es machte den Anschein, als sässe er bloss da und gebe quasi die Noten ein.

Der enorme Reichtum der Musik bei gleichzeitig völlig Transparenz war das andere scheinbare Paradox der Aufführung. Schiff setzte das Pedal sehr zurückhaltend ein – gemäss seiner Erläuterung (im Programmheft bzw. CD-Booklet glaub ich, nicht Teil seines kurzen Vortrages) dient es nur dazu, je nach Raumklang die Töne ein wenig zu verstärken, niemals dient es dazu, ein Legato zu erzwingen oder zu einem Verwischen der Töne. Das, so wurde mir auch bei der kleinen „Nachbearbeitung“ zuhause klar, aus der sich ja eine kurze Diskussion im Bach-Thread ergab, hat wohl damit zu tun, dass Schiff die Vorgehensweise der historischen Aufführungspraxis kennt und soweit für ihn sinnvoll/passend auf dem modernen Instrument berücksichtigt. Er spielt also ziemlich viele Verzierungen, auch scheint dieser neue Bösendorfer-Flügel zumindest in der Ausführung für Schiff und unter dessen Händen einen sehr obertonreichen Klang zu bieten. So war ich denn wenig erstaunt, dass die in der verlinkten Diskussion erwähnten Aufnahmen von Gould und Gulda viel weiter weg von Schiff sind als die Einspielung von Schornsheim am Cembalo (zu Christophe Rousset griff ich in der Zwischenzeit dann auch noch, seine Aufnahme gefällt mir eventuell nochmal etwas besser; von Pierre Hantaï gibt es ja leider nur das erste Buch, aber er hat ja noch etwas Zeit).

Unter dem Strich ein fesselndes, aber auch ein Kräftezehrendes Unterfangen – und ein enorm faszinierendes Erlebnis, dieses ganze Ding im Konzert zu hören und in so exzellenter Qualität obendrein. Die idealtypische Sichtweise auf Bach ist das für mich zwar eher nicht (entsprechend kommt die ECM-Box auch nicht auf meinen Einkaufszettel), aber was Schiff bot war in sich stimmig (auch ganz ohne seine Worte davor). Er scheint eine klare Vorstellung zu haben, wie er das Werk umsetzen will, und tut das dann auch so, und dem allein gebührt schon grösster Respekt.

Nachtrag: die Rezension der NZZ, die ich anderswo schon verlinkt hatte:
https://www.nzz.ch/feuilleton/mit-leichtem-schritt-ins-tiefste-mysterium-andras-schiff-spielt-in-zuerich-das-wohltemperierte-klavier-ld.1539804

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