Antwort auf: Lesefrüchte

#10998345  | PERMALINK

Anonym
Inaktiv

Registriert seit: 01.01.1970

Beiträge: 0

Lektüre heute: Vladimir Jankélévitch, Von der Lüge, Hamburg 2016 [geschrieben 1942], S. 56:

„Der Ort eines Geistes bleibt unbestimmt, wenn man von ihm sagt, er sei entweder im Wahren oder im Falschen; unser komplizierter Geist, die tausend Nuancen der Empfindlichkeit, der Koketterie und der schamhaften Ambivalenz gehen nicht auf im polaren Gegensatz von Wahrheit und Irrtum. Wer würde leugnen, dass man unrecht und dabei recht haben kann? Zwei leidenschaftliche Bewusstseine, zwei Personen treten in Beziehung zueinander, und schon spannen sich von der einen zur anderen die unentwirrbaren Fäden der Lüge, der Eigenliebe und der Eitelkeit; alles verstrickt sich: Das Gleiche wird zum anderen und das Gegenteil zum eigenen Gegenteil; die Worte haben keinen Sinn mehr, noch das Prinzip der Identität und selbst der kühlste Kopf, benebelt vom Wind des Wahnsinns, von diesem Genie der Verwirrung, weiß nicht mehr, was er denkt. Daher rührt die Schwierigkeit, eine klare und eindeutige Aussage worüber auch immer zu erhalten. Die Evidenz ist nicht länger unbestritten und selbst unsere Überzeugung wird nicht nur von den Spuren unseres Begehrens geprägt, sondern auch von denen des Glaubens, den wir anderen unterstellen oder den uns andere unterstellen.“

Und S. 103, wenigstens mit deutlicherem Musik-Bezug:

„Ohne Zweifel inszeniert auch der Opernsterbende die Umstände und Präliminarien seines Hinscheidens, jedoch nicht den Moment des Sterbens selbst; die ‚letzten Augenblicke‘, wie man würdevoll sagt, nicht aber den großen Sprung ins Leere. Diesen Sprung, der immer schweigend ist. Wie beim Tod der Melisande – niemand hat etwas gesehen noch gehört. So ist auch in der Erzählung des Phädon [Platos] der erhabene Tod des Sokrates, dieser Tod, göttlich gerade, weil so prosaisch. Er spricht keine historischen Worte, sondern er sagt: Opfert Äskulap einen Hahn – so wie er auch hätte sagen können, vergesst nicht, den Briefträger zu bezahlen. Abgesehen davon, dass ein Tod, selbst ein pathetischer, ein würdevoller Protest gegen die Verkommenheit und Lüge der Menschen sein kann und dass auch die hochtrabende Ausdrucksweise einen tiefen Ernst aufweisen kann. Andererseits ist der Tod nicht nur der Eingriff, das reine Fremde, noch einzig die totale Tragödie: Er ist auch die Isolierung der Selbstheit, er löst ihre sämtlichen Verbindungen zur Welt, das heißt zur Fiktion auf; er lässt sie allein, nackt, hilflos, nicht einmal in der Lage, sich als etwas auszugeben …

Tu descends là-bas seulette / Dans le froid royaume des morts.“

[Du steigst mutterseelenallein dort hinab / Ins kalte Reich der Toten. – Pierre Ronsard, „À son âme“]

--