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Rückblick Saison 2018/19 – Teil 1
Seit fast einem halben Jahr habe ich hier nur noch höchst lückenhaft berichtet, ich will das wenigstens in groben Zügen nachholen … ich kann dabei z.T. glücklicherweise auf Zeilen zurückgreifen, die ich jeweils nach den Konzerten an Freunde schickte, denn vieles verblasst doch im Gedächtnis. Andererseits kristallisiert anderes sich ja gerade auch heraus mit der Distanz.
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Zürich, Tonhalle-Maag – 11.04.2019
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi Leitung
Arcadi Volodos Klavier
OLIVIER MESSIAEN „L’Ascension“, Quatre Méditations Symphoniques
LUDWIG VAN BEETHOVEN Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll Op. 37
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LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 4 B-Dur Op. 69
Das zweite (oder war es schon das dritte?) Programm des Tonhalle-Orchesters mit seinem demnächst antretenden neuen Chefdirigenten („music director“ heisst das jetzt, wohl auf seinem Mist gewachsen) Paavo Järvi brachte einmal mehr Musik von Olivier Messiaen – demnächst erscheint auf alpha eine CD mit den Aufnahmen früher Messiaen-Werke des Tonhalle-Orchesters unter Järvi, teils wohl bei diesen Konzerten mitgeschnitten, teils im leeren Saal, so genau weiss ich das nicht. Das Konzert hatte es jedenfalls in sich. Los ging es – und das passte bestens zum Konzert am folgenden Tag, s.u. – mit „L’Ascension“ von Messiaen, dann schlurfte Arcadi Volodos auf die Bühne und fläzte sich auf seinen Stuhl (ein normaler aber sehr tief gestellter Stuhl, wie ihn die Orchestermusiker hatten), er lehnte gemütlich nach hinten, war dann aber hellwach, wenn er zu spielen hatte, tat das zugleich total locker und total fokussiert – sehr faszinierend. Nach der Pause folgte dann noch die vierte Symphonie, und hier wurde Järvis Stärke wohl am deutlichsten: er lässt die Musikerinnen zugleich sehr frei spielen, fast kammermusikalisch (und bei der recht grossen Besetzung und in alter Aufstellung, also zweite Geigen vorne rechts – finde ich sollte man immer so machen, zumal für Klassisches/Romantisches – auch durchaus nicht immer perfekt zusammen). Aber Järvi forderte auch, gab präzise Anweisungen, schöpfte die Dynamik aus, das alles klang wunderbar frisch und spontan, aber eben auch sehr klar ausgestaltet. Järvi hat dann auch die Art, noch eine Orchesterzugabe zu spielen (oder auch zwei), diesmal gab’s was längeres von Beethoven (eine Leonore-Ouvertüre oder sowas wohl, keine Ahnung). Mit der Zugabe von Volodos, der Umbaupause und der Pause ging das alles zweieinhalb Stunden, die zweite Konzerthälfte begann erst, als kürzere Konzerte sich schon dem Ende zuneigen: Järvi fordert auch vom Publikum einiges (was mit Messiaen ja eh schon getan ist, bedauerlicherweise – sollte doch längst Mainstream sein und regelmässig aufgeführt werden), und das gefällt mir sehr gut bzw. das finde ich eigentlich die einzige richtige Einstellung. Ich freue mich jedenfalls sehr darauf, zu verfolgen, wie sich das alles mit ihm als Chefdirigenten entwickeln wird.
Christian Wildhagen berichtete für die NZZ – eigentlich über ein seltsames Konzert vom Propheten Currentzis in Luzern, mogelte da aber am Ende noch einen Kontrapunkt ein zum obigen Programm:
https://www.nzz.ch/feuilleton/charisma-ist-nicht-alles-musik-erblueht-erst-aus-der-freiheit-ld.1474775
Susanne Kübler schrieb im Tagesanzeiger (11.4., das Programm wurde vom 10. bis 12. dreimal aufgeführt, ich war bei der mittleren Aufführung am Donnerstag) über den geschärften Beethoven, der in der Vierten zum Vorschein kam, diese „klang fast moderner als Messiaen“ und fügt in einer Klammer hinzu: „denn auch das gehört zu Järvis Talenten: dass er Hitparadenwerke als jene Kühnheiten interpretiert, die sie einmal waren“. Die Zugabe identifiziert sie, wie ich gerade erst sehe (Programme aufbewahren und Rezensionen dreinlegen mag eine altmodische, aber unter Umständen eben doch hilfreiche Angewohnheit sein), es war die Overtüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“.
Noch eine Rezension gibt es auf Seen and Heard International zu lesen:
https://seenandheard-international.com/2019/04/the-age-of-paavo-jarvi-beckons-for-the-tonhalle-orchestra-zurich/
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Zürich, Museum für Gestaltung – 12.04.2019
Collegium Novum Zürich
PIERLUIGI BILLONE Muri IIIb für Streichquartett (2010)
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CLAUDE VIVIER „Cinq Chansons“ für ein bis drei Schlagzeuger (1980)
CLAUDE VIVIER „Pulau dewata“ – Version für Klavier und 3 Schlagzeuger (1977)
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GÉRARD GRISEY „Vortex temporum“ für sechs Instrumente (1994–1996)
Grisey hat mich total umgehauen – und dass man (was ja wohl angestrebt ist?) total das Zeitgefühl verliert, war wirklich der Fall. Ich hätte gesagt, das seien 20 Minuten gewesen und wo jetzt Teile 2 und 3 bleiben (obwohl ich die Abfolge mitgekriegt hatte, das Ding dauert ca. 40 Minuten).
Der Komponist Edu Haubensak, der vor ein paar Jahren in der NZZ auch einen längeren Grisey-Essay veröffentlichte, war da, der ganze Abend war moderiert, für die ersten zwei Werke unterhielt sich jeweils einer der Musiker mit dem Musikwissenschaftler Jens Schubbe, der durch den Abend führte, bei Grisey war’s dann eben Haubensak. Hier ein Artikel, den er 2016 über Grisey schrieb:
https://www.nzz.ch/panorama/hommage-an-gerard-grisey-die-aufloesung-der-zeit-ld.132291
Losgegangen ist der Abend mit einem Stück von Billone für Streichquartett – bisher kannte ich von ihm nur Solo-Werke (für Gitarre bzw. Violine/Viola, auf je einer Kairos-CD). Konventionell gespielt oder gestrichen wurde da kein einziger Ton, aber das Ding entwickelte Sog. Es war die erste von drei „Klanginseln“, zu denen auch Einzeltickets erhältlich waren (ich denke, die meisten waren aber wie ich für den ganzen Abend da, zwischen den drei Stücken, die jeweils um 19, 20 bzw. 21 Uhr auf die volle Stunde begannen, gab es unten im Foyer Häppchen und Getränke aufs Haus.
Der zweite Block mit Musik von Claude Vivier war für meine Ohren eher uninteressant, das klang mir fast etwas nach New Age, die Minimal Music stand wohl Pate, es gab Patterns, Patterns, Patterns. Dann tauchte ein Klavierstimmer auf (seine Tochter mit ihrem Panda-Teddybär war mit dabei) und sorgte für Irritation bei den Leuten, die im Saal blieben: „Man hat mich beauftragt, das so zu stimmen“ … der Pianist des Collegium Novum Zürich, Gilles Grimaître (bei Vivier spielte Asia Ahmetjanova), der wohl hinter dem ganzen Abend stand, war aber da, um zu erklären und auch um zu testen, ob denn die Mikrotöne wirklich passten. Ich war hundemüde, was bei Vivier wohl nicht half (aber es war egal), bei Grisey aber den Sog wohl noch verstärkte – entschlummert bin ich jedenfalls nicht. Unglaublich tolle, reichhaltige Musik, die ich gerne direkt noch einmal gehört hätte, als sie zu Ende war.
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Zürich, Tonhalle-Maag – 15.04.2019
Grigory Sokolov Klavier
LUDWIG VAN BEETHOVEN
Sonate für Klavier Nr. 3 C-Dur Op. 2 Nr. 3
Elf Bagatellen Op. 119
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JOHANNES BRAHMS
Sechs Klavierstücke Op. 118
Vier Klavierstücke Op. 119
Da mag ich jetzt nicht mehr viel schreiben – es war, wie es bei Sokolov halt ist: Halbdunkel, Pinguin kommt, Pinguin sitzt und spielt, Pinguin geht, und am Ende bei den üblichen Sechs Zugaben dasselbe in Kurz. Doch wie er spielt hat es natürlich noch immer in sich – Jörg Huber schreibt in der NZZ-Rezension: „Die Auratisierung, und das ist wohl sein Geheimnis, lenkt nicht ab, sondern verführt zum genauen Hinhören.“ Eine Beethovensonate zum Aufklang, danach seltener gespieltes Repertoire, das im Konzert zu hören eine Freude ist. Sokolovs Brahms klang wohl in der Tat irdischer als der von Glenn Gould, schwerer wohl, wie auch der Beethoven durchaus in der russischen Linie stand, mit Kanten und auch mal mit starker Hand geschmettert wurde – doch nie so, dass man sich gewundert hätte, nein. Sokolovs Sichtweise schien mir in allem stimmig. Von den Zugaben konnte ich am Ende doch die meisten identifizieren. Es gab als erstes das Schubert Impromptu As-Dur (D 935), dann Mazurka a-Moll Op. posth. 68 Nr. 2, danach ziemlich sicher Rameaus „Les Sauvages“, und als letzte (sechste) dann Debussy, „Les pas dur la neige“, ein zarter Hauch, ein ganz leiser Ausklang.
Hier der NZZ-Bericht von Jörg Huber:
https://www.nzz.ch/feuilleton/mit-herz-hand-und-hirn-grigory-sokolov-in-zuerich-ld.1476000
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Mailand, Scala – 30.04.2019
Ariadne auf Naxos
Opera in un prologo e un atto – Libretto di Hugo von Hofmannsthal
Musica di Richard Strauss
Conductor Franz Welser-Möst
Staging Frederic Wake-Walker
Sets and costumes Jamie Vartan
Lighting Designer Marco Filibeck
Video Sylwester Łuczak & Ula Milanowska
Der Haushofmeister Alexander Pereira
Ein Musiklehrer Markus Werba
Der Komponist Daniela Sindram
Der Tenor / Bacchus Michael Koenig
Ein Offizier Riccardo Della Sciucca*
Ein Tanzmeister Joshua Whitener
Ein Perückenmacher Ramiro Maturana*
Ein Lakai Hwan An*
Zerbinetta Sabine Devieilhe
Ariadne Krassimira Stoyanova
Harlekin Thomas Tatzl
Scaramuccio Kresimir Spicer
Truffaldin Tobias Kehrer
Brighella Pavel Kolgatin
Najade Christina Gansch
Dryade Anna-Doris Capitelli*
Echo Regula Mühlemann
*Student of the Teatro alla Scala Academy
Teatro alla Scala Orchestra
Ende April und bis am 1. Mai war ich ein paar Tage in Italien, ein Tag im Nest Vigévano mit seiner Piazza, dann zwei im sehr sehenswerten Pavia und schliesslich ging es wieder nach Mailand in die Oper, davor aber auch an die extrem beeindruckende Ausstellung im Rahmen der Triennale. Und Am Vortag vor dem Opernbesuch ging ich auch endlich mal ins Scala-Museum. Bei dem (lohnenswerten) Besuch gab es dann auch noch die Möglichkeit, hinter Plexiglas der Orchesterprobe für das Konzert am Abend beizuwohnen, Riccardo Chailly dirigierte, Emmanuel Tjeknavorian spielte das Violinkonzert von Sibelius, ich hörte ungefähr die zweite Hälfte, den Abend verbrachte ich dann aber ohne Programm.
Die Scala bot am nächsten Tag dann einen äusserst konventionellen aber in sich stimmigen, runden Opernabend (so schrieb auch die NZZ in einem Artikel, an dem es um die Scala unter Chailly und verschiedene Aufführungen dort ging). Ich war auf die Aufführung aufmerksam geworden, als ich Monate davor die Website von Regula Mühlemann nach Konzertterminen durchsuchte – und als ich sah, dass Sabine Devieilhe und Krassimira Stoyanova mitwirkten, dachte ich, das sei doch einen Versuch bzw. Besuch wert. Die Oper kannte ich davor noch gar nicht (die Böhm-Aufnahme liegt seit Mitte April auf dem Hörstapel, aber in den Player ging sie noch nicht). Gesungen und gespielt war das sehr gut, Stoyanova beeindruckte, Devieilhe bezirzte, das Trio aus Najade, Dryade und Echo war wunderbar … überhaupt alles sehr solide bis auf das dämliche Bühnenbild im ersten Akt und den miserablen Auftritt von Pereira, der so lahm und derart ohne Schmäh war, dass es geradezu jämmerlich war – es gab denn auch Buhs für ihn (der – später gestoppte – Deal mit den Saudis war damals aber auch noch in der Schwebe). Auf jeden Fall ist dieses selten Ding, die „Literaturoper“ etwas, was mich höchst fasziniert, neulich ja auch schon beim grossartigen Rosenkavalier (auch mit Stoyanova und Devieilhe) hier in Zürich.
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Zürich, Tonhalle-Maag – 02.05.2019
Rudolf Buchbinder Klavier
Zürcher Kammerorchester
Willi Zimmermann Konzertmeister
JOSEPH HAYDN Klavierkonzert D-Dur Hob. XVIII:11
WOLFGANG AMADEUS MOZART Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur KV 467
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WOLFGANG AMADEUS MOZART Klavierkonzert Nr. 25 C-Dur KV 503
Am Tag nach der Rückkehr ging ich zu Rudolf Buchbinder, der mit dem Zürcher Kammerorchester gleich drei Klavierkonzerte spielte, Haydn D-Dur (Hob. XVII:11), KV 467 und nach der Pause KV 503. Das war superb – und als Programmidee eine schöne Alternative zum üblichen (Konzert // Symphonie oder: Overtüre/Orchesterstück/Konzert // Symphonie). Buchbinder beeindruckte mich sehr, das war zwar alles andere als HIP, aber die ganzen Debatten um Authentizität sind doch auch längst zur Zeiterscheinung verkommen. Das ZKO trat jedenfalls sehr beweglich und glasklar auf, was zu Buchbinder ebenfalls sehr gut passte, denn auch er ist bei allen Können auch einer, der Klarheit und Schlichtheit, wie sie gerade bei Mozart so zentral sind, nie aus den Augen verliert. Ich bevorzuge bei heimischen Hören ja eigentlich die etwas älteren Pianisten, aber es ist schon jedes Mal ein Glück, einen Musiker dieses Kalibers im Konzert hören zu dürfen.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba