Antwort auf: 2017: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Hans Koch/Manuel Troller, Kris Davis/Angelica Sanchez, Jacques Demierre/Urs Leimbgruber/Barre Phillips + Thomas Lehn – Jazzfestival Willisau – 2. September 2017
 

 
Gestern endete mein persönlicher Festivalsommer mit einem guten, aber nicht herausragenden Tag in Willisau. Los ging er mit Heinz Holliger und Patricia Kopatchinskaja sowie der Camarata Zürich und Thomas Demenga in Luzern, weiter ebenda mit Monterverdis L’Orfeo unter Gardiner, dann ging es ans Météo – Mulhouse Music Festival und erneut nach Luzern, wo Kopatchinskaja und Holliger einmal mehr im Zentrum standen. Den Abschluss nun machten drei Konzerte in Willisau, von denen das dritte mit dem Besten gehörten in diesen zwei Wochen unbedingt mithalten konnte. Zunächst ging es um 11 ans Konzert der Reihe „Intimities“, in der Solos, Duos oder eher etwas ruhigere Musik vorgestellt, dann um 14 Uhr ans Nachmittagskonzert mit zwei Gruppen. Dass ich den Tag nicht super fand hatte am Ende wohl weniger mit der Musik zu tun als mit der Atmosphäre, die mir in Willisau einfach nicht so richtig passen will – das war letztes Jahr beim Zorn-Marathon etc. auch nicht grundlegend anders.

Schade, aber irgendwie habe ich in der Schweiz fast immer ein Problem damit, wenn Festbänke in Zelten stehen und Volksfeststimmung aufkommt. Wobei ich dieses Problem wohl auch anderswo hätte, aber gerade solche Stimmung kommt in Mulhouse nun echt nicht auf, wo das abendlich genutzte Festivalgelände etwas ausserhalb zwischen Tramdepot und Hôtel de Police findet, während in Willisau viele Anwohner des stockkonservativen Hinterlands den Samstag- und Sonntagnachmittag dort zu verbringen scheinen – im Zelt gibt es auch noch gefällige Musik von jüngeren Bands aus der Region, gestern war das Le Rex aus Luzern, ein Quintett mit Alt- und Tenorsax, Posaune, Tuba und Drums, die Hard Bop mit faux New Orleans-Einschlag spielten, alles etwas gar geschliffen, aber der Applaus war wohl grösser als fürs krönende Konzert der alten Herren am Schluss des Nachmittagsblockes. So ist das eben, und das mag ich nunmal nicht. Aber gut, zur Musik …
 

Hans Koch/Manuel Troller – Los ging es um 11 Uhr im Dach des Rathauses mitten in der Altstadt – dass diese nicht autofrei ist, ist unverständlich (das Bild ganz oben entstand auf dem Heimweg, als ich vor dem Regen davonrannte, der mich kurz vor dem Bahnhof noch einholte, aber als der grosse Wolkenbruch kam, war ich schon im Schärme, wie man hier sagt). Hans Koch an der Bassklarinette und am Sopransaxophon (mit Effekten, die nie reisserisch eingesetzt wurden) und Manuel Troller an akustischer und elektrischer Gitarren fingen sehr leise aber höchst konzentriert an, sie schienen sich aneinander heranzutasten. Troller erwähnte nach dem Set, dass ihm dieser ruhige Einstieg sehr gut gefallen hatte, mir kam er etwas zu eng vor, als würden die beiden zu sehr aufeinander reagieren wollen, was die Entwicklung verlangsamte bzw. verunmöglichte, wenn es denn in extremis geschehen wäre – doch das geschah natürlich nicht, allmählich entwickelten sich Bögen, beide schöpften die klanglichen Möglichkeiten ihrer Instrumente aus, Troller hatte die Gitarre zunächst flach auf seinen Knien liegen und bearbeitete sie mit einem Bogen und anderen Utensilien, herkömmliche Gitarrentöne gab es im Verlauf des Sets zwar auch, aber nur Klangfetzen, einen Akkord, einzelne Töne, die ins Geschehen eingeworfen wurden, später im Set an der elektrischen Gitarre manchmal mit einer groben Wucht. Koch setzte vor allem die klanglichen Mittel der Bassklarinette in ihrer ganzen Vielfalt ein, liess sie summen, knurren, heulen und schreien, spielte mit Luftströmen, streckte ein anderes Mal das Sopransaxophon in die Höhe, um mit Speichelgeräuschen zu spielen (dasselbe sollte Urs Leimgruber im dritten Set auch wieder machen).

Ein feines, nachdenkliches und reichhaltiges Set zum Einstieg * * * *
 

Kris Davis/Angelica Sanchez – Um 14 Uhr ging es in der grossen Festhalle weiter, zwei längere Sets, die insgesamt mehr Musik boten als die etwas kurzgeratenen Dreierblöcke des Zorn-Marathons letztes Jahr (dort gab es jeweils dreimal 40 Minuten und fliegenden Wechsel, Drums und alles war für alle Gruppen aufgebaut, es mussten jeweils bloss vorne ein paar Stühle, Mikrophone und Notenständer umplaziert oder entfernt werden. Davis sagte Sanchez an, meinte, sie würden jetzt einfach mal eine Stunde spielen, ohne zu reden, und das geschah dann auch. Die beiden Flügel waren ineinandergeschoben, Davis sass rechts am vorderen, Sanchez links am hinteren. Zum Zuschauen etwas schwierig, auf die Hände sehen wäre höchstens von ganz hinten mit Fernglas gegangen (die Bühne ist hoch, die meisten Sitzreihen flach), zudem gab es von hinter der Bühne elend mühsames Licht (das auch die Handykamera völlig überforderte, wie man unschwer sehen kann). Immerhin sass ich zwischen den Photographen in der vordersten Reihe in der Mitte und konnte sie beide immer sehen. Sie gingen mit der Herausforderung – sich nicht in den Weg zu kommen und dennoch zusammen zu spielen – äusserst gekonnt um, mal wechselten sie kurze Phrasen, dass spielte eine nur mit der linken Hand in der tiefsten Lage, während die andere darüber improvisierte. Klanglich war Davis spitzer, Sanchez runder und weicher – was wenigstens teils an den Instrumenten gelegen haben mag, aber schon auch zu meiner Wahrnehmung der beiden passt – wobei ich Sanchez ja noch nicht sehr gut kenne. Die Musik war streckenweise wohl etwas gefällig, sie schienen vorbereitetes Material zu spielen, Kompositionen oder wenigstens Konzepte, die nie so eng wirkten wie jene, die mir letztes Jahr beim Duo mit dem Zürcher Saxophonisten Christoph Irniger sehr auf die Nerven gingen. die beiden waren mit höchster Konzentration bei der Sache, Sanchez hatte sehr oft ein Lachen im Gesicht und ganz offensichtlich gelang ihnen, was sie vorhatten. Eine kurze Zugabe spielten sie dann auch noch, Mich vermochte es nicht restlos zu überzeugen, aber auch das passt wieder ins bisherige Bild, denn so richtig komme ich ihnen beiden nicht auf die Schliche – aber ich bleibe dran! (Und würde Sanchez sehr gerne mal solo oder im Trio hören – aber ich glaube nicht, dass sie schon oft in Europa spielte.)

Fazit: * * * * bis * * * * 1/2
 

Urs Leimgruber/Jacques Demierre/Barre Phillips + Thomas Lehn – Nach einer halbstündigen Pause ging es weiter mit dem phänomenalen Trio Urs Leimgruber (ss, ts), Jacques Demierre (p) und Barre Phillips (b). Für das Konzert in Willisau stiess Thomas Lehn an analogen Synthesizern dazu – Skepsis war diesbezüglich fehl am Platz, bei mir hatte sowieso die Vorfreude überwiegt, dieses Trio – und Barre Phillips! – endlich einmal live erleben zu können. Die Klänge, die Lehn seinem Instrumentarium entlockte, fügten sich bestens in die Klangströme ein, die das Trio entfaltete. Es gab unglaublich leise Passagen (in denen die Photographen rund um mich herum mit ihrem Geklacker ziemlich nervig waren, aber sie gaben sich doch grosse Mühe, nicht zu stören), die allmählich in Klangwellen mündeten, die alles zu überrollen schienen und in denen die vier Musiker zu einer völlig organischen Einheit verschmolzen. Leimgruber kehrte ja spätestens mit der Reunion von OM, die auch in Willisau stattfand, auch wieder zum herkömmlichen Spiel zurück – davon war in diesem Konzert nicht viel zu hören, klar, aber dass es auch einbezogen wird, wenngleich nur in Fragmenten (ähnlich wie zuvor bei Koch/Troller) erweitert natürlich die eh schon unfassbare Klangpalette, die er zu bieten hat. Besonders freute ich mich aber darauf, Barre Phillips endlich einmal live zu hören. Ich hatte im Vorfeld gehört, er sei krank gewesen, hätte in der letzten Zeit einige Konzerte absagen müssen. Als ich früh auf meinen Platz zurückkehrte, war er dabei, sich aufzuwärmen, stand allein mit seinem Bass auf der grossen Bühne. Sein Spiel enttäuschte nicht, war aber klanglich fand ich eher bescheiden zu hören – das allerdings ist das Dilemma der ersten Reihe: die beiden Flügel zuvor hörte ich praktisch unverstärkt in echt, beim letzten Set klappte das mit Lehn und dem Bass natürlich nicht und der Sound des Basses litt ein wenig darunter. Aber nichtsdestotrotz, was die vier vorführten war freie Improvisation vom Allerfeinsten – es gab zärtliche Momente, leise, weite Bögen mit geschicktem Spannungsaufbau und -abbau, wilde Klangfluten, in denen man schier zu ertrinken drohte, immer wieder raffinierte Brechungen durch alle vier Beteiligten.

Grossartig, da kann es nur eine Bewertung geben: * * * * *

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