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kritikersliebling

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Marius Müller-Westernhagen -Das erste Mal
WEA 1974

Es war Herbst, „wir“ waren seit dem Sommer Fußballweltmeister und ich erinnere mich an vier Wochen Urlaub auf Langeoog. Da war ich sechs Jahre alt. Mein Bruder, wesentlich älter, hatte diese LP und ich durfte sie an guten Tagen mit ihm zusammen hören.
Wenn es so was wie einen musikalischen Lebenslauf gibt oder Wurzeln, die man nicht kappen kann, egal wie peinlich sie sind, will man nicht verleugnen. Dieses Album hat mich damals geprägt und hat mich bis heute begleitet. Sicherlich sind die Texte auch naiv oder die Reime billig, doch es gab keine besseren – damals. „Horsti“, der gutgemeinte Versuch einer Absage an den Kapitalismus und an die Erwartungshaltung und Opener des Albums „rockt“ unplugged. Unplugged kannten wir noch nicht. Jemanden der Horst heißt und so alt ist wie wir kannten wir auch nicht. Und es war mir egal – damals.
Der Hit „Wir waren noch Kinder“ bekam ca. elf Jahre später eine neue Bedeutung, als ich ihn auf der Gitarre spielte und eine von mir ins Auge genommene Dame ihn sogar kannte. Zu dem Song trafen sich die, die sich zuvor erst kennen gelernt hatten und schon im Zeichen der lebenslangen Schwüre befanden. Die Sehnsucht nach Schottland, bzw. saftigem Grün, so wie der Rasen der WM. „Marion aus Pinneberg“ ist ein überdrehter Partyhit mit der inhaltlichen Zerrissenheit von Freizeit und Pflichtbewusstsein. Sicherlich kindlich naiv betrachtet und überhaupt nicht rebellisch.
Zu der Zeit war der Taximann noch sein Geld wert und es kam ein Mercedes. Wichtiger war jedoch die Kommunikation mit dem Fahrer, wenn der Wirt die Hähne umgedreht hat. Und Katrin – die konnte einem dann gestohlen bleiben bis der Kater vorbei war. Es folgt ein Lied über den verstorbenen Vater, das in mir die Hoffnung wachsen ließ, niemals so einen Text schreiben zu müssen. Es hat geklappt – wo soll ich mich bedanken? Anschließend das Lied über die Mutter („… sie macht noch was zu essen, auch wenn sie abgespannt…“ Das war wichtig in der Zeit von Salzstangen, Coktailsessel und Käse-Weintrauben-Spießen), in dem Westernhagen seine Schwäche der Mutterliebe offenbart und gleichzeitig entschuldigt. So war das damals in den 70ern. Es war uncool und somit provokant, verletzlich und bewusstseinserweiternd. Was der Typ in Zelle Nummer zehn macht ist mir zwar schon immer egal gewesen, aber nicht ihm, dem Westernhagen. Was hier nur andeutungsweise beschrieben wird, ist der Beginn eines roten Fadens, den er vier Jahre später in „Grüß mir die Genossen“ wieder aufnimmt.
Oh du schöner Wohlstand. „Fasten Seat Belts“ gleich mal als englischer Titel beschreibt seine Flugangst und vermittelt etwas elitär: „Seht mal, ich kann fliegen, was für ein Stress“. Das ist ziemlich von oben betrachtet, wie alles in der Fliegerei. Bevor protestiert werden kann, kommt uns Westernhagen noch mal kumpelhaft und verkündet: „Es geht mir wie dir“. Das ist schön, doch hätte ich auch gern so ein Debüt und anschließende Optionen auf alles. Der Epilog ist nicht mehr als die letzten Worte auf einem großen Werk.
Die Songs sind nicht die besten von Marius Müller-Westernhagen, aber es gab ja noch keine anderen und was er hier mit Peter Hesslein als Produzent und Mitmusiker aufgenommen hat ist noch immer eins der erstaunlichsten deutschen Debüts. Allein dem überdrehten Chor gilt meine Anerkennung. Das klingt zwar alles nach Udo ´77, aber besser als die No Angels, Perfektion hin oder her. Nichts war perfekt und nichts war synthetisch – und nichts hat gefehlt.

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Das fiel mir ein als ich ausstieg.