Antwort auf: blindfoldtest #23 – gypsy tail wind

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gypsy-tail-wind
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Okay, ich muss jetzt meine Tracks verteidigen? ;-)

Keine Ahnung, ob ich das überhaupt kann … dass ich gestern rasch auf dem Smartphone unterwegs zu meiner abendlichen Verabredung den Relevanz-Begriff hervorgekramt habe, ist natürlich mein eigner Fehler  :scratch:

Aber die Frage ist schwierig und auch irgendwie absurd (und so gesehen wieder ganz einfach), denn dass der Jazz in den Siebzigern in so viele Richtungen ging, dass er quasi zersplitterte, ist ja nichts Neues (wir hatten dazu eine grössere Diskussion … hab gerade eine halbe Stunde gesucht, guck mal in diesen Thread). Ich glaube es geht seit der Post-Marsalis-Zeit (die ja eigentlich die Zeit von ganz anderen Leuten war, aber das Scheinwerferlicht zeigte halt auf die hübschen jungen Konservativen, die man auch so gut vermarkten konnte … ich verweise da auch nochmal auf das Interview mit James Newton, das ich oben schon erwähnte, wirklich sehr, sehr lesenwert) nicht mehr darum, Innovation als Weiterentwicklung eines Jazz-Hauptstromes zu betreiben, denn eben: es gibt diesen Strom nicht mehr. Er läuft gewiss da und dort weiter, aber „Haupt-“ kann bzw. muss man wohl streichen, denn er ist halt einer unter vielen. Diese Öffnung ermöglichte es wohl auch den Europäern erst, sich zu emanzipieren („european free improvisation“ und all das, setzt ja auch in den späten Sechzigern ein und kommt in den Siebzigern zur Reife … aber auch da, das gehört ja wohl mit in die Schublade der

vorgartenform der „freien“ improvisation gibt, die sich an sich nicht groß weiter entwickelt hat

bzw. es IST diese Schublade? Aber da vermischen wir wohl längst mit einer Selbstverständlichkeit Dinge, die an sich nicht wirklich zusammengehören bzw. von der Herkunft her nicht und auch von der Ausgestaltung her auch nur bedingt, die aber oftmals nebeneinander präsentiert werden? Also: was ein Parker (Evan, that is), ein Bailey, ein Brötzmann, ein Schlippenbach tun, hat mit dem Jazz-Strom schon was am Hut, aber da entstand eben was Neues – natürlich nicht im luftleeren Raum, aber gerade die Zersplitterung (die ja keine Zerstörung ist sondern eher eine kreative Öffnung in alle möglichen Richtungen, mit allen Vor- und Nachteilen, die sowas halt mit sich bringt) war gerade auch der Moment, in dem Musiker, die nicht aus dem US/afro-amerikanischen Kontinuum stammten, die Chance kriegten, ihr eigenes Ding einzubringen (davor gab es eher Leute, die die Sprache perfekt lernten, aber bei denen man schwerlich behaupten kann, sie hätten sie mitgeformt: René Thomas, Bobby Jaspar, René Urtreger, Tubby Hayes, Victor Feldman, Hans Koller, Barney Wilen, was weiss ich, mehr oder weniger die Hard Bopper halt, wobei ein Wilen oder ein Koller später den einen oder anderen Impuls gab, ein Mangelsdorff wohl auch, ebenso ein Gruntz – die blieben halt auch recht lange dabei). Vielleicht kann man bösartig (ich bin mir fast sicher, das gewisse US-Kritiker das auch tun) auch sagen: das ist nichts Neues, das ist auch nur ein Abklatsch von Dingen, die in den Sechzigern schon getan wurden (irgendwo zwischen Coltrane, Taylor und Bill Dixon; auf die Chicagoer beziehen die Europäer sich ja irgendwie eher nicht, scheint mir, denn dort läuft eben der afro-amerikanische Strom auf eine Weise weiter, dass man sich nicht so gut herauspicken kann, was man braucht, um innerhalb des Idioms seinen eigenen Idiolekt zu formulieren).

Ein paar lose Gedanken beim Wiederhören der Tracks:

#2 – hier höre ich eine eigenwillige Stimme am Piano, die das Instrument als Ganzes spielt (was für mich gerade das Gegenteil von „musikinstrumente gegen die betriebsanleitung gespielt“ ist) und dabei Wege findet, Eigenes mit Traditionen zu verbinden, die natürlich nicht nur aus dem afro-amerikanischen Hauptstrang des Jazz kommen.

#3, #4 und #11 sind dann Tracks, die aus diesem Hauptstrom kommen oder zu ihm gehören, #5 wohl auch – dort geht es mir übrigens sehr ähnlich wie @vorgarten, ich kann das auch nicht wirklich einordnen. #10 gehört da auch wieder mit dazu, da ist schlicht die Stimme am Tenorsaxophon, die mir sehr gut gefällt, und das reicht dann eben auch. Da muss man natürlich nichts von „relevant“ hinausposaunen, denn es geht am Ende ja oft nur persönliche Vorlieben.

Und da sind wir dann auch wieder bei der Schwierigkeit, im Aktuellen überhaupt feste Urteile zu fällen, Dinge zuzuordnen. Das muss man ja an sich auch gar nicht tun, aber bei der Entwicklung der Diskussion gerade wäre es wohl hilfreich, wenn ich dabei nicht so kläglich scheitern bzw. mich auch sträuben würde.

Gut, nochmal:

#6 ist in meinen Ohren wirklich eine eigene Stimme, eine eigene Sprache – ich kenne so etwas nicht. Aber klar, man kann sagen: Cecil Taylor, Marilyn Crispell, auch Irène Schweizer, Alexander Schlippenbach, unter den jüngeren vielleicht Alexander Hawkins, die alle hätten sowas auch drauf … dann entgegne ich aber: Zurück auf Feld 1, ein Dutzend Alben kaufen, hinsitzen, hören! Und danach reden wir wieder ;-)

Beim Ghosttrack (b#5b oder wie heisst der jetzt in der Nomenklatur? ;-) ) empfinde ich das auch so, auch bei #12, ebenso bei b#3 … klar haben schon andere in den Flügel gegriffen, vielleicht gibt es aus anderen Ecken (Minimal? Sonstwas – halbwegs – Zeitgenössisches?) Ähnliches, aber da kenne ich mich dann wiederum nicht gut aus.

Da sind übergall Bruchlinien drin und dennoch ist ein starker Gestaltungswille da, aber ihr merkt ja, dass es mir auch nicht leicht fällt, zu diesen Tracks klare Worte zu finden. Das ist wohl auch das Risiko, wenn man sich mal so ganz der aktuellen Musik zuwenden in seinem solchen Rahmen. Aber das soll die Polemik und die klaren Worte der Kritik nicht hemmen, im Gegenteil, wäre es anders herum, würde ich mich ja auch zurückhalten.

#7 (da liegt Ihr richtig @vorgarten und @brandstand3000, war ja klar) ist für mich nur ein Platzhalter für eine aktuelle Strömung, die mir enorm gut gefällt. Was ich meine sind Gruppen von vornehmlich jüngeren Leuten (heisst wohl so um die 30-40 in diesem Fall), die eine eigene Musik machen, die sich um Genres foutiert (auch darum, ob wer meint, irgendwas sei ein Musikhochschulthema), die aber vor allem auf das Kollektiv baut und dennoch jedem Einzelnen darin Freiräume lässt, sowohl was den individuellen Ausdruck betrifft als auch was die Mitgestaltung des Kollektivs angeht … sprich zurücklehnen und warten, was der Bandleader will, reicht nicht. Da, denke ich, entsteht gerade etwas Neues bzw. etwas, was es in der Geschichte des Jazz erst seit den späten Sechzigern in der Form gibt (Liberation Music Orchestra, Art Ensemble) und aus dem sich nie viel entwickelt hat, abgesehen von den Protagonisten, die das schon damals prägten (und inzwischen halt im Begriff sind, abzutreten, wenn sie nicht schon verschwunden sind).

Ähnliches könnte man wohl auch zu b#1 oder b#5 sagen, da ist der Rahmen natürlich viel kleiner. Das sind dann überhaupt Tracks aus Alben, die ich phantastisch finde und denen ich nichts Vergleichbares entgegenhalten kann, egal ob wir in den Siebzigern, den Achtzigern oder sonstwo gucken.

So, und jetzt mal gucken, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, auf die einzelnen Kommentare einzugehen :-)

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba