Neuschreibung der Bluesgeschichte

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Neuschreibung der Bluesgeschichte

Ansicht von 12 Beiträgen - 1 bis 12 (von insgesamt 12)
  • Autor
    Beiträge
  • #15417  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Ich möchte eine Diskussion zum RS-Artikel im Heft 5/2004 von Bernd Gockel anregen.
    Hier meine erste Antwort und Leserbrief zur Frage: Muß die Geschichte des Blues neu geschrieben werden?

    Na, Herr Gockel, wo haben wir den Musikgeschichte studiert?
    Oder anders gefragt: Was wollten Sie uns mit dem Artikel denn sagen?
    Lassen Sie mich einige Ihrer Feststellungen kommentieren.
    Haben Sie ernsthaft an die Geschichte mit dem Teufel am crossroad geglaubt, oder was verwundert Sie oder den Autor so plötzlich, dass es so ein Treffen gar nicht gab? Und Clapton wusste sowohl um den Mythos (..it ain’t nessarily so …) als auch die Wirkung der Bluesmusik Robert Johnsons. Wieso sollte er das nicht zum Ausdruck bringen …?

    Wer behauptet denn, dass der Blues nur der Aufschrei der „armen, farbigen Landbevölkerung“ ist. Wo steht das geschrieben? Das behaupten weder die Bluesmusiker noch die weißen Musikkritiker der 60er Jahre. Kein ernstzunehmender Bluesmusiker oder Autor schreibt so etwas über den Blues. Gegen wen zieht Elijah Wald ins Feld ….? Lesen Sie nach bei Paul Oliver oder Samuel B. Charters über die Themen des Blues (geschrieben übrigens 1959/60)!

    Und wenn die Bluesmusik aus dem Delta eine „Erfindung“ der weißen Musikkritiker sein soll, wo kommt sie dann her? Und wie konnte sich ein städtischer Blues ohne den Countryblues entwickeln? Das kann man übrigens bei schwarzen Bluesforschern nachlesen (Amiri Baraka – Blues People).

    Dass Blues auch immer populäre Musik war, auch Unterhaltungsmusik, ist ja nun wirklich nicht neu. Und wenn Sie sich Bilder von Bluesmusikern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansehen, dann gehörte das „Outfit“, wie man wohl heute sagt, fast immer dem vornehmeren Stil an. Über die Ursachen können Sie auch nachlesen. Bei der Gelegenheit lesen Sie bitte auch gleich noch nach, wie komfortabel die Hintereingänge zu den Spielstädten im Süden der USA in den 50 und 60er Jahren waren, die B.B. King nutzen musste in einer von Rassismus strotzenden Umgebung!

    Die Entwicklung der Bluesgeschichte an einem Bluesmusiker festzumachen („unbedeutende Randfigur…), habe ich noch nirgendwo gelesen. Es zeugt allenfalls von der Ignoranz des Autors, die vielen anderen schwarzen Musiker, von denen es nie eine Aufnahme gab, die den Blues aber weitergaben, so dass wir wenigstens Teile dieser großartigen schwarzen Volksmusik kennen, zu würdigen.

    Bluesmusik war nie vordergründig Protestsong. Ich wüsste auch nicht, wer das behauptet. Er war immer die musikalische Beschreibung des Lebens Schwarzer in Amerika. Und was an einem geknechteten, verschleppten und versklavten Volk Idyll sein soll – das müssen Sie mir schon mal erklären.

    Ich möchte Ihnen keinesfalls Rassismus vorwerfen, allerdings zeugt der ganze Artikel von wenig Sachkenntnis, oder zumindest von schlampiger Recherche. Und wenn das Buch wirklich so sensationell neuer Erkenntnisse vermittelt (die anderen Bücher erwähnen Sie leider nicht), dass die Geschichte der Bluesmusik umgeschrieben werden muss, dann erwarte ich vom Rolling Stone einen fundierten Artikel dazu.

    Leider beantworteten Sie Ihre Eingangsfrage nicht. „Muss die Geschichte des Blues neu geschrieben werden?“
    Vielleicht könnten Sie mir auf diesen (sicherlich schon etwas erbosten) Brief, die Antwort zukommen lassen.
    Auf eine Diskussion freue ich mich schon jetzt

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
    Highlights von Rolling-Stone.de
    Werbung
    #2129213  | PERMALINK

    mitchryder

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 25,961

    --

    Di. & Do. ab 20.00 Uhr, Sa. von 20.30 Uhr Infos unter: [/COLOR][/SIZE]http://www.radiostonefm.de
    #2129215  | PERMALINK

    whole-lotta-pete

    Registriert seit: 19.05.2003

    Beiträge: 17,435

    Der ganze Schmonzes basiert wohl auf der Idee, möglichst sensationell zu landen – mit einer gewagten These. Ähnlich den ganzen versponnenen Verschwörungstheorien werden bevorzugt Behauptungen hinter Fragezeichen versteckt. Muss die Geschichte des Blues neu geschrieben werden? Hat Elvis in Florida einen Anglerladen? Wurde Jimi Hendrix von Ausserirdischen aus nem Ufo abgeworfen – und danach wieder geholt? Fällt auf, dass keine Antworten gegeben werden, aber die Behauptungsfragerei angebliche Tatsachen ins große Rampenlicht rückt? Erinnert mich an die gestellt Mondlandung oder den Witz letztens hier mit Bielefeld, das gar nicht existiert…

    --

    RadioStoneFm.de[/URL][/SIZE][/COLOR][/SIZE]
    #2129217  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Herr Gockel hat freundlicherweise auf meine „Angriffe“ geantwortet. Die Antwort und die weitere Diskussion veröffentliche ich, wenn er sein ok gibt.

    Keep on rocking …

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
    #2129219  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Nach dem Ok von Bernie Gockel seine Antwort auf meinen Brief:

    Hallo Herr Herrmann,

    dann wollen wir mal in den Clinch gehen.
    Zunächst einmal muss ich einräumen, dass ich beim Schreiben des Artikels einen geradezu diabolischen Spaß hatte, weil ich ständig an unseren hauseigenen Meinungsdiktator, Osama bin Doebeling, denken musste. Ich bin mir absolut sicher, dass er mich nach der Lektüre des Artikels am liebsten erwürgt hätte – was mich nur nur noch mehr dazu animierte, den Sachverhalt etwas krasser darzustellen, als es der Sache vielleicht dienlich war. Ich kann mich noch erinnern, dass mir – als ich den Satz schrieb: „Der Countryblues war vor allem eine Erfindung weißer Musikkritiker in den 60er Jahren“ – durch den Kopf ging, dass das schon arg überspitzt war. Also, um Sie zu beruhigen: Ich leugne natürlich nicht die EXISTENZ des Delta-Blues (wäre ja auch meschugge), es ging mir ausschließlich um die spätere REZEPTION und Umdeutung.

    Andererseits habe ich aber auch den Eindruck, dass Sie sich absichtlich dumm stellen, wenn Sie mir gewisse Sachen unterschieben wollen. Wenn ich von dem „Idyll“ rede, meine ich natürlich nicht die reale Situation der Betroffenen, sondern die verklärte weiße Geschichtsklitterung, die die wirklich populären schwarzen Musiker und Spielarten als oberflächlich und unwichtig abtat, um umso mehr ihre eigene „Blut, Schweiß & Tränen“-Mentalität auf den Deltablues zu projizieren.
    Und:“Muss die Geschichte des Blues neu geschrieben werden?“Meinen Sie nicht, dass da ein Augenzwinkern zwischen den Zeilen erkennbar ist?

    Ihrer Verteidigung von Clapton („it ain't necessarily so“) kann ich mich leider nicht anschließen. Darf ich mal aus der Abschrift des Radio-Interviews zitieren, das Clapton zu seinem Johnson-Album gab? „I think that, you know, I, I was, I was so happy, really just to identify with the legend, you know, and the, and the whole notion of the, of the, you know, the black hearts and, and, you know, and selling his soul and becoming a genius over night. All of that was really attractive to me as a kid.“Ich bin selbst in den 60ern groß geworden und kann mich noch gut erinnern, wie dieser faustische Humbug völlig unkritisch kolportiert wurde. Von Weißen, natürlich. Son House hatte in dem besagten Interview 1966 nur gesagt, dass Robert Johnson zwar ein hervorragender Mundharmonikaspieler, aber ein lausiger Gitarrist gewesen sei – und dass sich das 6 Monate später (es waren in Wirklichkeit wohl zwei bis drei Jahre) so extrem geändert habe, dass das nur mit dem Teufel habe zugehen können.

    Statt nun nochmal die Thesen von E. Wald zu paraphrasieren, habe ich Ihnen einmal einige Pressestimmen angehängt, die sich mit meiner Einschätzung decken. Zunächst einmal ein kurzer Ausschnitt aus der NY Times vom 28.2., dann ein längerer Review aus der „Washington Post“, zum Schluss eine Besprechung von „Robert Johnson – Lost and Found“, das bereits vor gut einem Jahr erschien. (Und ja, es gibt noch mehr Bücher, die sich mit ähnlichem Tenor mit diesem Phänomen beschäftigen.)

    Viel Spaß bei der Lektüre
    wünscht,
    BG

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
    #2129221  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Hallo Herr Gockel,

    vielen Dank für Ihre schnelle Antwort und die beigelegte Lektüre. Den diabolischen Spaß, den Sie beim Schreiben des Artikels hatten, kann ich mir gut vorstellen. Gern wäre ich auch Zeuge der Würgeaktion von Herrn Doebeling gewesen. Aber sie „flüchteten“ ja ziemlich schnell wieder zurück nach Amerika. So viel zum Spaß.
    Meine Kritik am Artikel betrifft zum einen die stilistische und zum anderen die inhaltliche Ebene. Beides jedoch zusammen verleiht dem Artikel einen Charakter der Widersprüchlichkeit, des Lavierens oder des Nicht-Wissens.
    Natürlich sollen oder können Artikel in dieser Art Zeitschrift witzig klingen und nicht den Stil einer wissenschaftlichen Dissertation annehmen. Bin ich aber altmodisch, wenn ich von einem Journalisten erwarte, dass er das schreibt, was er meint?
    Idyll meint ein friedliches, beschauliches Bild des Lebens. Und da ist Ironie unmöglich, wenn man das auf die Lebensbedingungen einer unterdrückten Bevölkerung bezieht. Oder hat die Druckerei die „Gänsefüsschen vergessen“ – damit drückt man Ironie aus.
    Osama Bin Doebeling meint Terrorist und nicht Meinungsdiktator. Auch wenn es lustig und spritzig klingen soll, und man damit auch mal ein Scherzchen machen darf, ist es eben nicht die Entsprechung für das, was Sie ausdrücken wollten. Meinungs-Ayatollah wäre da möglicherweise der richtige Begriff gewesen.
    Das klingt alles wie die berühmte „Krümelkackerei“ und ich höre den Vorwurf schon, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen…. Im Prinzip einverstanden. Da sich dieser Stil jedoch im Artikel mit inhaltlichen Schwächen verbindet, habe ich damit ein Problem. Ist der Spagat zwischen dem Anspruch, ein seriöses Rockmusik-Magazin zu produzieren, und den kommerziellen Zwängen, diese Zeitschrift zu verkaufen, zu groß? An der Bildung und Erfahrung kann es ja nicht liegen, dafür sind Sie zu lange im Geschäft. Aus der Sicht des Journalisten können Sie mir sicherlich eine Antwort zukommen lassen.
    Zum Inhalt.
    Möglicherweise habe ich die falschen Bücher über den Blues gelesen. Eine Umdeutung oder „Romantisierung“ des Deltablues konnte ich bei den Autoren ( Samuel Charters, Paul Oliver, Amiri Baraka, Ben Sidran und Greil Marcus) nicht entdecken. Oder gibt es in der letzten Zeit in Amerika solche Veröffentlichungen zum Thema, inklusive der Filmserie zum Blues (Scorsese), in denen die Geschichte des Country-Blues dermaßen verfälscht wird? Dann ist die Absicht von Wald und anderen löblich, das wieder gerade zu rücken. Wenn Wald schreibt, dass zum Zeitpunkt, als Robert Johnson und andere Bluesmusiker umherzogen und die ersten Schallplattenaufnahmen machten, der Großteil der schwarzen Bevölkerung eine andere Musik als den Deltablues in den Kneipen und Spelunken bevorzugte, dann hat er zweifellos Recht. Aber was ist daran so neu?
    An dieser Stelle muss ich nachhaken, was mit „wirklich populären Musikern und Stilarten“ gemeint ist. Die Country-Bluesmsuiker waren es nicht, wenn es um Verkaufszahlen, Auftritte und Charterfolge usw. geht. Das ist klar. Wenn die „heiße“, mehr am Rhythm & Blues oder Jazz angelehnte Musik gemeint ist, dann war sie zweifellos populärer, aber deswegen wichtiger? Über diesen Konflikt denke ich schon seit Jahren nach (auch im Hinblick auf andere Stile der Rockmusik), ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Welcher Wertigkeit kommt Popularität zu, und wie oft in der Geschichte der Popmusik hat das Nicht-Populäre neue Entwicklungen initiiert?
    Deshalb trenne ich immer gern den kommerziellen Erfolg (den Robert Johnson und die anderen Bluesmusiker seiner Generation, die aus dem Delta kamen, nie hatten) und die Wirkungen, die in der populären Musik erzielt werden. Der Country-Blues war zu seiner Zeit (in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) nicht die dominierende populäre schwarze Popmusik. (Es gab sogar innerhalb der schwarzen Community immer auch Kritiker, die den archaischen Blues als etwas Minderwertiges betrachteten.) Wenn er deshalb nicht den Einfluss auf die Entwicklung, sagen wir, des Jazz, City Blues, Folk oder Rock ‚n’ Roll gehabt hat, wie es viele Publikationen beschreiben, dann könnte ich den Begriff Romantisierung ja verstehen. Aber warum schreiben Sie es dann nicht so? Da Sie das Buch gelesen haben, wäre es ein Leichtes gewesen, die falsche Rezeption anhand von Beispielen darzustellen.
    Verstehe ich die Kritik von Wald richtig, wenn er meint, der Deltablues habe auf die schwarze Popmusik nie den Einfluss gehabt, wie behauptet wird (z.B. bei Greil Marcus als Vorwegnahme des Rock ‚n’ Roll – nicht als Stil, sondern als Wesen)?
    Und wenn ich Sie richtig verstehe, geht es letztlich um die Wertigkeit des Blues in der Popgeschichte des schwarzen Amerikas. Aber woher bezieht Wald seine Erkenntnisse, welche Quellen hat er denn genutzt – oder hat er Bekanntes nur anders interpretiert?

    Dass der Country-Blues eine weitreichende Bedeutung hatte und nicht nur durch weiße Musikkritiker Anfang der 60er Jahre in diese Höhe gehoben wurde, kann man an der Musik hören. Wurden nicht durch den Country-Blues wichtige Teile der afrikanischen Musikkultur, wie das Phrasieren, das Spielen mit den Tonhöhen, um die Bedeutung zu verändern, bis hin zur Erzählweise in Versen (die trotz aller Macht-oder Hilflosigkeit in den beiden ersten Zeilen vielfach auch eine dritte ironische Zeile anfügte) weiter getragen? Das alles kann man in den Liedern von Robert Johnson und den anderen hören.
    Lassen Sie mich eine These aufstellen: Gäbe es die Rap-Musik ohne die orale Tradition des Erzählens schwarzer Musiker?

    Und in noch einem Punkt muss ich widersprechen, wenn Lee Pearson und McCulloch formulieren, dass Robert Johnson von „seinen eigenen ländlichen afrikanisch-amerikanischen Wurzeln getrennt wurde“.
    Von ihren eigene Wurzeln abgeschnitten, wurden die Sängerinnen und Sänger in den Nachtclubs, Bars und Shows in den großen Metropolen Amerikas, wenn sie sich der europäisch geprägten Rhythmik und Melodik anpassten, um ein weißes Publikum zu erreichen.
    Von ihren eigenen Wurzeln abgeschnitten, wurden diejenigen schwarzen Künstler, die sich auf die europäisch geprägte Kommerzialisierung von Musik einließen.
    Sie trennten sich somit von den Ursprüngen afrikanischen Musizierens, das ein wichtiges kommunikatives Mittel (Stichwort „oral culture“) darstellte und einen entscheidenden Stellenwert in der afrikanischen Kultur und Gesellschaft besaß.
    Dass sie es taten, ist ihnen nicht vorzuwerfen, wenn man seinen Blick auf die Zustände der amerikanischen Gesellschaft mit all seinem Rassismus zu Beginn des 20.Jahrhunderts richtet.
    P.S. Clapton: Ungeachtet des Beitrages, den Clapton zur modernen Bluesmusik geliefert hat (bis 1971/72): Wenn dieser „Crossroad-Humbug“ ihm zu seiner Legitimation als Bluesmusiker dient, dann ist das Quark. Ich hatte ihn für realitätsbewusster eingeschätzt.

    Jörg Herrmann

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
    #2129223  | PERMALINK

    mitchryder

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 25,961

    --

    Di. & Do. ab 20.00 Uhr, Sa. von 20.30 Uhr Infos unter: [/COLOR][/SIZE]http://www.radiostonefm.de
    #2129225  | PERMALINK

    bernd-gockel

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 20

    Lieber Herr Herrmann,

    Was Ihre formale Kritik angeht: Präzision im sprachlichen Ausdruck sollte schon sein, und insofern muss ich zähneknirschend einräumen, dass ich „Idyll“ wohl besser in unmissverständliche Gänsefüßchen hätte setzen sollen. Sicher ist sicher.
    Aber die – wie sagt da der Geisteswissenschaftler so schön? – Dichotomie von „seriösem Rockmusik-Magazin“ einerseits und „den kommerziellen Zwängen, diese Zeitschrift zu verkaufen“ andererseits, die atmet mir doch arg den schweren Geist abendländischer Kulturgeschichte, if you know what I mean. (Hallo Wolfgang!) Und, talking of the devil: Der Kosename „Ayatollah“ für Wolfgang Doebeling ist zwar auch ganz hübsch, aber ich bleib lieber bei meinem Osama. Semantische Missverständnisse hin oder her.

    Was Ihre inhaltliche Kritik betrifft, so bin ich in vielen Details ja durchaus Ihrer Meinung, aber tendenziell geht mir Ihre Position trotzdem auf den Keks. Bevor wir hier nun im seminaristischen Overkill enden, möchte ich das Thema von einer ganz anderen, sozusagen volkstümlichen Seite aufrollen: Ich lebe seit sieben Jahren in Alabama, und nein – es gibt hier nicht an jeder Straßenecke blinde Countryblues-Musiker, die mich zu einer Autorität auf diesem Gebiet hätten werden lassen. Aber man lernt doch eine Menge über die verschiedenen Lebenswelten von Schwarzen und Weißen. Neulich stand bei uns an der Ecke ein farbiger Gentleman, der offensichtlich auf dem Weg zu einer Hochzeitgesellschaft war – in giftgrünem Smoking, weißem Zylinder und lackierten Two-tone-Schuhen. „Cool“, hab ich gedacht, „die Nummer würde ein Weißer nie und nimmer bringen.“

    Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Schwarze haben nun einmal in einem weit größeren Maße als Weiße die Fähigkeit, sich emotional auszudrücken (muss wohl an dem „Muff aus 1000 Jahren“ liegen), und es waren vorwiegend schwarze Impulse (nicht zuletzt auch der Delta-Blues, gar keine Frage), die die populäre Musik der letzten 100 Jahre geprägt haben. Es waren dann aber fast ausschließlich Weiße, die diese Musik „erforscht“, tradiert und auch nach ihren emotionalen Bedürfnissen (um-)gedeutet haben. Es mag sein, dass ehrenwerte Autoren wie Samuel Charters, Paul Oliver, Ben Sidran und Greil Marcus nicht dafür verantwortlich zu machen sind, dass dem Delta-Blues das existenzialistische Mäntelchen umgehängt und – Im Falle Robert Johnson – noch mit faustischem Klimbim verbrämt wurde. (Obwohl ich einem zerebralen Winkeladvokaten wie Greil Marcus eigentlich auch keinerlei emotionale Affinität zu diesem Sujet attestieren möchte, aber das ist ein anderes Thema.) Nur, damit ist die Kuh ja noch nicht vom Eis. Ich habe das mehrteilige Scorsese-Opus nicht gesehen (und allein die Vorstellung, wie ein Wim Wenders diese ach so bodenständigen Delta-Blueser in einen ähnlich romantizierenden Exotik-Nebel hüllt wie seine Buena-Vista-Onkels, wird mich auch künftig davon abhalten), aber den Rezensionen nach zu schließen haben wir es hier doch genau mit dem Phänomen zu tun, das Sie einfach nicht wahrhaben wollen: Blues im Weichzeichner, die Saga vom ehrlichen Schweiß für das wohlsituierte Matinee-Publikum.

    Oder nehmen wir Clapton. Ich mag Sie daran erinnern, dass der Anlass meines Artikels nicht zuletzt das neue Clapton-Album war (dessen aseptische Belanglosigkeit nur ein weiteres Indiz dafür ist, dass sich Herr Clapton da Schuhe anziehen möchte, die ihm überhaupt nicht passen). Der junge Clapton ist in meinen Augen ein Paradebeispiel für das weiße Mittelstands-Kid, das sich in Ermangelung eigener existenzieller Erfahrungen kompensatorisch über eine ihn faszinierende Musiktradition hermacht – und dann eben auch für den Teufel-an-den-Crossroads-Schmuh empfänglich ist. Das gleiche Phänomen sehen Sie heute bei Wohlstandskindern (auch in Deutschland), die sich ein Stuessy-Käppi aufsetzen und dann zu einem baaaad motherfucker mutieren. Da werden dann hohle Gangsta-Schlagwörter mitgegröhlt (die kompletten Texte versteht eh meist keiner), ohne auch nur ansatzweise einen Bezug zu der sozialen Realität zu haben, aus der heraus diese Texte entstanden. Je akuter das Fehlen einer Identität, je nichtssagender die eigene Existenz, desto größer das Bedürfnis, sich diese Identität aus einem anderen, offensichtlich inspirierenderen Kulturkreis zu beleihen. Und für diese kompensatorische Meisterleistung ist Musik nun einmal das ideale Medium.

    Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, wie im Jahre 2080 eine von Weißen initiierte und fortgeschriebene Musikgeschichte des HipHop aussehen wird. Glauben Sie wirklich, das diese Historie untendenziös der gesellschaftlichen/musikalischen Realität des Jahres 2004 gerecht würde? (Und das, obwohl die medialen Artefakte aus der Jetzt-Zeit viel reichlicher vorhanden sein werden als die spärlichen Relikte aus der Robert-Johnson-Ära heute.)

    Das ist, keine Frage, sicher auch ein Manko des Musikjournalismus. Leider war die Suche nach farbigen Rolling Stone-Redakteuren bislang nie von Erfolg gekrönt, und auch das Angebot des Kollegen Hentschel, künftig als Minstrel-Neger seiner Tätigkeit nachzugehen, konnte und wollte ich nicht annehmen. Ich bin mir sicher: Aufmerksame Leser wie Sie hätten auch diesen Braten gleich gerochen.
    LG
    BG

    --

    #2129227  | PERMALINK

    bogie

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 426

    Danke, der Artikel im RS gewinnt doch noch etwas an Würze, durch diese lesenswerte Diskussion. Der Dank geht zu gerechten Teilen an den Professor und an Bernd Gockel. Den Artikel fand ich übrigens garnicht so spritzig und das als bekennender Bluesfan. Er gewinnt aber durch diesen Thread.

    Und das Clapton an Johnson scheitern mußte, ist ja keine Schande. Satansbrimbourium hin oder her, Herr Johnson war eben doch ein ziemlich teuflischer Gitarrist.

    --

    Hier könnte ihre Signatur stehen.
    #2129229  | PERMALINK

    bernd-gockel

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 20

    Professor Rock hatte leider die Zitate aus der amerikanische Presse unterschlagen, die ich ihm angehängt hatte. Deshalb hier nochmal separat: kurze Auszüge aus der „New York Times“, „Washington Post“ sowie ein Review von „Robert Johnson – Lost and Found“ von Barry Lee Pearson & Bill McCulloch, das bereits im letzten Jahre erschien…

    Mr. Wald and other critics argue that the discrepancy between Johnson's stature and his accomplishments stems from a fundamental misunderstanding of blues music by later, mostly white, writers…Mr. Wald continues: „It was invented retroactively as black folk music, which brought a new set of standards to bear on it and created a whole new pantheon of heroes. Suddenly the people who were the biggest stars were too slick to be real.“ Blues music, as Mr. Wald sees it, is simply part of a continuum of black pop. Robert Johnson, Leroy Carr and Bessie Smith were not moaning field laborers. „They were Sam Cooke, they were Snoop Dogg, they were Aretha Franklin. That's what we've forgotten, and that's what a lot of white blues fans don't want them to be.“

    Elijah Wald is not so interested in what the blues means in its year of distinction, but he is very interested in how it came to mean something other than what it once did. In Escaping the Delta, he sets out to explore „the paradox of [Robert] Johnson's reputation: that his music excited so little interest among the black blues fans of his time, and yet is now widely hailed as the greatest and most important blues ever recorded.“ Wald sees this paradox as symbolizing a larger gulf between the blues as heard by the black audience in its own time — who knew it as hip, popular music — and a later, mostly white audience that romanticized the blues as „the heart-cry of a suffering people.“ Not a book about Johnson per se, Escaping the Delta is a thoughtful, impassioned historical essay about that gulf.
    After a quick sketch of Johnson's life and a critical analysis of his recordings, Wald carries the story through to the folk-revival „discovery“ of the blues in the 1950s and the British Invasion's canonizing stamp of the 1960s, then adds a coda in which he seeks to lay permanently to rest the resilient myth that Johnson met the devil at a crossroads and sold his soul for other-worldly musicianship.
    Escaping the Delta is most engaged in the early going, as he dismantles genre stereotypes via endearing tidbits such as that blues singer Memphis Minnie's set list included George Gershwin's „Lady Be Good“ and that Johnson rated the Sons of the Pioneers' „Tumbling Tumbleweeds“ among his favorite songs. … Wald is rarely less than convincing when he makes his case for what Johnson and the prewar blues audience were actually hearing in their own day.
    Often it wasn't the blues. Repeatedly Wald drives home the point that neither the musicians nor the audience frequenting a Clarksdale, Miss., juke joint in 1937 likely limited their taste to visceral fare like Johnson's „Cross Road Blues.“ They'd probably never heard it. In Wald's estimation, black listeners tended to prefer the smooth, urbane vocals of the far better-selling (in Johnson's day) blues pianist Leroy Carr, and if the jukebox selections noted by a 1944 field recording team are any indication, some may have liked the „sweet band“ leader Sammy Kaye better than either.
    In this fashion Wald does not seek to temper admiration for Johnson and his brilliant Delta generation. Rather he wants to rescue them from a historical narrative he sees as having been edited by record producers (the blues were good business), folklorists (the blues were authentic) and Rolling Stones fans (the blues were outlaw), each of which had a separate agenda for the music.

    „Robert Johnson – Lost and Found“ von Barry Lee Pearson & Bill McCulloch
    Starting in the 1930's with a handful of jazz buffs, a procession of writers, most of them white, tried to fathom the life and music of Robert Johnson. With little to go on besides Johnson's recordings, the early writers wrongly portrayed him as a genius in coveralls, a farm worker whose music offered a glimpse back in time to the origins of jazz. One of the points of this book, a point clearly missed by some reviewers, is that many later writers doggedly continued to present fanciful views of Johnson and his art, even though such views were contradicted by a large and growing body of reliable information about Johnson and the tradition from which his music sprang. As Pearson and McCulloch document, Johnson was effectively separated from his own rural African-American cultural roots, and his rightful place in American musical history was taken by an imposter, a creation of marketing hype, cultural ignorance, and romantic imaginings. Although this book may annoy some of Johnson's dreamy fans, it's an important addition to the writing on this iconic blues musician, and I highly recommend it.

    --

    #2129231  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Lieber Herr Gockel,

    allerbesten Dank für Ihre Antwort, die mich wieder zum Nachdenken, Nachlesen und Nachhören animierte. Mittlerweile habe ich den Wim Wenders-Film gesehen und ich bin überzeugt, Sie hätten ihn in der Kritik zerfetzt.
    Ich bin mir immer noch nicht sicher, worum es in Ihrem Artikel wirklich ging.
    Wenn Sie anhand der Bücher von Wald & Co neue Aspekte in die Bluesgeschichte einbringen wollten, dann war das Thema verfehlt. (Aber das hatten sie ja mit dem „Augen-Zwinker-Ton ja ausgeschlossen). Denn alles was Wald & Co behaupten, wurde vorher auch schon beschrieben, sowohl von Schwarzen als auch Weißen.
    Wenn es Ihnen darum ging die Erforschung, Tradierung und Umdeutung des Blues bei weißen Kritikern, Musikern und Publikum zu kritisieren, bleiben bei mir einige Zweifel bestehen. Es drängt sich die Frage auf, was eine nicht-existenzialistische Betrachtung ist, wie man den Country-Blues nicht „weich zeichnet“, und die Saga entmystifiziert.
    Die konsequente Fortsetzung Ihres Gedankens kann ja nicht sein: Weiße dürfen über schwarze populäre Musik nicht schreiben. Oder auch: Weiße dürfen nicht zu schwarzem Beat rappen.
    Ich fand den Gedanken gut, „Je akuter das Fehlen einer Identität, je nichtssagender die eigene Existenz…“. Aber das Suchen nach Inspirierendem aus anderen Kulturkreisen hat ja eine lange Tradition, nicht nur in der Popmusik und ist im Grunde auch nicht zu verurteilen. Und um auf die weißen britischen Mittelstandskinder, die sich für den Country-Blues interessierten (wenn ich Sie korrigieren darf: die meisten kamen aus proletarischen Schichten) zurückzukommen: Was sollten Sie denn tun, in einer Zeit, die politisch geprägt war vom Niedergang des Britischen Empire und der gleichzeitigen Propagierung einer klassenlosen Konsumgesellschaft“. Deren kulturelle und moralische Normen so stark zementiert waren, dass die Jugendlichen im staatlichen Rundfunk so gut wie keine Popmusik hören konnten und Blues wie Rock ‚n’ Roll nur über Piratensender oder von Schallplatten, die Seeleute mitbrachten, gehört werden konnten. Und die sich darüber hinaus im Generationskonflikt mit Eltern und Lehrern befanden. Sollten sie sich mit der abendländischen Musiktradition, mit den englischen und schottischen Balladen beschäftigen? Im Gegensatz dazu finde ich interessant, dass sich amerikanische Collage-Studenten mit europäisch geprägter Volksmusik und deren Verwandlungen auf amerikanischem Boden beschäftigten und nicht mit dem Blues. Aber dafür gibt es eine Erklärung, die ich bei Thiessen fand: „Für die weißen amerikanischen Musiker war die Distanz zum Blues zu groß. Blues authentisch zu spielen, lernten sie von den englischen R&B-Bands. Ein Grund dafür scheint einleuchtend. Soziologisch wird der weiße Jugendliche in einer Gesellschaft der Rassendiskriminierung sich selbst immer als Privilegierter wahrnehmen. Selbst dann, wenn das falsches Bewusstsein ist und er selbst Proletarier, ist das System des Rassismus ja nicht zuletzt auf diese Wirkung gerichtet…Er pflegt das kulturelle Erbe des kolonialisierten Volkes, als der Kolonisator mit dem schlechten Gewissen.“ Diese „Berührungsängste“ brauchten die jungen Bluesmusiker um Alexis Korner z.B. nicht zu befürchten. Sie suchten eben das „exotische“ oder auch das „schockierende“ bis bewusst provozierende. Da kam ihnen die Kulturangebote Amerikas (ob Film oder Rock ‚n’ Roll) gerade recht. Dann kann man den Jugendlichen, die sich für die schwarze Bluesmusik interessierten doch keinen Vorwurf machen. Natürlich ist es dann auch, dass sich jemand mit diesem Thema theoretisch auseinandersetzt. Dass es bei einigen zu einer Ideologie auswuchs und dass Plattenfirmen und Promoter auch das kommerzielle Geschäft witterten und die Bluesmusiker von Festival zu Festival schleppten, wissen Sie so gut wie ich. Aber es wurde ein Anfang gesetzt, diese kulturellen Leistungen schwarzer Volksmusik auszugraben und bekannt zu machen. Was auch immer Clapton und andere daraus machten, sie waren „Botschafter einer fremden Musik“
    Dem Country-Blues braucht man kein existenzialistisches Mäntelchen umzuhängen. Er durchschritt alle Grenzbereiche. Er kannte den Tod, angefangen von der Versklavung bis hin zu den Lynchmorden noch im vergangenen Jahrhundert. Er kannte den Kampf um Nahrung, Obdach, Arbeit, Liebe und Frauen. Er kannte das Leiden – das gesellschaftliche ebenso wie das durch persönliche Schicksalsschläge bestimmte, das Leiden der Liebe, der Sucht …usw. Und er kannte die Schuld. Das hinderte ihn natürlich nicht, davon in den Kneipen, Spelunken, bei Parties, an den Straßenecken, in den Kirchen oder Aufnahmestudios zu sprechen. Das hinderte ihn auch nicht daran, damit Geld und Unterhalt zu verdienen, Aufmerksamkeit zu erregen, oder einfach mit Freunden Spaß zu haben. Dies und seine musikalischen Ausdrucksmittel, die ebenso bedeutend sind, haben nachhaltige Wirkungen auf die populäre Musik gehabt – egal ob von Schwarzen oder Weißen beschrieben.

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
    #2129233  | PERMALINK

    professorrock

    Registriert seit: 19.05.2004

    Beiträge: 51

    Anmerkung zum Oktoberheft:
    Ich bin wieder versöhnt durch die Beilage der Rare Trax zum Countryblues.

    Keep On Rocking
    Jörg

    --

    keep on rocking on www.rock-geschichte.de
Ansicht von 12 Beiträgen - 1 bis 12 (von insgesamt 12)

Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.