Re: Neuschreibung der Bluesgeschichte

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professorrock

Registriert seit: 19.05.2004

Beiträge: 51

Hallo Herr Gockel,

vielen Dank für Ihre schnelle Antwort und die beigelegte Lektüre. Den diabolischen Spaß, den Sie beim Schreiben des Artikels hatten, kann ich mir gut vorstellen. Gern wäre ich auch Zeuge der Würgeaktion von Herrn Doebeling gewesen. Aber sie „flüchteten“ ja ziemlich schnell wieder zurück nach Amerika. So viel zum Spaß.
Meine Kritik am Artikel betrifft zum einen die stilistische und zum anderen die inhaltliche Ebene. Beides jedoch zusammen verleiht dem Artikel einen Charakter der Widersprüchlichkeit, des Lavierens oder des Nicht-Wissens.
Natürlich sollen oder können Artikel in dieser Art Zeitschrift witzig klingen und nicht den Stil einer wissenschaftlichen Dissertation annehmen. Bin ich aber altmodisch, wenn ich von einem Journalisten erwarte, dass er das schreibt, was er meint?
Idyll meint ein friedliches, beschauliches Bild des Lebens. Und da ist Ironie unmöglich, wenn man das auf die Lebensbedingungen einer unterdrückten Bevölkerung bezieht. Oder hat die Druckerei die „Gänsefüsschen vergessen“ – damit drückt man Ironie aus.
Osama Bin Doebeling meint Terrorist und nicht Meinungsdiktator. Auch wenn es lustig und spritzig klingen soll, und man damit auch mal ein Scherzchen machen darf, ist es eben nicht die Entsprechung für das, was Sie ausdrücken wollten. Meinungs-Ayatollah wäre da möglicherweise der richtige Begriff gewesen.
Das klingt alles wie die berühmte „Krümelkackerei“ und ich höre den Vorwurf schon, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen…. Im Prinzip einverstanden. Da sich dieser Stil jedoch im Artikel mit inhaltlichen Schwächen verbindet, habe ich damit ein Problem. Ist der Spagat zwischen dem Anspruch, ein seriöses Rockmusik-Magazin zu produzieren, und den kommerziellen Zwängen, diese Zeitschrift zu verkaufen, zu groß? An der Bildung und Erfahrung kann es ja nicht liegen, dafür sind Sie zu lange im Geschäft. Aus der Sicht des Journalisten können Sie mir sicherlich eine Antwort zukommen lassen.
Zum Inhalt.
Möglicherweise habe ich die falschen Bücher über den Blues gelesen. Eine Umdeutung oder „Romantisierung“ des Deltablues konnte ich bei den Autoren ( Samuel Charters, Paul Oliver, Amiri Baraka, Ben Sidran und Greil Marcus) nicht entdecken. Oder gibt es in der letzten Zeit in Amerika solche Veröffentlichungen zum Thema, inklusive der Filmserie zum Blues (Scorsese), in denen die Geschichte des Country-Blues dermaßen verfälscht wird? Dann ist die Absicht von Wald und anderen löblich, das wieder gerade zu rücken. Wenn Wald schreibt, dass zum Zeitpunkt, als Robert Johnson und andere Bluesmusiker umherzogen und die ersten Schallplattenaufnahmen machten, der Großteil der schwarzen Bevölkerung eine andere Musik als den Deltablues in den Kneipen und Spelunken bevorzugte, dann hat er zweifellos Recht. Aber was ist daran so neu?
An dieser Stelle muss ich nachhaken, was mit „wirklich populären Musikern und Stilarten“ gemeint ist. Die Country-Bluesmsuiker waren es nicht, wenn es um Verkaufszahlen, Auftritte und Charterfolge usw. geht. Das ist klar. Wenn die „heiße“, mehr am Rhythm & Blues oder Jazz angelehnte Musik gemeint ist, dann war sie zweifellos populärer, aber deswegen wichtiger? Über diesen Konflikt denke ich schon seit Jahren nach (auch im Hinblick auf andere Stile der Rockmusik), ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Welcher Wertigkeit kommt Popularität zu, und wie oft in der Geschichte der Popmusik hat das Nicht-Populäre neue Entwicklungen initiiert?
Deshalb trenne ich immer gern den kommerziellen Erfolg (den Robert Johnson und die anderen Bluesmusiker seiner Generation, die aus dem Delta kamen, nie hatten) und die Wirkungen, die in der populären Musik erzielt werden. Der Country-Blues war zu seiner Zeit (in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) nicht die dominierende populäre schwarze Popmusik. (Es gab sogar innerhalb der schwarzen Community immer auch Kritiker, die den archaischen Blues als etwas Minderwertiges betrachteten.) Wenn er deshalb nicht den Einfluss auf die Entwicklung, sagen wir, des Jazz, City Blues, Folk oder Rock ‚n’ Roll gehabt hat, wie es viele Publikationen beschreiben, dann könnte ich den Begriff Romantisierung ja verstehen. Aber warum schreiben Sie es dann nicht so? Da Sie das Buch gelesen haben, wäre es ein Leichtes gewesen, die falsche Rezeption anhand von Beispielen darzustellen.
Verstehe ich die Kritik von Wald richtig, wenn er meint, der Deltablues habe auf die schwarze Popmusik nie den Einfluss gehabt, wie behauptet wird (z.B. bei Greil Marcus als Vorwegnahme des Rock ‚n’ Roll – nicht als Stil, sondern als Wesen)?
Und wenn ich Sie richtig verstehe, geht es letztlich um die Wertigkeit des Blues in der Popgeschichte des schwarzen Amerikas. Aber woher bezieht Wald seine Erkenntnisse, welche Quellen hat er denn genutzt – oder hat er Bekanntes nur anders interpretiert?

Dass der Country-Blues eine weitreichende Bedeutung hatte und nicht nur durch weiße Musikkritiker Anfang der 60er Jahre in diese Höhe gehoben wurde, kann man an der Musik hören. Wurden nicht durch den Country-Blues wichtige Teile der afrikanischen Musikkultur, wie das Phrasieren, das Spielen mit den Tonhöhen, um die Bedeutung zu verändern, bis hin zur Erzählweise in Versen (die trotz aller Macht-oder Hilflosigkeit in den beiden ersten Zeilen vielfach auch eine dritte ironische Zeile anfügte) weiter getragen? Das alles kann man in den Liedern von Robert Johnson und den anderen hören.
Lassen Sie mich eine These aufstellen: Gäbe es die Rap-Musik ohne die orale Tradition des Erzählens schwarzer Musiker?

Und in noch einem Punkt muss ich widersprechen, wenn Lee Pearson und McCulloch formulieren, dass Robert Johnson von „seinen eigenen ländlichen afrikanisch-amerikanischen Wurzeln getrennt wurde“.
Von ihren eigene Wurzeln abgeschnitten, wurden die Sängerinnen und Sänger in den Nachtclubs, Bars und Shows in den großen Metropolen Amerikas, wenn sie sich der europäisch geprägten Rhythmik und Melodik anpassten, um ein weißes Publikum zu erreichen.
Von ihren eigenen Wurzeln abgeschnitten, wurden diejenigen schwarzen Künstler, die sich auf die europäisch geprägte Kommerzialisierung von Musik einließen.
Sie trennten sich somit von den Ursprüngen afrikanischen Musizierens, das ein wichtiges kommunikatives Mittel (Stichwort „oral culture“) darstellte und einen entscheidenden Stellenwert in der afrikanischen Kultur und Gesellschaft besaß.
Dass sie es taten, ist ihnen nicht vorzuwerfen, wenn man seinen Blick auf die Zustände der amerikanischen Gesellschaft mit all seinem Rassismus zu Beginn des 20.Jahrhunderts richtet.
P.S. Clapton: Ungeachtet des Beitrages, den Clapton zur modernen Bluesmusik geliefert hat (bis 1971/72): Wenn dieser „Crossroad-Humbug“ ihm zu seiner Legitimation als Bluesmusiker dient, dann ist das Quark. Ich hatte ihn für realitätsbewusster eingeschätzt.

Jörg Herrmann

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