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Lieber Herr Herrmann,
Was Ihre formale Kritik angeht: Präzision im sprachlichen Ausdruck sollte schon sein, und insofern muss ich zähneknirschend einräumen, dass ich „Idyll“ wohl besser in unmissverständliche Gänsefüßchen hätte setzen sollen. Sicher ist sicher.
Aber die – wie sagt da der Geisteswissenschaftler so schön? – Dichotomie von „seriösem Rockmusik-Magazin“ einerseits und „den kommerziellen Zwängen, diese Zeitschrift zu verkaufen“ andererseits, die atmet mir doch arg den schweren Geist abendländischer Kulturgeschichte, if you know what I mean. (Hallo Wolfgang!) Und, talking of the devil: Der Kosename „Ayatollah“ für Wolfgang Doebeling ist zwar auch ganz hübsch, aber ich bleib lieber bei meinem Osama. Semantische Missverständnisse hin oder her.
Was Ihre inhaltliche Kritik betrifft, so bin ich in vielen Details ja durchaus Ihrer Meinung, aber tendenziell geht mir Ihre Position trotzdem auf den Keks. Bevor wir hier nun im seminaristischen Overkill enden, möchte ich das Thema von einer ganz anderen, sozusagen volkstümlichen Seite aufrollen: Ich lebe seit sieben Jahren in Alabama, und nein – es gibt hier nicht an jeder Straßenecke blinde Countryblues-Musiker, die mich zu einer Autorität auf diesem Gebiet hätten werden lassen. Aber man lernt doch eine Menge über die verschiedenen Lebenswelten von Schwarzen und Weißen. Neulich stand bei uns an der Ecke ein farbiger Gentleman, der offensichtlich auf dem Weg zu einer Hochzeitgesellschaft war – in giftgrünem Smoking, weißem Zylinder und lackierten Two-tone-Schuhen. „Cool“, hab ich gedacht, „die Nummer würde ein Weißer nie und nimmer bringen.“
Ausnahmen bestätigen die Regel, aber Schwarze haben nun einmal in einem weit größeren Maße als Weiße die Fähigkeit, sich emotional auszudrücken (muss wohl an dem „Muff aus 1000 Jahren“ liegen), und es waren vorwiegend schwarze Impulse (nicht zuletzt auch der Delta-Blues, gar keine Frage), die die populäre Musik der letzten 100 Jahre geprägt haben. Es waren dann aber fast ausschließlich Weiße, die diese Musik „erforscht“, tradiert und auch nach ihren emotionalen Bedürfnissen (um-)gedeutet haben. Es mag sein, dass ehrenwerte Autoren wie Samuel Charters, Paul Oliver, Ben Sidran und Greil Marcus nicht dafür verantwortlich zu machen sind, dass dem Delta-Blues das existenzialistische Mäntelchen umgehängt und – Im Falle Robert Johnson – noch mit faustischem Klimbim verbrämt wurde. (Obwohl ich einem zerebralen Winkeladvokaten wie Greil Marcus eigentlich auch keinerlei emotionale Affinität zu diesem Sujet attestieren möchte, aber das ist ein anderes Thema.) Nur, damit ist die Kuh ja noch nicht vom Eis. Ich habe das mehrteilige Scorsese-Opus nicht gesehen (und allein die Vorstellung, wie ein Wim Wenders diese ach so bodenständigen Delta-Blueser in einen ähnlich romantizierenden Exotik-Nebel hüllt wie seine Buena-Vista-Onkels, wird mich auch künftig davon abhalten), aber den Rezensionen nach zu schließen haben wir es hier doch genau mit dem Phänomen zu tun, das Sie einfach nicht wahrhaben wollen: Blues im Weichzeichner, die Saga vom ehrlichen Schweiß für das wohlsituierte Matinee-Publikum.
Oder nehmen wir Clapton. Ich mag Sie daran erinnern, dass der Anlass meines Artikels nicht zuletzt das neue Clapton-Album war (dessen aseptische Belanglosigkeit nur ein weiteres Indiz dafür ist, dass sich Herr Clapton da Schuhe anziehen möchte, die ihm überhaupt nicht passen). Der junge Clapton ist in meinen Augen ein Paradebeispiel für das weiße Mittelstands-Kid, das sich in Ermangelung eigener existenzieller Erfahrungen kompensatorisch über eine ihn faszinierende Musiktradition hermacht – und dann eben auch für den Teufel-an-den-Crossroads-Schmuh empfänglich ist. Das gleiche Phänomen sehen Sie heute bei Wohlstandskindern (auch in Deutschland), die sich ein Stuessy-Käppi aufsetzen und dann zu einem baaaad motherfucker mutieren. Da werden dann hohle Gangsta-Schlagwörter mitgegröhlt (die kompletten Texte versteht eh meist keiner), ohne auch nur ansatzweise einen Bezug zu der sozialen Realität zu haben, aus der heraus diese Texte entstanden. Je akuter das Fehlen einer Identität, je nichtssagender die eigene Existenz, desto größer das Bedürfnis, sich diese Identität aus einem anderen, offensichtlich inspirierenderen Kulturkreis zu beleihen. Und für diese kompensatorische Meisterleistung ist Musik nun einmal das ideale Medium.
Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, wie im Jahre 2080 eine von Weißen initiierte und fortgeschriebene Musikgeschichte des HipHop aussehen wird. Glauben Sie wirklich, das diese Historie untendenziös der gesellschaftlichen/musikalischen Realität des Jahres 2004 gerecht würde? (Und das, obwohl die medialen Artefakte aus der Jetzt-Zeit viel reichlicher vorhanden sein werden als die spärlichen Relikte aus der Robert-Johnson-Ära heute.)
Das ist, keine Frage, sicher auch ein Manko des Musikjournalismus. Leider war die Suche nach farbigen Rolling Stone-Redakteuren bislang nie von Erfolg gekrönt, und auch das Angebot des Kollegen Hentschel, künftig als Minstrel-Neger seiner Tätigkeit nachzugehen, konnte und wollte ich nicht annehmen. Ich bin mir sicher: Aufmerksame Leser wie Sie hätten auch diesen Braten gleich gerochen.
LG
BG
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