Barbara Lea (1929–2011)

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    gypsy-tail-wind
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    Barbara Lea ist ja nicht direkt ein Geheimtipp … und dennoch eine Künstlerin, deren Namen nicht mehr häufig genannt wird. Ihr Debut kam 1955 bei Riverside als 10″-LP heraus und wurde in den Siebzigern mittels ein paar neuer Stücke im Duo mit dem Pianisten, der schon 1955 dabei war (Billy Taylor, 1955 mit kleiner Combo) von Audiophile ins 12″-Format gepimpt und so auch auf CD herausgebracht. Ich erinnere mich spezifisch, dass wir Lea wegen der Stücke mit Adèle Girard an der Harfe mal hatten – oder war’s wegen Willard Robison, der das Stück komponiert hat, und wir kamen dann auf Girard? Auf ihrem ersten Prestige-Album, „Barbara Lea with the Johnny Windhurst Quintets“ (oben, ihr zweites, an zwei Tagen im Oktober 1956 aufgenommen) ist als Bonustrack nebst einem Alternate Take auch noch „A Straw Hat Full of Lilacs“ zu hören (zusammen erschienen die zwei Tracks als Single), im Duo mit einer angeblich unbekannten Harfenistin – und das ist eben Adèle Girard, die bei den Sessions im April und Mai 1957 dabei war, aus denen Leas zweites Prestige-Album (unten) zusammengestellt wurde, „Lea in Love“, und von denen „Straw Hat“ stammt (keine Ahnung, warum jemand fand, es solle beim anderen Album als Bonustrack drauf kommen).

    1957 verwendete Riverside Hälfte der Stücke der 10″-Platte nochmal und packte sie auf die LP „This Could Lead to Love“, zusammen mit ebenfalls je vier Stücken von Mundell Lowe (im Trio mit George Duvivier am Bass und Jack Greenberg am Englischhorn) und dem Pianisten Tony Burello (solo). Auf der Rückseite des Albums wird für ein paar weitere Platten Werbung gemacht, die vielleicht aufzeigen, wo Lea damit einsortiert wurde (nicht so eindeutig im Jazz, eher in so einer Ecke, die 10-20 Jahre früher von Joe Bushkin oder so bespielt wurde)


    Das finde ich wunderbare Musik, von der Machart – eine kleine Combo, ein Bläsersolist, der recht viel Platz kriegt (stets Johnny Windhurst an der Trompete, 1956 auch hie und da Dick Cary am Althorn, 1957 dann neben bzw. vor Cary auch noch Ernie Caceres am Barisax und der Klarinette, Garvin Bushell taucht in den Ensembles an Oboe und Fagott auf), Rhythmusgruppe oft mit Gitarre (Al Casamenti, Jimmy Raney) vielleicht an die Sessions erinnern, die Billie Holiday schon seit etwas früher für Verve machte. Lea singt aber vornehmlich langsame Songs, die Musik ist auch etwas weniger frei, die Leute sind teils im Dixieland daheim (Cary z.B. kennt man v.a. von Eddie Condon), aber auch das sind gute Beispiele für frühe Mainstream-Sessions, in denen überhaupt keine stilistischen Konflikte aufbrechen. Die Stimme von Lea ist allerdings anders, tiefer, wärmer, weicher vielleicht? Orrin Keepnews beschreibt sie in den Liner Notes zum 10″-Album so:

    Barbara works with a voice that is warm, relaxed, sensitive and true. She is not a „perfect“ singer (and there probably won’t be one of those until someone whips up an electronic brain that can carry a tune), but she is a very good and very moving singer, which is undoubtedly better than being „perfect.“

    Die Combo auf dem ersten Album ist tight: Billy Taylor hat seine regulären Triopartner Earl May und Percy Brice dabei, dazu kommt der hervorragende Gitarrist Jimmy Shirley – und darüber die Trompete von Johnny Windhurst. Und dessen Spiel wirkt hier schon wie aus der Zeit gefallen, charaktervoll und persönlich, aber auch weit weg von den aktuellen Geschehnissen (bzw. denen der letzten 10-15 Jahre). Zu Windhursts Beitrag auf „A Woman Alone with the Blues“ von Willard Robison mein Keepnews: „he takes what might be called the best tenor sax chorus ever played on a trumpet“. Das Repertoire ist auf dem Debut sonst nicht so speziell, es gibt Balladen, Liebeslieder, Klassiker: „Love Is Here to Stay“, „As Long As I Live“, „Come Rain or Come Shine“ … und eben als Closer das tolle Stück von Willard Robison.

    Die Liner Notes für das erste Prestige-Album, „Barbara Lea with the Johnny Windhurst Quintets“ (an zwei Tagen im Oktober 1956 aufgenommen), schrieb Robert S. Altshuler, und da finden sich auch ein paar Zitate von „a jury of the world’s musical authorities“ über Lea – eine Auswahl:

    „… this gal is easy listening. It’s refreshing, after the maze of vocal contortions we put up with these days, to play her highly enjoyable album“. Harold Arlen

    This young lady has a nice style … quite intimate and never reachy or obvious. I hope she achieves the success which her talent so richly deserves“. Bing Crosby

    „The way she sings sophisticated songs is very wonderful. I also like her phrasing and the atmosphere of her singing. There are not many popular singers today who develop so much sensitivity without ever losing the beat; this, it seems to me, is very remarkable“. Joachim E. Berendt; Baden-Baden, Germany (author and feature writer for Jazz Echo)

    […]

    „One of the great pleasures of writing songs it that someone with the good taste and sincerity of Barbara Lea may sing them“. Johnny Mercer

    „Miss Lea has a most personal style and a genuine jazz feeling. Her low pitched and husky voice has a sexy quality that intrigues me, as well as her subtle and still simple approach to the musical material she uses. I like her firm vibrato and the relaxed drive of her phrasing.“ Arrigo Polillo; Milan, Italy (author and critic for Muscia Jazz)

    Zur Biographie schreibt Altshuler u.a., dass der Opernkomponist Alexandre Charles LeCoq (1832-1918) ihr Urgrossonkel gewesen sei, dass ihre ersten Auftritte stattfanden, als sie die Kingswood School in Cranbrook besuchte. In der Boston Post vom 6. Dezember 1948 sei über einen Auftritt von ihr mit den „Crimson Stompers, Harvard’s dixieland jazz band“ zu lesen (das erinnert mich an die College-Gigs, die Herbie Nichols immer wieder spielen musste, um über die Runden zu kommen). Sie sang dann in Wellesley im Chor und war jazz DJ bei WBS, dem College-Radio, schrieb für und trat auf in der Junior Class Show, schrieb Jazzkritiken für die Wellesley News, sang als in einer Schulaufführung von „The Beggar’s Opera“, sang in der und leitete die Wellesley Madrigal Group … und einen zehnköpfigen Brass Choir aus Studenten geleitet und dessen Musik arrangiert habe sie auch noch. „P.S. her marks remained above average.“

    Nach Auftritten in Cocktail Lounges in Boston und kleinen Clubs in New Jersey wurde sie von Art Ford (WNEW, NY) entdeckt, als sie bei Fords Talentshow „One Week Stand“ auftrat. Sie kriegte bessere Gigs und immer mehr Auftrittsmöglichkeiten, auch in Radio und Fernsehen. Weil wir’s die Tage immer wieder von den Lokalen haben, in denen die Leute auftraten: hier werden genannt: „Winston’s Theatre Grill (a plush gold key club in Toronto), the intimate Westnor in Westport, Conn., the swank Dore’s in Pittsburgh, and that talent-showcase standby, the Village Vanguard in New York’s Greenwich Village. The recent ‚Connecticut Jazz Festival‘, and ‚Jazz On The Housatonic‘ were graced with her vocal charms.“

    Das Repertoire, das wohl auch Lea ausgesucht – oder mindestens massgeblich mitbestimmt – haben dürfte (siehe ihre Liner Notes zum folgenden Album), ist ziemlich speziell. Nur zwei Songs seien sehr vertraut, so Altshuler, „Blue Skies“ und „I’ve Got a Pocket Full of Dreams“ (letzteren würde ich aus heutiger Perspektive nicht mehr als „very familiar“ betrachten). „Nobody Else But Me“ und „Thursday’s Child“ seien schon ein paar Jahre draussen und würden erst allmählich eingespielt. Und einige selten oder kaum zu hörenden seien auch dabei, darunter „Honey in the Honeycomb“ (Lena Horne in „Cain in the Sky“, später von Ethel Waters aufgenommen), „Where Have You Been“ (Cole Porter, aus „The New Yorkers“), „I Had Myself a True Love“ (Mercer/Arlen, aus „St. Louis Woman“), „I Feel at Home with You“ (Rogers/Hart, aus „A Connecticut Yankee“). Dann gibt es noch Carmichael/Websters „Baltimore Oriole“, etwas Nostalgie – schon damals – mit „Gee Baby, Ain’t I Good to You“ (Razaf/Redman), „I’m Comin‘ Virginia“ (als Hommage an Bix Beiderbecke) und „My Honey’s Lovin‘ Arms“ (für Pee Wee Russell – schade, hat Lea mit ihm nicht mal aufgenommen).

    Das dritte Album ist vor allem in Hinsicht auf die Band(s), die Arrangements, definitiv das besonderste. Es gibt da und dort elaborierte Arrangements, mit Harfe, Celesta, arrangierten Backings für Oboe (oder Fagott), Klarinette und Althorn und Tempowechseln. Anderswo wirkt das sehr spontan, Windhurst und Caceres kriegen ein paar Takte (letzterer dann eher am Barisax), die Rhythmusgruppe sorgt fürs passende Tempo. Ein paar Stücke mit einem Trio (Dick Cary-p, Al Casamenti-g, Al Hall-b) sind auch dabei – die drei wirkten schon bei m ersten Prestige-Album mit, doch das hier ist eine neue Session vom Frühling 1957. Lea hat dieses mal auch die Liner Notes gleich selbst geschrieben – ein paar Auszüge:

    In answer to the classic question, „who picked the tunes?“ (or, more sophisticatedly, „Who A&R’d the date?“) – I did. One of the privileges of recording for Prestige is artistic freedom. Unfortunately, this has its disadvantageous side, too. I usually start out with a list of about 125 tunes, all of which must go into this album. Cutting it down to a dozen is like drowning kittens – an odious task for one who likes cats as much as I do.

    For those of you who haven’t heard of Barbara Lea before, here’s a capsule biography: I’m from Detroit, Boston, and New York, in chronological order. After graduating from Wellesly College (where I majored in Music Theory and sang with a jazz band at Harvard) I finally embarked upon a singing career I had dreamed of since the age of four. After the usual break-in period with bands and in little clubs no longer in existence, my recording career began. This led to better night clubs, radio, and television, and eventually to my present happy association with Prestige.

    I believe in jazz and in singing, but not necessarily in jazz singing.

    […]

    These twelve sides (and a few more) were recorded in four sessions, each with different personnel. We used to different rhythm sections; one session was done with rhythm section alone, and the others with two or three horns added. The reason for this is elementary, and yet it is surprisingly often overlooked: A 12-inch LP of any thing can be very wearying. By varying certain elements, especially rhythm and tone color, interest can be sustained throughout an album, and I feel that the listener deserves this.

    Das Repertoire hier ist etwas weniger speziell als auf dem Vorgänger, einige bekannte Standards sind dabei, „Ain’t Misbehavin'“, „Autumn Leaves“ (Lea singt auch den französischen Text), „More Than You Know“, „The Very Thought of You“, „You’d Be So Nice to Come Home To“ (die Songs waren teils damals aber noch nicht weitherum bekannt) – aber los geht es mit „Will I Find My Love Today?“, einem tollen Song, den ich soweit ich mich erinnern kann bisher nirgendwo sonst gehört habe, der Closer ist dann Mercer-Arlens „Sleep Peaceful, Mr. Used-to-Be“, das wie davor schon „Mountain Greenery“ etwas Cabaret-Stimmung einbringt (Mel Tormé nahm „Moutain Greenery“ 1956 auch auf und landete damit im UK einen Hit).

    Danach war für fast 20 Jahre Schluss mit Lea im Plattenstudio – so erfolgreich wie erhofft, waren die Prestige-Alben dann bedauerlicherweise wohl doch nicht. Erst 1976 geht sie wieder ins Studio und spielt im April für Audiophile gleich zwei Alben ein: „The Devil Is Afraid of Music“ ist ganz den Songs von Willard Robison gewidmet, „Remembering Remembering Lee Wiley“ wurde bei einer weiteren Session im April 1977 vervollständigt. Ich kenne diese Alben leider nicht, aber die nächste Session dann wieder: Oktober 1978, Billy Taylor im Baldwin Showroom in New York hat soeben eine Folge von „Piano Jazz“ mit Marian McPartland eingespielt, und dann folgen noch vier Songs mit Barbara Lea, die als Ergänzung dienen als „A Woman in Love“ von Audiophile neu aufgelegt wird. „I’m Old Fashioned“, „Too Late Now“, „I See Your Face Before Me“ und „What Is There to Say?“ – vier wunderbare Kleinode. Und Lea schrieb dafür ein paar Zeilen (zumindest fürs CD-Booklet von 1991, einen Scan der LP-Rückseite von 1981 kann ich grad nicht finden). Sie schreibt da, dass sie dank des Photographen Bob Parent (von ihm ist das Foto auf dem Cover von „Barbara Lea“) zum Riverside-Album kam:

    In the mid-’50s (thanks to jazz photographer Bob Parent) I recorded eight sides for Riverside wich were released to wonderful critical acclaim. The biggest thrill was waking up one Sunday morning to find myself on the front page of the New York Times Art & Leisure section in a list of the nine „Best Popular Vocal LPs of 1955“ – the only newcomer among the likes of Bing Crosby, Noel Coward, Sammy Davis, Jr. and Oklahoma!

    But alas, the 12-inch LP was an idea whose time had come, and overnight 10-inch discs like mine were obsolete. We intended to add four sides and reissue it in the suddenly obligatory 12-inch format, but somehow that didn’t happen. I went on to record two albums for Prestige; these two were extremely well-received, but I always mourned a little over the fate of my firstborn. The 6’s brought the tidal wave of doo-wop that engulfed music, followed by rock, folk, folk-rock, rock-folk and eventual con-fusion … I became an actress.

    But miraculously, jazz resurfaced again and my own musical career resumed. The devotion and doggedness of jazz lovers had generated (or, maintained) a demand for such records as this. In 1978 I was delighted to be able to arrange for this release by Audiophile and to get together with Billy Taylor that October to do the four new tracks.

    […]

    The four songs added are among the last that were with deep regret eliminated from the original list – in fact, I’ve been feeling guilty about them for years. They’re all simply wonderful; I See Your Face Before Me has the most fascinating and mysterious melody since the Allegretto of Beethoven’s 7th.

    Von ihren späteren Aufnahmen kenne ich noch praktisch nichts. Lea nahm für Audiophile, Challenge und A-Records ein paar weitere Alben auf, das letzte im März 2006. Bei mir liegt noch eine Compilation herum, die Aufnahmen von 1995 bis 2001 (Challenge und A-Records) versammelt, „The High Priestess of Popular Song“ (Challenge, 2012), als Hommage nach ihrem Tod zusammengestellt

    Barbara Lea kam am 10. April 1929 als Barbara Ann Le Cocq in Detroit, Michigan zur Welt und starb am 26. Dezember 2011 in Raleigh, NC. Eine ausführliche Biographie mit einige Fotos findet sich auf ihrer Website:
    https://barbaralea.com/detailed-biography/

    Es gibt hier eine exzellente (aber nicht ganz vollständige) Diskographie:
    http://jazzdiscography.com/Artists/Lea/BLdiscography.php

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #11973705  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    danke fuer den tollen Thread/Post… wg den College-Gigs: ich denke, was sie da hatte, war schon anders, als was Herbie Nichols hatte… dass sie selbst in Wellesley studierte, aber zum Beispiel bei der Jazzband die Infrastruktur von Harvard nutzte, lag sicherlich daran, dass Toechter von Generalstaatsanwaelten so wie sie damals halt eher in Wellesley studierten als in Harvard oder Yale, wo die Soehne hingingen s zB hier. Buell Neidlinger (Bassist von Windhurst) studierte in Yale, Roswell Rudd (Bandkollege von Walt Gifford, der glaub ich die Jazzband in Harvard leitete) auch, und ich bin sicher, wenn man die Biografien der unbekannteren Herren hier oder hier abklopft, dann trifft man auf beachtliche Karrieren, fast alles Studenten der besten Unis der Welt (und so vermarkten sich auch diese zwei Alben), das Bildungsbuergertum entdeckt den Jazz, Leute wie wir quasi… Merkt man mE auch zB an den gescheiten Dingen, die sie zu ihren Alben schreibt, der Songauswahl… in ihre spaeteren Sachen hab ich ein bisschen reingehoert, auch nett, aber die drei ersten Alben gefallen mir besser, allein schon wegen Windhurst (dessen eigenes Album ich mir ja die Tage auch gekauft hab, aber noch kaum gehoert)

    edit: hier steht ein kleines bisschen mehr zu ihrem Beginn… hier zum Umfeld

    noch mehr Umfeld, link, der 25jaehrige Yale Student George Avakian (der George Avakian) diskutiert im Harvard Crimson die Schwierigkeiten, auf Dates zu gehen, ohne, dass die Musik seinen uebersensiblen Ohren schadet…

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    #11973725  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    So wie ich das aus dem Buch von Miller erinnere, sprang Nichols mit solchen Bands ein, wenn die mal einen Pianisten benötigten … aber ist schon eine Weile her, dass ich das Buch gelesen habe, müsste mal drin blättern. Er war wohl nicht an den Elite-Colleges in Boston sondern der Columbia University oder so – aber auch das müsste ich nachgucken.

    Danke für die ganzen Links, muss ich ein anderes Mal in Ruhe noch genauer anschauen!

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    #11973729  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    gypsy-tail-wind
    Danke für die ganzen Links, muss ich ein anderes Mal in Ruhe noch genauer anschauen!

    ok, vielleicht ist es die gleiche Szene – aber in einer anderen Rolle… der letzte Link ist der beste (und generell die Avakian Artikel im Harvard Crimson, das ist ein interessantes Fenster an einen seltsamen Ort)

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    #11974133  | PERMALINK

    soulpope
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    @ „gypsy“ : gewaltiger Research, thnx ….

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    #11974305  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zu Herbie Nichols und den College Jazz-Gigs (mit Streiflichtern auf die „Rassen“thematik: „on the outside looking in“ auch in der Hinsicht):

    Am 27. Januar 1951 schreibt er einen Brief an Mary Lou Williams, darin steht u.a. „Isn’t it frightful, Lou, that I have lived for two years without a piano?“ (S. 68ff, zit. S. 70). Miller schreibt schon im Zusammenhang mit dem lobenden Leserbrief, den Nichols im Sommer über die Capitol-Sessions von Miles Davis and Down Beat sandte, als „someone who as effectively on the outside looking in – a witness to jazz history rather than a participant.“ (S. 67).

    Die schlechten College-Gigs finden sich in den späten Fünfzigern – als er sich durch seine Blue Note-Aufnahmen endgültig als „modernist“ geoutet hatte und die Gigs in den Dixieland-Bands wurden jetzt auch immer seltener (1955/56 war er intermission pianist – zunächst solo, danach im Trio – im Cafe Bohemia und wurde zumindest für Musiker zu einer kleinen Attraktion), während die Blue Note-Aufnahmen keine neuen Möglichkeiten öffneten.

    Als Gigs im Jahr 1953 nennt Miller Danny Barker, Dud Bascomb, Jimmy Archey, dann Wilbur de Paris New Orleans Jazz Band im April 1954 (S. 78) im Savoy in Boston und dann im Sommer im Jimmy Ryan’s in New York. Wilburs Bruder Sidney leitete die Band, die seit 1951 am häufigsten im Jimmy Ryan’s auftrat – mit ruppigem, altmodischen Dixieland. Omer Simeon und Zutty Singleton traten im Sommer 1954 auch im Ryan’s auf, Joe Muranyi (damals mit der Red Onion Jazz Band) unterhielt sich mit Nichols und fand später freundliche Worte, weil dieser nicht zu den „I-play-my-music-and-to-hell-with-the-world types like Miles Davis, turning his back on the audience“ gehörte (interessantes Thema, die Gräben zwischen weissen und schwarzen Jazzmusikern, die in den Fünfzigern und Sechzigern sehr viel tiefer wurden als davor – da gibt es im Abbey-Lincoln-Faden demnächst auch mal was dazu).

    1958 war’s dann ziemlich vorbei mit Gigs für Nichols – und damit sind wir beim Thema. Übrig blieben für Nichols

    … weekend jobs in New York’s secondary rooms, one-nighters with pick-up groups and irregular engagements with some of the young white dixieland band that flourished during the late 1950s at colleges and universities in the US Northeast – this last a phenomenon largely overlooked in jazz history save in relation to those relatively few of its participants who went on to significant careers as professional musicians, among them Buell Neidliners, Roswell Rudd and bassist Steve Swallow from Yale and clarinetist Stan Rubin and trumpeter Ed Polcer from Princeton.

    Rubin’s Tigertown Five was the first and most famous of these bands, recording for Jubilee as early as 1953 and appearing at Carnegie Hall in 1954. Rubin’s success inspired many other student groups, the best of which graduated, as it were, from frat parties and sport events at their own schools to engagements at other colleges and universities up and down the Eastern Seaboard, with an occasional Monday night appearance at Jimmy Ryan’s along the way [Montag war der freie Tag der Profis, drum spielte z.B. auch die Jones/Lewis-Band jeweils montags im Vanguard: die Musiker hatten bei ihren anderen Gigs frei, das war ja zunächst eine rehearsal band]. The popularity of dixieland on campus declined once control of student social agendas passed during th early 1960s into the bands of convenors enamored of the latest trend in popular music, rock ’n‘ roll – but not before. Nichols had worked with several bands whose members were roughly half his age.

    He was recommended to trumpeter Rick Lundquist, the leader of the Pennsylvania Six Pence from the University of Pennsylvania, simply as someone who was „really into stride piano“ and thus deemed qualified to join the band for jobs in 1958 at Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, New York, and the College of New Rocelle in New Rochelle, New York. he roomed with Lundquist and made about $50 for the two engagements.

    At Rensselaer, however, Nichols found himself playing an upright piano pushed against a wall. „We could hear him,“ Lundquist noted, „but we couldn’t hear him a whole lot.“ At New Rochelle, where the band performed outdoors, there was no piano at all, leaving Nichols idle for the entire concert.

    He responded to the situation with equanimity. „He was a quiet guy,“ Lundquist recalled. „He didn’t talk very much. That was my impression. I got feedback later that he thought it was very nice that the leader would share his room and also that is was very nice that his accommodations were paid for.“ On the second count, at least, Lundquist wondered to himself, „‚Well, isn’t that pretty normal?‘ I was only 22. I didn’t know…“

    (Mark Miller: Herbie Nichols. A Jazzist’s Life. [Ohne Ort: ]The Mercury Press, 2009, S. 127-129)

    Nichols spielte auch mit den Christmas City Six von der Lehigh University in Bethlehem, Pennsylvania. Dan Morgenstern schrieb Ende 1958 in Jazz Journal (Ausgabe Januar 1959) die Hi-Lo- und Blue Note-Aufnahmen seien „out of circulation“ und fügte an: „and so is Herb“ (Miller, S. 129).

    Nichols hütete dann den Schlüssel zum Loft an der South Street am East River, das zwei junge weisse Musiker, der Posaunist Dick Rath und der schon erwähnte Trompeter Ed Polcer eingerichtet hatten. Die beiden zapften für die Heizung eine Gasleitung an und hatten im Loft auch im Winter sommerliche Temperaturen – weshalb sich grad in der kalten Jahreszeit viele gerne dort aufhielten. Rath war editor der Zeitschrift Yachting, Polcer arbeitete als Ingenieur. Sie gaben Nichols auch immer wieder etwas Geld, über das er (sie nicht) stets minutiös Buch führte, und wenn er wieder mal einen Gig hatte, seine Schulden beglich. Mit Polcer spielte er ein paar Gigs im Caton In, „a rough Coney Island Avenue bar in Brooklyn, and travelled with rath to socials at Smith, Vassar, Yale and other schools within a day’s drive of New York. ‚The trick with these bands,‘ Rath wrote dryly, of Ivy League work, ‚was to make the kids think they were dancing to a Ben Cutler [society] orchestra without actually playing Alley Cat, and Herbie was a master at it.'“ (Miller, S. 134)

    Das ist jetzt etwas weniger informativ, als ich es im Gedächtnis gehabt hatte, aber dennoch ganz interessant. Das kleine Detail mit der bezahlten Unterbringung spricht natürlich Bände – und Lundquists Eingeständnis, dass er damals überhaupt nicht begriff, weshalb Nichols das nicht für selbstverständlich hielt. Da sind wir mitten im Minenfeld der Rassenproblematik, von nicht wahrgenommenen white privilege – und von da zur „colourblind“-Behauptung ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt. Doch dazu möchte ich wie gesagt die Tage im Faden über Abbey Lincoln ein wenig was schreiben und da auch rechtt weit ausholen – was passend scheint, weil die ganzen Aspekte zum Civil Rights Movement („going social“) dort eine Rolle spielen.

    (Das nächste Kapitel ist dann auch faszinierend, aber dazu vielleicht anderswo mal mehr: Ab 1959 spielte Nichols auch wieder – nach ähnlichen Gigs in den Vierzigern – in einem Strip/Burlesque/Whatever-Lokal – und trifft dort auf eine andere Jazzerin, Sheila Jordan.)

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    #11974401  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    Vielen vielen Dank, das ist in der Tat superspannend (und Windhurst/Lea in der Tat ein weiterer, eher früher Ableger dieser Szene)

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    #11974431  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Krass finde ich ja, dass 1953 so eine Amateurband in die Carnegie Hall darf … aber daneben munter das „colourblind“ Narrativ verbreiten. Kein konkreter Vorwurf an irgendwen hier, aber dass Barbara Lea in den 80ern und 90ern regelmässig mit Richard Sudhalter (Dick Sudhalter*) gearbeitet hat und dieser einer der unangenehmsten Vertreter der „white resentment“-Linie war, passt halt dann schon super ins Bild.

    Terry Teachout und – nicht so überraschend, oder? – Gene Lees sind bzw. waren andere Vertreter dieser Argumentationslinie, die in den 90ern und 00ern ein Revival erlebte (nachdem sie schon in den Fünfzigern populär war) und kurz gesagt z.B. dem Programm von Jazz at Lincoln Center/Wynton Marsalis vorwirft, den Beitrag der afro-amerikanischen Künstler in der Jazzgeschichte überzubetonen, auf eine Weise, die nur durch „black nationalist thinking and political correctness“ erklärbar sei (so referiert Ingrid Monson in „Freedom Sounds“ den Standpunkt von Teachout, S. 16). Sudhalter ging noch weiter und behauptete, dass die Betonung der afro-amerikanischen Wurzeln des Jazz mit einem „black creationist canon“ gleichzusetzen sei (bei Monson als Zitat), der wiederum dazu diene, zu verbergen, dass „black and white once worked side by side, often defying the racial and social norms of their time to create a music whose graces reflected the combined effort“ (Sudhalter, Lost Chords, S. xviii-xix, zit. nach Monson, S. 16). Das ist natürlich das klassische „liberal“ Argumentarium, das in jüngster Zeit durch die BLM-Proteste wieder einmal ad absurdum geführt wurde. Es gibt dann auch noch die Schiene, die behauptet, die Bruchlinien hätten nicht mit „race“ sondern mit „class“ zu tun … aber auch da bin ich bisher nicht überzeugt. Monson will ich wie gesagt drüben bei Abbey Lincoln ausgiebig referieren, ich finde ihre Argumentation sehr spannend, v.a. aber hat sie wahnsinnig viel recherchiert (das Buch war jahrelang in Arbeit, bevor es 2007 herauskam), da steht z.B. viel drin zur Zusammenlegung der rassengetrennten Gewerkschaften, sie wird auch ab und zu ganz konkret, nennt die Beträge, die Musiker für eine Session kriegten („union scale“) usw. – dazu habe ich bisher nur sehr verstreut da und dort was gelesen (Monson wohl auch, sie bemüht nebst vielen eigenen Interviews auch viele andere Bücher über Jazz, z.B. auch den „Central Avenue Jazz“-Band). Monson differenziert auch sehr, referiert die Debatten unter weissen (z.B. schloss Hentoff sich ja stark afro-amerikanischen Sichtweise an, während Leonard Feather mit Roy Eldridge einen fiesen Blindfoldtest durchführte, in dem er ihm von diversen Leuten atypische Stücke vorspielte und dann das Zitat aus Eldridge herauskitzelt, das sie Überschrift „Little Jazz Goes Colorblind“ rechtfertigte … Norman Granz kommt da natürlich auch vor, und steht irgendwie, wie ich es verstehe, zwischendrin, weil er eben nicht „integrated bandstands“ förderte sondern sich weigerte, Konzerte an Orten zu veranstalten, wo das Publikum segregiert war – alles total spannend, aber manchmal auch ziemlich desillusionerend).

    Das ist jetzt doch eine recht lange Klammer geworden – aber wie gesagt: ich finde, das ganze Thema passt perfekt in den Lincoln-Faden und möchte das dort noch sehr viel ausführlicher aufgreifen.


    *) Für die unmögliche Suche in drei Monaten – ich hab vorhin wieder ewig in Hörfäden geblättert, weil die forumseigene Suche nicht funktioniert und die Indexierung via Google noch nicht im Dezember 2022 angekommen ist :-(

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    #11974903  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    zwei kleine Nachtraege: (nicht, dass du es nicht taetest, aber) ich find man muss schon ein bisschen trennen zwischen den Leuten, die in den 50ern nett zu Herbie Nichols waren und dabei ein bisschen naiv, und den Besserwissern von den 80ern bis in die Gegenwart…
    Nichols war sicher froh, dass er ein Dach ueber dem Kopf hatte, das wird ihm lieber gewesen sein, als kein Dach… und es ist auch sehr viel leichter, 50-70 Jahre spaeter die politischen und sozialen Zusammenhaenge klarer zu sehen… mit Ed Polcer hat Lea ja uebrigens auch spaeter gearbeitet…

    ansonsten: John Franklin, ein ehemaliges Mitglied der Christmas City Six, hat der Welt hier seine 1500seitige Autobiografie „Genius without a Genius“ zum kostenlosen Download zur Verfuegung gestellt und erinnert sich im Kapitel „Music Days (4) (cont.): Lehigh University, pp. 489-548“ ausfuehrlich an diese Szene und auch kurz an Nichols….

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    gypsy-tail-wind
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    In allem einverstanden. Mich beelenden halt diese Kontinuitäten bzw. die Langsamkeit des Wandels. Da ist ja auch der (heute, bei uns) ganz alltägliche, vollkommen unreflektierte Rassismus unter sich für aufgeschlossen haltenden Leuten, die solche Vorwürfe weit von sich weisen (ganz viele „Linke“ dabei, leider). Wie gesagt, später mehr dazu …

    Und danke für den Franklin-Link – hab ich jetzt grad keine Zeit zu lesen, aber ist ja gut, solche Dinge zu bündeln und zu sammeln!

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