Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle – 10.11.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Gianandrea Noseda
Leitung
Francesco Piemontesi Klavier

SERGEI RACHMANINOFF
Klavierkonzert Nr. 4 g-Moll op. 40
Sinfonie Nr. 1 d-Moll op. 13

Zürich, Opernhaus – 11.11.2023

Philharmonia Zürich
Paavo Järvi Leitung
Francesco Piemontesi Klavier

SERGEI RACHMANINOFF
Rhapsodie über ein Thema von Paganini a-Moll op. 43

Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27

Mit einem Orchestertausch endete letzte Woche der vierteilige Zürcher Rachmaninoff-Zyklus, den Tonhalle und Opernhaus gemeinsam mit ihren Chefdirigenten durchführten, die zum Abschluss die Orchester tauschten. Ich war am Freitag bei zweiten (von zwei) Aufführungen in der Tonhalle unter Gianandrea Noseda und dann am Samstag bei der einzigen im Opernhaus (wie üblich bei den Konzerten), wo Paavo Järvi für einmal die Philharmonia Zürich dirigierte. Solist war beide Male Francesco Piemontesi, den ich so gleich doppelt ein erstes Mal hören konnte. Er ist mit Noseda wohl schon länger vertraut – aber für meine Ohren klappte die Zusammenarbeit mit Järvi sogar noch etwas besser.

Ich war leider – zu viel um die Ohren, zu viel, was im Kopf herumdreht – etwas zu müde, was vor allem beim vierten Klavierkonzert, dem Einstieg in den ersten Abend, etwas schade war, denn Piemontesi war wahnsinnig gut, er haut das technisch mit einer Lockerheit hinaus, die echt beeindruckend ist, umso mehr aber, als er die technische Basis nutzen kann, um die Stücke zu gestalten. Mit Noseda ging es dabei feuriger zu und her, was auch für die Symphonie gilt, die ohne nennenswerte Pause auf eine völlig irre Zugabe (ich weiss nicht, was es war, eine ältere Dame nebenan fragte mich und meinte, vielleicht Ravel?) folgte – einfach rasch den Flügel beiseite geschoben und weiter ging’s. Das fand ich toll, lag auch drin bei dem Programm. Die erste Symphonie packte mich dann allerdings weniger – auf mich mochte der Funke nicht so richtig überzuspringen, das Feuer, das Noseda mit grossen Gesten entfachte und am Ende viel Applaus erhielt.

Der zweite Abend – Järvi in der Oper, Bild oben – gefiel mir dann allerdings wahnsinnig gut. Das lag teils am Programm – jetzt mit Pause, die Zweite dauert ja eine knappe Stunde, auch in Järvis zügiger Version – aber auch an der Herangehensweise. Die Variationen gelangen ganz hervorragend, Piemontesi überzeugte noch mehr (und musste dieses Mal gleich zwei Zugaben spielen, ehe das Publikum ihn gehen lassen wollte), es gelang ihm und Järvi, die Variationen einzeln zu gestalten, aber eben auch, den Zyklus als Ganzen aus einem Guss zu präsentieren. Das gefiel mir wirklich gut – und es wurde überdeutlich, dass das Orchester sich neben dem Tonhalle-Orchester wirklich nicht zu verstecken braucht. Nach der Pause dann die zweite Symphonie – und hier passierte etwas, was ich mal wieder nicht erklären kann. Järvi behielt die Zügel zwar fest in der Hand, aber die Musik begann zu atmen, sich in einer Lebendigkeit zu entfalten, die mich sehr berührte. Das war so durchsichtig, so klar – und unglaublich dynamisch, vom leiste gehauchten Pianissimo bis zum Maximum, was der Raum hergibt. Und im direkten Vergleich gefiel mir halt auch wieder wahnsinnig gut, wie Järvi das alles mit kleiner Geste erreichte, mit wenigen Anweisungen, kleinen rhythmischen Akzentuierungen … und wie das Orchester, das ja nicht sein eigenes ist, ihm in jedem Augenblick folgte, wie sich das alles steigerte, immer besser wurde – es war schlicht atemberaubend. Der grosse Höhepunkt also ganz am Ende des vierteiligen Zyklus – umwerfend!

Teil 1 des Zyklus im Februar bestand aus dem dritten Klavierkonzert und Die Glocken unter Noseda in der Oper mit Yefim Bronfman, von Teil 2 habe ich die Abendkonzerte (mit Yuja Wang in Nr. 2) verpasst und stattdessen nur die dritte Symphonie bei einem der sogenannten Lunchkonzert in der Tonhalle gehört.

Und was Noseda angeht, freue ich mich auf meinen Abschluss des Zürcher Rings kommenden Samstag – da steht er dann wieder im Graben und wird seine Sache bestimmt wieder hervorragend machen. Dass sein Rachmaninoff-Abend mir weniger zugesagt hat, ist keine Grund, ihn weniger wertzuschätzen. Ich hoffe, ich bin Samstag dann ausgeschlafen… im Mai höre ich den Ring dann innert sieben Tagen (stets ein Tag Pause dazwischen) nochmal, da nehme ich dann vielleicht ein paar Tage frei.

Basel, Don Bosco – 13.11.2023

Kammerorchester Basel
Alina Ibragimova
Violine
Kristian Bezuidenhout Hammerklavier und Leitung (Haydn, Mozart)
Baptiste Lopez Violine und Leitung (Giger)

JOSEPH HAYDN: Sinfonie Nr. 52 in c-Moll
WOLFGANG AMADEUS MOZART: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 9 in Es-Dur «Jeunehomme»

JANNIK GIGER: «Troisième œil» für Kammerorchester [Auftragswerk des Kammerorchester Basel, UA]
WOLFGANG AMADEUS MOZART: Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 in A-Dur

Müde war ich auch am Montag, als ich mich – als Ersatz für ein verpasstes Abokonzert des Kammerorchester Basel im Stadtcasino – in die andere Spielstätte, das Don Bosco, eine umgebaute Kirche, begab. Früh auf, vormittags gearbeitet, am Nachmittag in die faszinierende Ausstellung mit Werken von Niko Pirosmani in der Fondation Beyeler und danach zum Konzert. Und zum Glück war ich da!

Mit Haydn ging es los, Bezuidenhout leitete vom Hammerflügel mit Rücken zum Orchester, hinter sich den Kontrabass, das Fagott und das erste Cello – die Continuogruppe quasi. Das war sehr feinfühlig musiziert, die Besetzung nicht zu gross (4-4-3-2-1), das Ganze beweglich, klar … und das zog sich weiter in KV 271, dem „Jenamy“ oder „Jeunehomme“-Konzert von Mozart, von Bezuidenhout und dem KOB ganz ähnlich gestaltet wie der Haydn, aber vielleicht etwas lebendiger, vor allem atmender, dynamischer. Bezuidenhout ist für meine Ohren einer der ganz grossen Mozartinterpreten – und das auch endlich mal im Konzert erleben zu dürfen, war ein riesiges Glück (wenn ich mich nicht täusche, hatte ich im Konzert bisher keinen Mozart von ihm gehört, viel Beethoven, auch ein Klavierkonzert, ein Rezital mit Sol Gabetta und romantischer Musik, zuletzt das Tripelkonzert in Basel, bei dem er einen modernen Konzertflügel spielte).

Doch das war noch längst nicht alles. Nach der Pause gab es ein kurzes Intro mit dem Komponisten Jannik Giger (*1985), dessen ca. viertelstündiges neues Werk, das „dritte Auge“, seine dritte Beschäftigung mit einem Chanson von Claude Le Jeune darstellt, das sehr avanciert anmutet in seiner Chromatik – zumindest soweit man das in Gigers Werk erkennen konnte (ich hab noch nicht versucht, die Vorlage zu eruieren, kenne Le Jeune bisher nur oberflächlich). Er fächert das Stück auf, zitiert es, reichert es mit spektralen Obertönen an – das heisst, dass sich so einiges ausserhalb der wohltemperierten Stimmung und überhaupt unserem gelernten Sinn dafür, was „harmonisch“ it, bewegt – und doch immer wieder dahin findet. Geleitet hat dieses Stück Baptiste Lopez vom ersten Pult aus. Giger dazu im Programmheft: „Durch meinen kompositorischen Eingriff soll ein sehr aufgeladenes assoziatives Material entstehen, das seiner Ursprünglichkeit und Aura, seiner Geschichte und Gegenwart beraubt ist. Das Vertraute soll zum Unvertrauten transformieren.“ – Das finde ich sehr treffen beschrieben. (Giger ist unten am rechten Rand zu sehen – hab leider nur unscharfe Fotos hingekriegt, die zwei hier sind noch mit Abstand die besten.)

Die Krönung folgte jedoch erst: nach dem perfekten Mozart-Klavierkonzert bot Alina Ibragimova zum Ausklang auch noch das perfekte Mozart-Violinkonzert. Eine atemberaubende Aufführung war das – mit Pianissimi, wie man sie von den ganz grossen Sängerinnen kennt, aber wie ich sie in einem instrumentalen Konzert noch nie erlebt habe. Ibragimova hat sich das Konzert förmlich einverleibt, spielte es so frei und so vollständig, als würde sie es gerade erfinden. Das war tatsächlich eine Offenbarung! Danach beglückt in die Nacht … dass die Heimreise fast drei Stunden dauerte, war dann schon ärgerlich (drum gehe ich eigentlich nicht mehr an die Konzerte im Don Bosco, die sind immer eine Spur zu spät zu Ende, als dass ich noch ohne Komplikationen heim komme – wobei die durch verspätete Züge, Baustellen, nicht gewährleistete Anschlusse erst richtig mühsam werden, aber das scheint auf der Strecke um die Zeit halt auch der Normalfall zu sein – ich gehe aber im Januar erneut dorthin, wieder unpassend an einem Dienstag, wenn René Jacobs Händels „Aci, Galatea e Polifemo“ dirigiert).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #153: Enja Records - Entdeckungen – 11.06., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba