Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Basel, Stadtcasino – 04.12.2022 – „Geschwisterliebe“

Nelson Goerner Klavier
Kammerorchester Basel
Philippe Herreweghe
Leitung

Fanny Hensel Ouvertüre in C-Dur
Felix Mendelssohn Bartholdy Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 in g-Moll

Felix Mendelssohn Bartholdy Sinfonie Nr. 3 in a-Moll «Schottische»

Vier Konzerte sind schon wieder um seit dem letzten Bericht – die Anspannung bei der Arbeit ist für den Moment mal vorbei, die letzten paar Wochen werden wieder etwas ruhiger, und darum bin ich froh. Noch froher bin ich allerdings darüber, dass ich – wenn halbwegs ausgeruht – meine Aufmerksamkeit bei Konzerten wieder einigermassen intakt ist, schon seit ein paar Wochen vor dem Konzert in Basel, dem dritten aus der Abo-Reihe (Nr. 2 mit Levit habe ich wegen meiner Covid-Erkrankung leider verpasst). Da am ersten Sonntag des Monats im Kunstmuseum Basel freier Eintritt ist, habe ich es sogar zum ersten Mal wieder gewagt, vor dem Konzert noch eine gute Stunde durch eine Ausstellung zu wandeln: „Fun Feminism“ im Museum für Gegenwartskunst (das Haus gehört zum Kunstmuseum Basel, verfügt aber über eigene, sehr tolle Räume in einem umgebauten bzw. mehreren umgebauten und zusammengehängten Gebäuden direkt am Rhein). Das tat richtig gut – auch wenn mir klar ist, dass es noch weitere Zeit brauchen wird, bis ich mich vielleicht einst wieder „normal“ fühlen werde. Aber gut: zur Musik!

Die war bezaubernd! Die Ouvertüre von Fanny Hensel kannte ich nicht, ein wunderbarer Einstieg in das Konzert, ein Stück voller Einfälle und überraschender Wendungen, wunderbar instrumentiert obendrein, das den Vergleich mit dem ungleich berühmteren Bruder wirklich nicht zu scheuen braucht. Verena Naegele schreibt im Programmheft etwas ungelenk aber treffend: „Als Zuhörende bleibt Staunen und Trauer zugleich zurück: Hier die Prägnanz dieser Musik, zu der Fanny dank ihrer Studien bei Zelter fähig war, da die Gewissheit, was sie bei weiterer Förderung noch ähtte komponieren können.“. Das Konzert angesichts der zehn Minuten von Fanny aber mit „Geschwisterliebe“ zu überschreiben, war natürlich ein Marketing-Stunt – das können die Basler, mir gefällt da auch die Programmgestaltung, die Kombination von Werken, von Dirigenten, Solist*innen. Ich sehe ihnen sowas also gerne nach, aber etwas billig finde ich es dennoch.

Die beiden folgenden gewichtigeren Werke von Felix Mendelssohn waren dann ebenfalls hervorragend. Herreweghe hatte im Gespräch zur Konzerteinführung unter anderem von seiner Zeit in Paris berichtet, als er viel Musik des französischen Barock dirigierte. Der Meister darin, so sagte er freimütig, sei William Christie. Ihm gefalle dieses Repertoire nicht so sehr, er mache es auch seit dem Weggang aus Paris nicht mehr – aber er hätte dennoch sehr viel gelernt, was ihm zum Beispiel bei Bruckner geholfen habe: die Bedeutung der Präzision, der Phrasierung nämlich. Beim französischen Repertoire müsse sich die Musik unglaublich präzise an die Partitur halten, damit sich alles gut zu den ebenso präzise durchzuführenden (einst) zugehörigen Tänze füge. Zu Bruckner schob er dann etwas kokett nach: er habe ja vieles gelernt – aber nie dirigieren. Dass er überhaupt Bruckner machen dürfe – man ihn das machen lasse – sei schon irre.

Dieses tänzerische Element, ein Spiel von grosser Beweglichkeit und zugleich von höchster Präzision, führte zu einem für meine Ohren höchst lebendigen Mendelssohn, „bubby“ kam mir das vor, auch das Spiel von Nelson Goerner im Klavierkonzert: virtuos, tänzelnd, lebendig, immer bereit für einen Hüpfer, eine rasche Drehung – etwas nervös wirkte das, manchmal etwas Detailverliebt vielleicht, aber der Blick fürs Ganze ging darob nie vergessen. Ähnlich nach der Pause in der Schottischen – eine wunderbare Aufführung dieser Symphonie, die ich schon lange ins Herz geschlossen habe (zusammen mit der Italienischen, mit den drei anderen tue ich mich noch schwer). Das war ein wunderbares Konzert – und ich hoffe sehr, dass ich die Fortsetzung (eine Symphonie mit Herreweghe pro Saison, inklusive anschliessender Aufnahmen – ich hoffe, die Klavierkonzerte und weitere Konzertprogramm-Beigan kommen auch mit auf die CDs!) mitkriegen werde und vielleicht allmählich auch Zugang zu den drei anderen Symphonien finde. (Die Nr. 5 hörte ich in dem für meine Ohren leider nicht geglückten Mendelssohn-Programm des Freiburger Barockorchester mit Isabelle Faust unter Pablo Heras-Casado).

Was mich gerade etwas irritiert: für Januar ist vom Tonhalle-Orchester Bruckner Nr. 7 angekündigt (ich war am Donnerstag etwas zu früh beim Vertrieb, um die für den Tag erwartete Ankunft noch mitzukriegen und der erste Käufer zu werden) – das Mendelssohn-Projekt steht hier aber immer noch in der Liste:
https://www.tonhalle-orchester.ch/media/aufnahmeprojekte/
Von den Konzerten habe ich leider keines gehört, aber kaufen und daheim anhören würde ich das schon!

(Foto: Blick ins Stadtcasino kurz vor Beginn der Konzerteinführungg)

Zürich, Tonhalle – 07.12.2022 & 09.12.2022

Tonhalle-Orchester Zürich
Herbert Blomstedt
Leitung

Franz Schubert Sinfonie Nr. 4 c-Moll D 417 «Tragische»

Franz Berwald Sinfonie Nr. 2 D-Dur «Capricieuse»

Weil meine Eltern am Freitag ihre goldene Hochzeit feierten und uns zum Essen einladen wollten, hatte ich vor einigen Wochen auch noch eine Karte für die erste Aufführung des jüngsten Programmes mit Herbert Blomstedt gekauft. Die übliche Firmenesserei in der Adventszeit verdrängte das Essen aber auf Samstag und so hatte ich – zum Glück! – gleich zweimal die Gelegenheit, zum ersten Mal bewusst etwas von Franz Berwald zu hören. Für den ersten Abend hatte ich zur Abwechslung (bei einem Konzert ohne Solist*in spielt das ja keine Rolle) mal einen Platz auf der rechten statt wie üblich der linken Galerie. Beide Konzerte waren leider recht schlecht besucht, besonders am Freitag fiel mir auf, dass sehr viele verkaufte Plätze leer blieben; erkrankt, verstorben – keine Ahnung, zelebrieren wir unsere „Normalität“. Mich stimmt das sehr nachdenklich.

Die „Tragische“ von Schubert habe ich vor ein paar Jahren schon in Basel gehört, damals mit Holliger am Pult des Kammerorchester (dessen letztes Langzeitprojekt das war: die Schubert-Symphonien mit Holliger, inzwischen komplett bei Sony greifbar und sehr empfehlenswert). Ich erinnere mich da allerdings lebendiger an die Sechste und den Auftritt von Patricia Kopatchinskaja mit einem Konzert von Sofia Gubaidulina – und an die Kälte in der Kirche, in der die Konzerte während des Stadtcasino-Umbaus abgehalten wurden. In der Tonhalle klang Schubert sehr anders, eben nicht in kleiner Kammermusik-Besetzung (dennoch waren einige der später bei Berwald besetzten Stühle leer, v.a. weniger Streicher in allen fünf Stimmen). Die „Tragik“, die Schwere des Werkes, kam dabei deutlicher zum Vorschein. Das war eine stringente, in sich stimmige, überzeugend musizierte Sichtweise – aber ich glaube nicht eine, die ich als meine bevorzugte sehe.

Faszinierend war dann aber Berwald nach der Pause – neben Blomstedt selbst der Grund, weshalb ich das Konzert hören wollte. Seine vier Symphonien schrieb der Altersgenosse Schuberts – Berwald lebte von 1796–1868 – in drei Jahren, 1842–45. Alle tragen sie Titel, die „Kapriziöse“ folgte auf die „Seriöse“, blieb leider unaufgeführt im Schreibtisch des Komponisten liegen – und die Originalpartitur ging irgendwann verloren. „Erhalten hat sich nur die 1842 entstandene Verlaufsskizze des Werks, nach der sich eine Aufführungspartitur rekonstruieren liess. Dieser verdienstvollen Arbeit unterzog sie der Stockholmer Konservatoriumsprofessor Ernst Ellberg, dessen Fassung 1914 in Stockholm zur Uraufführung gelangte. Auf dieser Grundlage hat 1971 Nils Castegren seine Edition im Rahmen der Berwald-Gesamtausgabe erarbeitet; diese Version gilt heute als diejenige, die dem verschollenen Original wohl am nächsten kommt“ (Hans-Joachim Hinrichsen im Programmheft). Für mich war diese Symphonie – die in drei Sätzen ohne ein Scherzo daherkommt – eine echte Entdeckung. Und es war klasse, dass ich sie am Freitag – dann auch richtig ausgeschlafen – gleich noch einmal hören konnte. Einige Motive hatten sich da schon im Gedächtnis festgehakt. Wie Berwald mit Themen und eben auch kleinen Motiv-Kürzeln umspringt, fand ich sehr faszinierend zu hören, das wirkt viel weniger gradlinig, als man es sich sonst mit Symphonien aus der Zeit gewohnt ist (manche sagen dazu „moderner“), sehr lebendig, sehr bewegt, und ja, wie Hinrichsen schreibt, da gewisse Motive immer wieder – auch unerwartet – zum Einsatzkommen, hat das Werk etwas „Kaleidoskopartiges“.

Wie ich im Hörfanden schon geschrieben habe, muss ich wohl Aufnahmen der vier Symphonien besorgen. Die Decca-CD von Blomstedt selbst mit Nr. 1 und Nr. 4 ist derzeit nicht greifbar, aber es gibt bei BIS eine Doppel-CD mit Sixten Ehrling von allen Vieren, die bestelle ich dann wohl die nächsten Tage mal beim Vertrieb (wo ich am Donnertag passenderweise zwei Stenhammar-CDs abholte, die eine mit Neeme, die andere mit Paavo Järvi).

Blomstedt im Gespräch mit Ulrike Thieke von der Tonhalle (für das Tonhalle-Magazin, Herbst 2022):

Diese Neugierde erkennt man auch in Ihren Programmen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, mit dem Sie seit vierzig Jahren verbunden sind. Bei Ihrem Zürcher Debüt im März 1982 dirigierten Sie ein reines Beethoven-Programm, kurz darauf schon ein Werk von John Adams. Im Dezember werden Sie die Sinfonie Nr. 2 von Franz Berwald leiten. Wählen Sie heute Ihre Programme anders aus als in früheren Tagen?

Ja und nein. Wenn man Chef von einem Orchester ist, hat man auch eine besondere Verantwortung. Man muss das Repertoire planen, damit sich das Alte nicht immer wiederholt. Und wenn man Neuigkeiten wählt, muss man beachten, dass es nicht nur um die Neuigkeit geht, sondern auch Qualität bringt. Ausserdem ist man ein Repräsentant für das lokale Musikleben. Und das Publikum soll sich auch entwickeln können. Als Chef hat man viele Aufgaben. Wenn man hingegen als Gast nur ein Konzert macht, hat man ganz andere Möglichkeiten und weniger Zwänge. Man kann den eigenen Wünschen etwas mehr nachgehen. Und manchmal tut es mir leid, dass das Publikum das noch nicht kennt, was ich entdeckt habe. Das möchte man weitergeben. Es steckt also ein bisschen Missionar in jeder/m Musiker*in.

Welche Rolle spielt das Publikum bei Ihrer Auswahl?

Das Publikum ist in jeder Stadt ein bisschen anders, und das ist gut so. Auch wenn man älter wird, darf man nicht einfach nur auf ein paar wenige Schlachtrösser zurückgreifen, nur weil man glaubt, man hat damit mehr Erfolg. Das ist primitiv, eigentlich abscheulich. Dieser Gesichtspunkt «Habe ich damit Erfolg?» ist mir nie eingefallen. Ich bin überzeugt von einem Stück, und das Publikum soll das dann entdecken. Aber dem Publikumsgeschmack nachzugeben, das habe ich nie gemacht. Das hängt vielleicht mit meiner Erziehung zusammen. Das Populäre war mir immer verdächtig. Das Eingängigste, was am leichtesten zu verdauen ist, bei dem man sich nicht anstrengen muss, ist nie das Beste.

Fotos: Schlussapplaus in der Tonhalle am Mittwoch 7.12. (oben) bzw. 9.12. (unten)

Zürich, Kleine Tonhalle – 08.12.20222 – Kammermusik-Lunchkonzert

Isabelle Weilbach-Lambelet Violine
Katja Fuchs Viola
Anita Leuzinger Violoncello
Frank Sanderell Kontrabass
Anton Kernjak Klavier

Toshio Hosokawa «The Water of Lethe», Klavierquartett
Franz Schubert Klavierquintett A-Dur D 667 «Forellenquintett»

Bei so einem Lunchkonzert im Winter (es gibt sie das ganze Jahr über, so alle zwei Monate wohl) war ich schon einmal – damals gab es Schulhoff und Dvorák und ich habe etwas über das Format und das Publikum gespottet (klick). Musikalisch gesehen war das Konzert dieses Mal einheitlicher, das Gebotene überaus ansprechend. Beim Schubert fiel mir die leicht schleppende Phrasierung von Kernjak immer wieder auf – diese rollenden Phrasen, die quasi die Streicher in Schwung bringen, mit höchst spannenden kleinen rhythmischen Akzentverschiebungen.

Aber hin bin ich natürlich nicht wegen des Forellenquintetts, das ich nicht sonderlich mag, sondern wegen des ersten Stückes von Toshio Hosokawa, „The Water of Lethe“ (2015/16 komponiert), in klassischer Klavierquartett-Besetzung ohne Kontrabass. Eine Inspiration, so Ulrike Thieke im Programm, seien Verse des Dichters Walter Savage Landor (1775-1864) gewesen: „On love, on grief, on every human thing, Time sprinkles Lethe’s water with his wing.“ (ich nehme an, vor „Time“ gehört ein Zeilenumbrich, den ich eher mit einem „/“ als mit einem Komma markieren würde, aber ich zitiere ja das Programmheft). Um die Verbundenheit von Kunst und Natur – ein wiederkehrendes Muster, wenn ich an die ersten Begegnungen im Konzert mit Emmanuel Pahud und im Gesprächskonzert im Museum Rietberg zurückdenke – geht es Hosokawa dabei: „Ich wollte eine Musik ohne Anfang und ohne Ende schreiben, die an einen ruhig dahinfliessenden Strom erinnert“ – wieder aus dem Programmheft. Eine nur ruhige Musik wurde daraus allerdings nicht, sehr kraftvoll wird das Stück im Lauf der Zeit, Wirbel, Klangstrudel, Klavierschläge und harte Griffe, die die Materialität, die Körperlichkeit der Streichinstrumente hervorstechen lassen. Ich habe schon nach den ersten Begegnungen mit Hosokawa zum Saisonauftakt mal geguckt, was es so an Aufnahmen gibt, aber die schiere Menge hielt mich bisher noch davon ab, genauer nachzuforschen und mich mal für ein paar CDs zu entscheiden.

Die nächsten Termine – der zweite ein typisches Adventsprogramm (ausverkauft – und das bringt mich noch auf einen interessanten Punkt: die Basler*innen haben eine enorm höhere Hust-Neurosenquote als die Zürcher*innen, echt krass!):

17.12. András Schiff und seine Cappella Andrea Barca mit einem Bach-Clavierkonzerte-Marathon (BWV 1052-1056 & 1058)
20.12. Kammerorchester Basel und Zürcher Sing-Akademie unter René Jacobs mit Bach (BWV 147 und 243) und D. Scarlatti (Salve regina)

Ein Foto habe ich nicht gemacht in der kleinen Tonhalle – aber hier Zürich vor ein paar Tagen, an einem grauen Nachmittag:

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