Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

#10489803  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,009

Chamber Orchestra of Europe, Antonio Pappano, Lisa Batiashvili – Zürich, Tonhalle-Maag – 23.05.2018

Chamber Orchestra of Europe
Antonio Pappano
Leitung
Lisa Batiashvili Violine

György Ligeti „Concert Românesc“
Johannes Brahms Violinkonzert D-Dur op. 77
Zugabe: J.S. Bach: Kantate „Ich steh mit einem Fuß im Grabe“ BWV 156 – Sinfonia (Arr. für Violine und Steichorchester) [?]

Johannes Brahms Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11
Zugabe: Gioachino Rossini Overture: La scala di seta

Ein sehr feiner Abend in der Tonhalle-Maag mit dem Chamber Orchestra of Europe letzten Mittwoch – zu Gast war die vor zwei Jahren in Zürich als artist in residence wirkende Geigerin Lisa Batiashvili, die inzwischen den Status des Fräuleinwunders hoffentlich in aller Augen überschritten hat. Ich hörte sie zum ersten Mal live, war im Vorfeld etwas skeptisch ob des eher konservativen Programmes, ich weiss ehrlich gesagt gar nicht mehr, weshalb ich für das Konzert vor Monaten eine Karte bestellte (gerade bin ich dran, mein Wahlabo für die Saison 2018/19 zusammenzustellen und habe wieder ähnliche Fragen vor mir: wegen eines kurzen Ligeti-Stückes eine Karte kaufen und hoffen, dass der Brahms auch gut wird? So ähnlich ging das wohl, und da ich das Violinkonzert von Brahms erst einmal – mit FP Zimmermann unter David Zinman – hörte …)

Einen leider entscheidenden Fehler hatte das Programm: die erste Serenade von Brahms ist trotz schöner Passagen ziemlich langfädig und so gar kein Rausschmeisser. In diesem Fall hätte also das Konzert – was damals bei Zinman übrigens der Fall war, den Auftakt vor der Pause machte Mozarts „Jupiter“-Symphonie – in die zweite Konzerthälfte gehört. (John Eliot Gardiner spielte in der letzten Saison die – kürzere – zweite Serenade in der ersten Konzerthälfte.)

Aber gut, die erste Konzerthälfte war phantastisch, das frühe Ligeti-Stück, das an Bartók und dessen Aneignungen von Volksmusik erinnert, war ein feiner Auftakt, das COE spielte konzentriert, Pappano ist ein feiner Strippenzieher, der die Dramaturgie und die weiten Bögen im Auge hat, aber fortwährend das Geschehen formt und immer wieder eingreift, da ein bisschen mehr verlangend, dort etwas dämpfend.

Besonders toll wurde das dann im Violinkonzert von Johannes Brahms, das in der relativ kleinen Besetzung sehr dramatisch klang – ein Kammerorchester würde ich das COE in dieser Besetzung mit fast 20 Geigen allerdings kaum noch nennen wollen, doch egal. Der Auftakt gelang mit Schwung und Batiashvilis Einstieg war beeindruckend. Mit welcher Energie und welcher Feinfühligkeit sie das Ding spielte, zugleich hoch dramatisch und wie mir schien sehr reflektiert, zuweilen so zupackend im Spiel, dass da und dort ein paar Töne geschliffen wurden – zudem mit einer in sich völlig stimmigen Intonation, die mir nicht gerade wohltemperiert schien, was da und dort bei Übergangstönen zu interessanten Reibungen mit dem Orchester führten, die sich immer wieder auflösten. Dieses Konzert ist schon beeindruckend, so mein Fazit, um es auch ab und zu im Konzert zu hören, ich gehe also gerne wieder, wenn die Solistin oder der Solist mich interessieren. Batiashvili, das ist jetzt gewiss, will ich in der kommenden Saison mit ihrem Kammermusik-Abend mit Gautier Capuçon und Jean-Yves Thibaudet wieder hören. Pappano, der mich bis anhin nicht so wirklich überzeugte (v.a. bei Opern-Aufnahmen, die im Fernsehen liefen), gefiel mir sehr gut – man scheint ihm auch in diesem Kontext die Erfahrung anzumerken, er „holt“ die Stimmen, die man hören soll, hält anderswo zurück, macht oft fast schon „micro management“, wie man das heutzutage nennt, verliert dabei aber nie das Ganze aus dem Blick. Zudem war er ordentlich interessant anzuschauen, wie er sich auf dem Podium bewegte, stellenweise fast schon tanzte, die Musik oder wenigstens der Rhythmus schien manchmal fast schon aus ihm heraus zu fliessen, aus ihm ins Orchester zu strömen.

Die Zugabe von Batiashvili – wer das Ding arrangiert hat und ob es wirklich aus der Kantate ist (davon hat sie eine Aufnahme unter Szulc gemacht, der nicht der Arrangeur ist, den sie nannte) weiss ich leider nicht mehr, hätte das in der Pause notieren müssen – fand ich dann etwas flach, aber es ist natürlich eine nette Geste, eine Zugabe mit dem Orchester zu spielen. Nach der Pause dann eben die Brahms-Serenade, die schön geformt war, aber eben doch etwas lange. Eine tolle Zugabe riss die zweite Konzerthälfte dann allerdings noch einmal etwas heraus, es gab die Ouvertüre der Rossini-Oper „La scala di seta“ (ich sah in dieser Saison die Wiederaufnahme an der Zürcher Oper) und da war Pappano natürlich völlig in seinem Element. Die eine oder andere Unsauberkeit im Zusammenspiel, die mir davor aufgefallen war – weil mich die langfädige Musik kritisch stimmte und ich darauf achten musste, nachdem mich das Gebotene nicht mehr völlig überzeugte, ging hier wieder vergessen: wenn so elanvoll gespielt wird, mit so einem kompakten und schönen Orchesterklang, wird das sehr gerne verziehen!

Fünf Sterne für Batiashvili, aber etwas Abzug wegen der unglücklichen Programmierung.

Bericht der NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/georgische-geigenkunst-geerdet-zu-hoechsten-toenen-ld.1388337

Edit: die Zugabe war wohl „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 639) aus dem Orgelbüchlein:
http://seenandheard-international.com/2018/05/conducting-and-orchestral-playing-of-the-finest-in-pappano-and-the-coes-brahms/

zuletzt geändert von gypsy-tail-wind

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba