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AutorBeiträge
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friedrichIch kann mich – zugegeben sehr vage – daran erinnern, Peter Brötzmann wohl 2007 im Berliner Club Schlot gesehen zu haben. Kannte ihn eigentlich nicht viel besser als nur vom Namen, glaubte aber „Den muss ich mal gesehen haben!“ War ausverkauft, man ließ mich zuerst nicht mehr rein. Irgendwann erweichte aber die Türsteherin und war mir gnädig.
da war ich auch, aber wir kannten uns noch nicht persönlich, oder? du hast hinterher in einem anderen forum darüber geschrieben, u.a. über die tolle szene, dass ein älterer herr beim ersten, markerschütternden ton von brötzmann beide arme in die luft warf und „jaaaaaaaaa!“ schrie. wenn ich das richtig erinnere.
bei mir kommen einige brötzmann-konzerte zusammen, ein formatives 1992 (mit 18), das letzte (akademie der künste) war 2018 und vielleicht das tollste, auf jeden fall das lauteste, mir wurde wirklich schwindlig dabei. keiji haino auf einem schmalen grat, beinahe von der bühne zu fallen, später schlippenbach, der nicht mehr aufhörte, bis brötzmann abrauschte mit so einem kommentar wie „jetzt ist aber auch mal gut, kinders.“ dazwischen erinnere ich mich an ein kleines konzert mit jungen musiker*innen in einem experimentellen musikspace am mehringdamm, da improvisierte brötzmann sehr inspiriert mit einer schlagzeugerin aus russland, von der ich anschließend leider nie mehr was gehört habe.
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friedrichIch kann mich – zugegeben sehr vage – daran erinnern, Peter Brötzmann wohl 2007 im Berliner Club Schlot gesehen zu haben. Kannte ihn eigentlich nicht viel besser als nur vom Namen, glaubte aber „Den muss ich mal gesehen haben!“ War ausverkauft, man ließ mich zuerst nicht mehr rein. Irgendwann erweichte aber die Türsteherin und war mir gnädig.
da war ich auch, aber wir kannten uns noch nicht persönlich, oder? du hast hinterher in einem anderen forum darüber geschrieben, u.a. über die tolle szene, dass ein älterer herr beim ersten, markerschütternden ton von brötzmann beide arme in die luft warf und „jaaaaaaaaa!“ schrie. wenn ich das richtig erinnere. bei mir kommen einige brötzmann-konzerte zusammen, ein formatives 1992 (mit 18), das letzte (akademie der künste) war 2018 und vielleicht das tollste, auf jeden fall das lauteste, mir wurde wirklich schwindlig dabei. keiji haino auf einem schmalen grat, beinahe von der bühne zu fallen, später schlippenbach, der nicht mehr aufhörte, bis brötzmann abrauschte mit so einem kommentar wie „jetzt ist aber auch mal gut, kinders.“ dazwischen erinnere ich mich an ein kleines konzert mit jungen musiker*innen in einem experimentellen musikspace am mehringdamm, da improvisierte brötzmann sehr inspiriert mit einer schlagzeugerin aus russland, von der ich anschließend leider nie mehr was gehört habe.
Ich bin sehr neidisch auf eure Erlebnisse. Leider habe ich Peter Brötzmann nie live gesehen. Ich glaube, in Kiel hat er nie gespielt und auch in Hamburg gefühlt eher selten.
The Wire veröffentlicht ein Interview von 2012:
https://www.thewire.co.uk/in-writing/the-portal/peter-brotzmann-6-march-1941-22-june-2023--
Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away. Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dickvorgarten
friedrichIch kann mich – zugegeben sehr vage – daran erinnern, Peter Brötzmann wohl 2007 im Berliner Club Schlot gesehen zu haben. Kannte ihn eigentlich nicht viel besser als nur vom Namen, glaubte aber „Den muss ich mal gesehen haben!“ War ausverkauft, man ließ mich zuerst nicht mehr rein. Irgendwann erweichte aber die Türsteherin und war mir gnädig.
da war ich auch, aber wir kannten uns noch nicht persönlich, oder? du hast hinterher in einem anderen forum darüber geschrieben, u.a. über die tolle szene, dass ein älterer herr beim ersten, markerschütternden ton von brötzmann beide arme in die luft warf und „jaaaaaaaaa!“ schrie. wenn ich das richtig erinnere. (…)
Du erinnerst Dich offenbar besser an mein Erlebnis als ich selbst! Ich frage mich, ob ich mir Sorgen um mein Gedächtnis machen soll.
Der begeisterte „Jaaaaaa!“-Ausruf sagt wohl einiges über die befreiende Wirkung, die Brötzmann auf viele hatte.
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)Tributes von William Parker, Joe McPhee, Mats Gustafsson, Shoji Hano, Sven-Åke Johansson, Heather Leigh, John Corbett, Marino Pliakas and Bill Laswell:
„I will think of him and the memories but for now, I wish it would rain.“
Bill Laswell--
God told me to do it.brötzmann, bekkas, drake, catching ghosts (2023)
der jazzfest-auftritt von 2022 in vinyllänge ist jetzt die letzte zu lebzeiten erschienene veröffentlichung. und die ist wirklich toll. brötzmann mit vermindertem lungenvolumen fast melodisch, mit sparsamen, sehr genauen einsätzen, manchmal reibt sich das mikrotonal an der stimme von bekkas, manchmal ist es einfach ein voll-auf-die-12-solo, wenn der raum dafür stimmt. die gimbri gibt groovende ostinati von sich, zu denen drake alle paar sekunden ein neuer groove einfällt, manchmal wünschte ich mir, er würde ein paar takte drin bleiben. in sich ein sehr stimmiges album, wieviel auch immer sie vom live-set dafür weggeschnitten haben, aber die dramaturgie ist gut, kurze, fast tanzbare stücke, die sich mit längeren abwechseln, in denen schöne höhepunkte herausgespielt werden. hätte ich so toll nicht erwartet.
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Ein schöner Text von Markus Müller mit schönen Bildern von Cristina Marx:
Peter Brötzmann “Full of love and respect”
https://kaput-mag.com/rainbow_en/peter-broetzmann-full-of-love-and-respect_cafe-oto_london/Spielt Caspar jetzt Bass und nicht mehr Gitarre?!
zuletzt geändert von icculus66
Hat wohl mit dem Projekt „Bass Totem“ zu tun.
https://www.guitarguitar.co.uk/news/141075/
https://www.goethe.de/ins/ru/de/ver.cfm?event_id=22368592
Zu sehen demnächst (23.04.2024) live in Berlin im Vorprogramm von Khanate:
https://www.berghain.berlin/de/event/77886/--
Free Jazz doesn't seem to care about getting paid, it sounds like truth. (Henry Rollins, Jan. 2013)Der ursprüngliche Thread ist ungeeignet zum Wiederfinden.
Hier deshalb ein Link:
https://forum.rollingstone.de/foren/topic/die-besten-konzerte-2023-so-far/page/5/#post-12348711--
Free Jazz doesn't seem to care about getting paid, it sounds like truth. (Henry Rollins, Jan. 2013)aus dem Faden über die 100 besten Jazz-Alben des RS kommentiert (von vorgarten) – mein Post dupliziert, darunter weiteres als Zitat:
vorgarten
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MACHINE GUN
brötzmann, parker, breuker, van hove, kowald, niebergall, bennink, johansson, brötzmann, zipelius (5/1968)
mai 1968. ich habe viel sympathie für das wegbrettern von heuchelei, kleinkariertheit, anpassung, verharmlosung, autoritarismus, restauration. gesellschaften erproben das freie sprechen, den freien ausdruck. an sehr vielen orten auf der welt. aber man kann auch mit der musik anfangen, die durchaus arrangiert, geordnet, konzipiert ist, setzungen vornimmt: ausgeschriebene themen, vorgegebene solo-ordnungen, kontraste, konstellationen. das ist kein wildes alles-auf-einmal, hier reicht das spektrum vom überblasenen krawall bis zum einzelnen angerissenen ton auf dem daumenklavier. nichts davon ist ohne FREE JAZZ und ASCENSION zu denken (die hier noch anstehen), aber neu ist die schnelligkeit, das stop-and-go, das hauruck von aktion, impuls, stille und reaktion. da liegen schon punk und zorn (john) in der luft, und noise in den welligen soundbewegungen: keine wand, vor der man steht, an der man apprallt, sondern ein dynamisches wechselbad, und man ist mittendrin, wenn man sich darauf einlässt.
was auch auffällt, ist, dass sich diese musik in der welt verortet, sich nicht lokal abschließt wie andere improvisationsszenen. die tänzerischen figuren, die r&b-bläsersätze, das südafrikanische thema, beides am ende von zwei stücken, hat die ohren weit offen zu den erfahrungen von anderen. außerdem haben wir es hier mit einem transnationalen netzwerk zu tun, das sich nicht im aufstampfen in der vertrauten guten stube erschöpft: ein deutsch-niederländisch-belgisch-schwedisch-britisches spektrum des freistoßes, das gleichwohl männlich-mackerhaft anschlüsse sucht an eine größere bewegung.
es gab vor ein paar jahren überschneidungen dieses lauten ausdrucks mit „querdenkerischen“ anti-autoritären me-first-schreihälsen. da muss man natürlich differenzieren, und das hat vielleicht weniger mit den musikern selbst zu tun als mit ihren fans bzw. denen, für die sie auch über 50 jahre später den soundtrack liefern. der partner einen freundes von mir ist vor ein paar tagen an covid-19 gestorben – ja, es ist 2025, sowas passiert noch auf der welt, woanders. womit ich zum ausdruck bringen will, dass ich skepsis habe vor schreienden männern. aber auf MACHINE GUN höre ich auch witz, offenheit und einen feinen sinn für schönheit. und ich möchte diese erfahrung eines vollfrontalen wegbretterns auf keinen fall missen. ein stück auf MACHINE GUN heißt „responsible“.vorgarten
gypsy-tail-wind da krieg ich direkt Lust auf „Machine Gun“, und das ist eher selten der Fall
ich muss gestehen, dass ich MACHINE GUN gestern zum ersten mal gehört habe. keine ahnung warum, ich war ja früh brötzmann-sozialisiert (mein drittes jazzkonzert, glaube ich), wahrscheinlich kam man damals schlecht ran, es fiel mir nicht in die hände…
habe noch länger darüber nachgedacht, wie ich den anti-autoritären gestus dieser musik wahrnehme, der ja irgendwie nicht aus einer ohnmächtigen position heraus kam, und bei dem ich schwer einschätzen kann, ob der immer nur nach oben getreten hat oder strukturell auch nach unten. @.gypsy-tail-wind wird vielleicht nochmal nachschauen, wie irène schweizer das album und seine protagonisten wahrgenommen hat, sie hätte ja hier auch am klavier sitzen können, und das wäre eine sehr starke geste gewesen. aber gut, hätte, wäre, könnte – es hat großen spaß gemacht, sich mit dem album so, wie es ist, auseinanderzusetzen.Fast vergessen, dass ich dazu nochmal nachgucken wollte … Schweizer war Mitte der Sechziger im Trio mit Mani Neumeier und Uli Trepte unterwegs – für alle drei der Übergang von der Amateur- zur Profimusiker*in. Neumeier konnte als einziger der drei Fahren (das Auto hatte er dank seinem Job als Sanitärmonteur, den er 1965 aufgab), in seinem Peugot-Kombi (Bass quer durch, Trepte sass drunter, Bassdrum auf dem Dach) fuhren sie durch Europa und lernten viele Leute kennen, darunter auch die Wuppertaler – die wie das Schweizer Trio beim Jazzfestival Frankfurt 1966 als Hochstapler bezeichnet wurden. Neumeier war 1966 auch dabei, als Schweizer in Stuttgart zum ersten Mal Cecil Taylor hörte, was sie in eine tiefe Krise stürzte.
Die Zeit (6. Mai 1966) über das 10. Deutsche Jazzfestival in Frankfurt (S. 63):
Beim Frankfurter Jazzfestival war es unfein, sich zu amüsieren. Da trug die Dame das kleine Schwarze und der Herr einen Bart, und beide trugen ernste Gesichter. Das entsprach dem ernsten Tun der Avantgardisten. Sie propagieren den sogenannten Free Jazz: Jeder spielt so schnell, so wild, so laut, so unkonventionell er kann irgendetwas, nur ja nichts, was ein Thema, ein Metrum erahnen liesse. Allein: der Gattungsbegriff Free Jazz führt in die Irre. Ganz so frei ist selbst der bislang freieste Jazz nicht. Man muss den Vergleich, auch wenn er in vieler Hinsicht falsch ist, gebrauchen: In der elektronischen Musik ein ‚Thema‘ zu suchen, wäre verlorene Liebesmüh. Wie dort, gilt es im Free Jazz, Strukturen zu hören, Komplexe, die ausserordentlich genau geplant sind, Steigerungswillen, Richtungsabläufe, Klangfeldmonaten, Instrumentalkombinationen. Die Titel verraten einiges von den Absichten: ‚modul‘, ‚intensity‘ – physikalische oder der Architektur entnommene Begriffe werden hier verwendet. In der ernsten Musik hat das Parallelen: Edgar Varèse nannte ein Flötenstück nach dem Dichtekoeffizienten für Platin ‚density 21,5‘. Könner verstehen sich auf die Freiheiten als neues Medium inzwischen so weit, dass der Hörer ihnen zu folgen in der Lage ist: das Gunter Hampel Quartett, das Manfred Schoof Ensemble; besser noch zeigten es die Amerikaner: das Don Cherry Quintet und das Charles Lloyd QUartet. Bei ihnen kann man formale Anlagen heraushören, kann Strukturen erkennen, findet sogar thematisches Material vor. Was mancher andere, etwas das Peter Brötzmann Trio, das Irène Schweizer Trio oder der oben zitierte Wolfgang Dauner mit seinem Trio dagegen ablieferte, schwankte zwischen technischer Unfähigkeit und Hochstapelei. Und Hochstapelei war beim Frankfurter Jazzfestival oft, zu oft vertreten.
Dieter Fränzel aus Wuppertal wurde zum Manager der Band und organisierte die Gigs – und Brötzmann schnappte Schweizer dann den Drummer weg („weil er ziemlich wild spielen konnte. Aber ich glaube, Mani wollte dann selber nicht, es war ihm zu wild nach einer Weile“ – Schweizer, S. 65). Brötzmann erinnert sich, wie das Trio zum ersten Mal nach Wuppertal kam: „Irènes Trio hat zum Teil zeitweilig in Wuppertal gelebt. Ich hatte meine Familie und eine relativ grosse Wohnung, die kamen also erst einmal alle zu uns, und dann wurden die Matratzen ausgerollt und das Zimmer leer gemacht für mehr Matratzen. Meine Frau Christa war eine phantastische Dame, die aus nichts immer noch eine Suppe auf den Tisch stellen konnte, und ein paar Flaschen Bier gab es auch. Ich habe in den Semesterferien in der Wicküler Brauerei gearbeitet, und da gab es immer ein paar Flaschen umsonst, also irgendwie ging es, wer auch immer vorbeikam, das waren nicht nur Musiker. Ich hatte auch damals schon viele Kontakte zu den bildenden Künstlern, besonders in Richtung England und Schottland, und wenn die vorbeikamen, dann gab es die eine oder andere Flasche Scotch auf den Tisch und ein Stück Brot und eine Suppe, und dann schaute man, dass man ein bisschen Arbeit fand. Uli Trepte ist ein paar Jahre in Wuppertal geblieben und Sven-Ake Johansson auch. Den habe ich mit Kowald in Brüssel in einem Park getroffen, mit seinem Schlagzeug auf dem Fahrrad. Wir haben ihn nach Wuppertal geschafft, ihm etwas zu wohnen besorgt und es gab ein bisschen Arbeit, sodass man überleben konnte. Von Wuppertal aus ging eigentlich immer was. Belgien war damals ein gar nicht so schlechtes Land für die Musik, da gab es einen sehr aufgeschlossenen Radiomann, und es gab Clubs. Ich hatte auch ganz früh beretis Kontakte nach Holland, also man konnte da was machen, oder man fuhr für einen Hunderter nach Berlin und spielte zwei Nächte in irgendeiner Kneipe. Auf dem Kudamm gab es damals das Forum Theater, ein kleines Avantgarde-Theater, da haben wir, also mein Trio und Irènes Trio mit Neumeier und Trepte, das erste offizielle Berliner Konzert gegeben, was sich dann auch in der Presse niederschlug, wenn auch nicht unbedingt sehr positiv.“ (S. 65f.).
Vier Jahre hielt das Schweizer Trio mit Trepte und Neumeier, bevor sie sich mit Peter Kowald und Pierre Favre neue Begleiter suchte. Neumeier spielte dann doch mehr mit Brötzmann (dessen Angebot er ein Jahr vor Schweizers Line-Up-Wechsel abgelehnt hatte) und mit Manfred Schoof. Und Neumeier berichtet, dass er auch mit Guru Guru später zeitweilig in Wuppertal (inkl. wieder bei Brötzmann) gewohnt habe, er galt später – als er nach 20 Jahren wieder mal mit Schweizer spielte – als „der böse Onkel, weil ich Guru-Guru gegründet hatte und angeblich mit Rock kommerziell werden wollte – was natürlich überhaupt nicht stimmt“ (S. 66).
Brötzmann über das Politische (S. 68f.), Kontext ist das Trio mit Han Bennink und Fred Van Hove:
Bennink war das [Politische] immer ganz egal, der hatte natürlich auch nicht unbedingt die Überlebenssorgen, wie wir hatten, also das hängt ja immer damit zusammen, und ich meine, wer konnte schon zufrieden sein mit der politischen Entwicklung, die die Bundesrepublik damals nahm. Jazzmusik war ja immer eine Musik, die, wo sie auch entstanden ist, einen wichtigen gesellschaftlichen Hintergrund hatte. Das hat mich immer an dieser Musik und ihrer Geschichte faszinier, weil das für uns auch wichtig war. Ich habe erst später gelernt, dass die Musik von Sun Ra und seiner Gruppe in der frühen Chicagoer Zeit eine hundertprozentige politische Bedeutung hatte, und wir haben das auf unsere Weise später auch versucht. Die FMP hatte ja gerade in Berlin eine politische Bedeutung und eine politische Aussage, und es hat sich an meiner Grundeinstellung dazu auch nicht viel geändert. Ich habe viele Dinge dazugelernt, natürlich haben wir nicht die Welt verändert, aber wir sind doch in der Lage, Anstösse zu geben und Möglichkeiten aufzuzeigen, anders über Dinge nachzudenken. Einfach mal sein Bewusstsein öffnen für ganz andere Möglichkeiten, neue Möglichkeiten, und das ist immer noch mein Hauptanliegen. Wenn ich in den Staaten ibin, erlebe ich das immer wieder – da kommt dieser Europäer und spielt eine komische Musik und inzwischen gibt es viele junge Leute, die zwar von det Geschichte des amerikanischen Jazz überhaupts nichts wissen, aber auf einmal merken, da ist etwas, das sie angeht. Und das passiert glücklicherweise immer öfter. Da macht dann das Weitermachen schon wieder Sinn, das gibt einem auch selbst wieder ein bisschen mehr Kraft, durchzuhalten und es weiter zu versuchen.
Rüdiger Carl ergänzt, dass er sich zwar immer hauptsächlich als Musiker begriffen habe, „nur dass wir stinkig über alle möglichen Zustände waren und Irène speziell mit ihrer Rolle als Frau in der Musik und in der Gesellschaft. Ich war immer schon gegen normierte Vorstellungen, und die Musik hat das auch beschrieben, die ganze Haltung war politisch. Natürlich war man ein Rebell, die Musik war rebellisch und der ganze innere Auftrag der Free-Music-Szene war rebellisch. Gegen das gesellschaftlich Negative wurde Feuer gelegt, und das war auch die Sprache der Musik damals.“ (S. 69)
1967 hagelt es dann zuhause in Schaffhausen erstmals Kritik: die Musik wurde freier und Schweizers langjähriger Förderer schrieb von „Schockwirkung“, sieht die Arbeit am Aufbau eines Publikums für den modernen Jazz bedroht: „Wenn also schon vielerorts der Begriff ‚Kunst‘ von ‚Können‘ abgeleitet wird, wobei man das letztere sicherlich dem seit über einem Jahr im Profi-Fach [das war damals noch von grosser Relevanz, zumindest in der deutschschweizer Szene, dazu hab ich vor längerem hier auch mal irgendwo geschrieben] tätigen Irène Schweizer Trio zubilligen möchte, so kann man doch auch nicht jene Stimmen überhören, die nach diesem Konzert gewillt sind, ‚Avantgarde-Jazz‘ mit musikalischer ‚Selbstbefriedigung‘ gleichzusetzen.“ (S. 70)
„Early Tapes“ (1967, aber erst 1978 veröffentlicht), Comblain-La-Tour, „Nervensäge“ (eine Basler Konzertkritik über Schweizer), fehlender Swing = Etikettenschwindel, grafische Partituren, „Jazz Meets India“ (Irène meets Ernst-Joachim), Saufgelage („ich habe zwei Glas Wein getrunken und vielleicht einen Ramazotti und habe gewartet, bis die Männer fertig waren mit Saufen. Es war schon schrecklich, wirklich“; „Diese Saufgelage […], das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, so Brötzmann: „Das ging ihr sehr auf die Nerven, doch meine Frau hat sich dann um Irène gekümmert. Sie war sowieso, wenn Du Bennink fragst oder wen auch immer, die Seele des ganzen Wuppertal-Betriebes.“; S. 75) – und in dem Moment, als das Trio 1968 allmählich Anerkennung findet, löst sich das Trio auf: „Mani regte mich auf, weil immer noch mehr berühmt werden wollte, er hat sich dann mit Guru-Guru immer mehr Richtung Rock orientiert. Jazz hat ihn immer weniger interessiert, und Uli ist einfach mitgezogen – mitgehangen, mitgefangen.“ (S. 74)
Da sind wir Anfang 1968, ca. Januar – letzter Auftritt des Trios im Kunstgewerbemuseum in Zürich, die „amazing free rock band“ mit den Gästen Barney Wilen und Walty Anselmo (ein schweizer Beat-Gitarrist, der u.a. mit der Rockband Krokodil spielte), Blitzlichtwerfer im Saal … als die Wuppertaler im Mai 1968 „Machine Gun“ aufnehmen, ist Schweizer nicht mehr dort – und ihre beiden ehemaligen Trio-Kollegen auch nicht mehr. Weiter ging es mit Pierre Favre (den sie 1967 kennengelernt hatte) und Peter Kowald, mit dem Schweizer und Favre von 1968 bis 1970 as bereits als Pierre Favre Trio unterwegs waren (doch noch davor, schon am 13. Februar 1968, spielten die beiden mit Jiri Mraz einen Gig in der Kreuzstube in Willisau). Kowald zog ins Hinterland von Luzern, wo Favre und Schweizer bei Paiste in Nottwil arbeiteten. Kowald kam in einem Landgasthof unter und die anderen beiden zahlten ihm immer wieder was, damit er nicht einfach in seinen Kombi sass und beim nächsten Gig nicht mehr dabei war … er zog dann wohl nach Sursee (und bei Brötzmann übernahm Buschi Niebergall, der ja auch auf „Machine Gun“ zu hören ist). Niklaus Troxler, der Mann hinter dem Festival in Willisau, erzählt, wie parallel dazu der kreative Rock aufkam, sie hätten sich nach den Free Jazz-Konzerten „immer im Lokal in so einer alten Scheune getroffen und genau diese Musik gehört, ‚Ten Years After‘ und ‚Jefferson Airplane‘ und dazu getanzt. Da kamen Irène und Peter Kowald auch mit, das gehörte dazu. […] Bei den Free-Jazz-Konzerten kam es vor, dass am Anfang hundert da waren udn zum Schluss noch zwanzig. Das war schon ziemlich zäh.“ (S. 82f.)
Das könnte hier so weitergehen … jedenfalls ist das Wuppertal-Kapitel für die Schweizer Free-Jazzerin, die dort Zugang fand (es ist genau diese eine, oder?), damit zu Ende, das nächste Abenteuer wartete dann in Berlin (Gebers, FMP, die „Kaputtspielphase“, wie Kowald es nannte, die Frauenbands – wie George Lewis begeisterten und aus dem Grafen zu Schlippenbach den Macho herauskehrten).
Das ist jetzt nicht wirklich eine Kontextualisierung – oder nur eine von vielen möglichen, eher Hintergrund für ein faszinierendes „was wäre wenn“, nämlich: was wäre, wenn das Irène Schweizer Trio im Mai 1968 noch zusammen gewesen und auch zu den „Machine Gun“-Sessions geladen worden wäre. Es gibt bestimmt andere Geschichten von den Mitwirkenden, die ja auch aus anderen Gegenden stammten: Belgien, Holland, Schweden, London, Berlin … eine Schweizerin hätte eigentlich schon ganz gut auch noch dazu gepasst.
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Die Seitenzahlen beziehen sich auf das Buch von Christian Broecking: „Dieses unbändige Gefühl der Freiheit: Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik (Broecking Verlag, Berlin, 2016).* * *
icculus66Super! Danke!
vorgarten für die Vorlage und gypsy für das Verwandeln der Vorlage
(wie früher Manfred Kaltz und Horst Hrubesch).
Ich habe noch zur Ergänzung den Beitrag von Wolfram Knauer:
https://jazzforschung.hfm-weimar.de/wp-content/uploads/2019/06/JazzforschungHeute2019_Knauer-Broetzmann-Machine-Gun.pdf
Kann man das irgendwie in einen Extra-Thread für
das Album „Machine Gun“ von Brötzmann bringen?
Wäre doch schade, wenn man das in einem Jahr nicht
mehr finden würde.* * *
lotterlotta@icculus66
danke für den link zu knauer, da werden doch so manche fehldeutungen zu „machine gun“ bereinigt die da so landläufig kursieren….* * *
vorgarten[…] danke auch an gypsy und icculus für weitere einordnungen der MACHINE GUN aufnahmen. ich hatte nur gelesen, dass schweizer sowohl mit kowald als auch mit niebergall unterwegs war, aber nicht, wann genau. das mit den saufgelagen ist interessant, und die frauen als „seelen“ einer szene (im gegensatz zum aktivistischen körper?), aber ausgeschlossenen hat sie sich ansonsten wohl nicht gefühlt, man teilte ja vieles (kein geld, unverständnis, offene anfeindungen).
was knauer zur strukturiertheit und dem aufgreifen von r&b-motiven schreibt, bestärkt mich in meinem hören.* * *
icculus66
Darf ich noch den Link zum Buch von Broecking nachtragen,
denn das scheint ja wohl eine wichtige Ressource zu sein,
wenn man sich mit der Free-Jazz-Zeit beschäftigt (nicht nur
mit dem Brötzmann-Album):
https://www.kulturkaufhaus.de/de/detail/ISBN-9783938763438/Broecking-Christian/Dieses-unb%C3%A4ndige-Gef%C3%BChl-der-Freiheit
… oder bei einem anderen Buchhändler eurer Wahl.
Danke für den Tipp, gypsy!* * *
gypsy-tail-wind
vorgarten
danke auch an gypsy und icculus für weitere einordnungen der MACHINE GUN aufnahmen. ich hatte nur gelesen, dass schweizer sowohl mit kowald als auch mit niebergall unterwegs war, aber nicht, wann genau. das mit den saufgelagen ist interessant, und die frauen als „seelen“ einer szene (im gegensatz zum aktivistischen körper?), aber ausgeschlossenen hat sie sich ansonsten wohl nicht gefühlt, man teilte ja vieles (kein geld, unverständnis, offene anfeindungen).Über die Zumutungen äussert Schweizer sich anderswo ausführlicher … da gehören die „eigenen“ Männer schon auch dazu (alle wollten sie heiraten und so … aber sie war ja lesbisch). Das mit der Seele ist schon eine auffällige Bemerkung – aber im Gegensatz zum Grafen, der echt toxisch rüberkommt im Kapitel über die FIG ein paar Seiten weiter hinten im Buch.
Danke für den Link @icculus66, das Buch ist wirklich eine tolle Quelle, aber eben: es geht halt Schweizer nach, d.h. es dokumentiert weder Wuppertal noch Berlin umfangreich sondern einfach insofern Schweizer involviert war … das war nicht wenig und es gibt auch Exkurse, z.B. zu den dürftigen Gagen und den wenigen Leuten – Cecil Taylor – die schon damals mehr kriegten bzw. verlangen konnten (andere konnten das nicht und taten es trotzdem, die traten dann halt nicht in Europa auf).vorgarten
was knauer zur strukturiertheit und dem aufgreifen von r&b-motiven schreibt, bestärkt mich in meinem hören.Das ist nicht Knauer sondern ein unbekannter (von Knauer zumindest nicht genannter) Rezensent der Zeit damals. Ich finde das eine recht nachvollziehbare Rezension (mal vom Schluss mit der Hochstapelei abgesehen, aber auch das ist wohl nachvollziehbar) – allerdings in ein paar Punkten schon bemerkenswert: dass das Charles Lloyd Quartet da einfach mitgerechnet wird, ohne zu bemerken, dass deren Musik doch ganz anders funktioniert, viel melodischer ist, mit Thema-Solo-Thema-Abläufen usw. … und dass die Themen/Melodien von Don Cherry nur so erahnt werden (müsste ja die Band mit Gato Barbieri, Karl Berger usw. gewesen sein, die höre ich schon als sehr melodisch und zugänglich, wie Ornette Coleman, aber da hörte man damals ja auch noch andere Aspekte, die diese Qualitäten anscheinend für manche Ohren völlig zudeckten).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaKnauer und Broecking verwechselt heute Morgen … jetzt lese ich den Text von Knauer und finde ihn ebenfalls sehr lesenswert, merci dafür @icculus66! Das mit der Struktur überrascht ja nicht wirklich, aber es ist natürlich schön, so eine Analyse dazu lesen zu können!
Interessant finde ich die „Begegnung“ von Free Jazz mit Blues und Soul (nicht mit Jefferson Airplane und so, sondern wirklich Blues, S. 85 ganz unten bei Knauer), denn die gab es in Willisau bis ca. in der Zeit auch noch. Das erwähnt Troxler in denselben Passagen von Broeckings Buch über Schweizer, die ich oben auszugsweise zitiert habe, auch noch – und dass das natürlich irgendwie nicht passte. Aber es hatte Geschichte, denn auch im Africana in Zürich, wo ca. 1964/65 die Blue Notes spielten, wo Dollar Brand damals eine Zeit lang seine Homebase hatte, war neben Brand auch ein Bluespianist regelmässig zu hören, Champion Jack Dupree (mein Vater war bei Dupree – die Blue Notes wären ihm vermutlich zu krass gewesen, aber die Liebe zur Musik von Dollar Brand/Abdullah Ibrahim habe ich ja tatsächlich auch von Kindheit an mitgekriegt)
Ich hab nur eine kleine Kritik an Knauer, nämlich das Framing der Rhythm & Blues-Saxophonisten als „archaisch“ (S. 89 unten) – das dünkt mich sehr von Europa aus gedacht, wo eben der ganze Reichtum des Spiels, der Tongestaltung verkannt, wie sie für Brötzmann ja auch teilweise wichtig waren (er replizierte sowas, baute seinen Ton darauf auf; Knauer geht darauf auf S. 94 ein, zitiert Jost, der von „hochlagigen Klangflächen“ spricht). Mag ein Nebenschauplatz sein, aber wo Knauer – völlig zu recht – am Schluss (S. 98) darauf hinweist, dass die alten Jazzfans mit ihren Klagen über den Mangel an gesellschaftlicher Relevanz der späteren Musikszenen den Fehler machten, ihre Sicht (er schreibt sogar: „unsere“) als „Mass der Dinge“ zu nehmen, so möchte ich halt darauf hinweisen, dass das Framing gewisser afro-amerikanischer Spieltechniken der Zeit (die natürlich weit darüberhinaus ausstrahlten, nicht nur nach whoopatal sondern z.B. auch nach Florida, wo ein Junge, der einst ein Jahr in einer eisernen Lunge lag, David Sanborn, diese Spieltechniken in einem ziemlich irren, sehr bunten Werdegang am Ende so aufbereitete, dass sie selbst in der – auch politischen – Fahrstuhlmusik der „Holding Corporation Called Old America“ (Mingus) nicht störten) oberflächlich wirkt, wenn es nicht eine gewisse Unkenntnis früherer Musikstile verrät (wie sie bei denen, die die alten Zeiten des europäischen Free Jazz vermissen, leider sehr weit verbreitet ist).
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Schlagwörter: Brötzmann, Brötzmann Clarinet Project, Chicago Tentet, Die Like a Dog Quartet, FMP, Full Blast, Globe Unity Orchestra, Last Exit, Peter Brötzmann
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