European Son & Revolution 9 : Schätze oder Schrott?

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  • #10211275  | PERMALINK

    gipetto
    Funk 'n' Punk

    Registriert seit: 04.02.2015

    Beiträge: 12,675

    Da die Produktivität am Schreibtisch im hochsommerlichen Backofen gerade gegen Null fährt, möchte ich die Zeit nutzen, um eine mögliche Diskussion ins Rollen zu bringen. Es gibt viele Alben-Klassiker, die allgemein als Meiserwerke anerkannt werden, aber dennoch äußerst streitbare Titel enthalten, die vorwiegend Unverständnis und Kopfschütteln hervorrufen. Oft werden Fragen laut, warum ein eigentlich fantastisches Album mit einem bestimmten Song/Track (bewusst?) verhunzt wurde, oder was um Gottes Willen sich die Band/der Künstler bei einem bestimmten Song/Track überhaupt gedacht habe.

    Als Beispiele fielen mir hier spontan European Son, das den infernalischen Schlusspunkt von The Velvet Underground & Nico bildet, sowie das aus unzähligen (Archiv-)Bändern und Samples zusammengeschnipselte Revolution 9 von The Beatles ein. Auch hier im Forum wurde viel auf diese Songs geschimpft; sie wurden als Schwachsinn, Überschuss und tongewordene Sinnlosigkeit abgetan. Meine persönliche Meinung ist eine andere:

    Insbesondere European Son schätze ich sehr. Denn in meinen Ohren ist der Track kein beliebiger Krach, sondern vielmehr als ein penibel durchstrukturiertes Chaos zu sehen, in dem jeder einzelne Takt seinen Platz hat. Der Track treibt die hinter den „Cale-Velvets“ stehende Grundidee lediglich auf die Spitze und bereitet das vor, was auf White Light/White Heat weiter vertieft und letztendlich in Sister Ray münden sollte. Natürlich ist European Son anstrengend, nicht immer hörbar, aber letztendlich verdammt gut – und vor allem nicht fehlplatziert.

    Gleiches gilt auch für Revolution 9. Der Track hat natürlich nichts mehr mit Musik im engeren Sinne zu tun und ist vielmehr als ein reines Avantgarde-Projekt zu sehen, das seine verstörende und beängstigende Wirkung nicht verfehlt. Er entwickelt einen regelrechten atmosphärischen Sog, der alles mitreißt und nichts stehen lässt. Allein unter diesem Aspekt ist Revolution 9 ein Meisterwerk, das insbesondere seitens des Handwerkzeuges für das Jahres 1968 mindestens bemerkenswert, wenn nicht revolutionär war. Sind das die Beatles? Nein. Ist das Musik? Nein. Aber für die Stimmung des Albums ist der Track in meinen Ohren unabdingbar und der Fluss von The Beatles ohne Revolution 9 undenkbar.

    It’s your turn – Feuer frei!

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    "Really good music isn't just to be heard, you know. It's almost like a hallucination." (Iggy Pop)
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    #10211345  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    Ich mag die auch beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Bei „European Son“ geht es mir ähnlich wie Dir, gipetto. Ich mag diese Energie und dieses gesteuerte Chaos, das ja gar keins ist.

    Number 9 gehört für mich einfach zum Weißen Album dazu. Als das raus kam, hab‘ ich es sehr zeitnah gekauft und immer wieder gehört von vorne bis hinten, beide LPs. Ich konnte da jeden Ton auswendig. Kann ich vielleicht immer noch. Auch wenn sich meine Wertschätzung für das gesamte Album inzwischen etwas relativiert hat, so gehört es doch zu meiner Biographie dazu als ein wichtiger Meilenstein meiner musikalischen Sozialisation. Und dazu gehört eben auch Number 9.

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    #10220051  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 4,876

    Auch wenn ich Deine – begründete? – Vermutung, dass European Son und Revolution #9 oft und gerne gedisst werden, damit nicht bestätigen kann: Ich stimme Dir in der Bewertung der beiden Tracks zu. Noise, drones und Disharmonie sind ein Thema der Musik von Velvet Underground. Und Revolution #9 ist ja fast sowas wie die auf die Spitze getriebene Essenz des White Albums, wild collagiert, scheinbar zusammenhangslos und in sich widersprüchlich. Klar, dass weder der eine noch der andere Track leicht zu hören ist, aber – Hey! – wir reden hier nicht über easy listening.

    Wenn man will kann man beide tracks auch im Kontext anderer Musik im Speziellen und Kunst im Allgemeinen jener Zeit hören: Im Jazz trieben John Coltrane und andere die freie Improvisation so weit, dass der Deckel vom Topf sprang (und Lou Reed und John Cale kannten das höchstwahrscheinlich) und John Cale hatte vor (und nach) seiner Zeit bei VU mit Avantgarde-Musikern zusammengearbeitet. John Lennon war über Yoko Ono mit der damaligen künstlerischen Avantgarde in Berührung gekommen, er wird John Cage und Stockhausen gekannt haben, in der Literatur wurden Texte zusammengeschnippselt und in der Pop Art vorgefundene Objekte ausgestellt. In sofern befinden sich European Son und Revolution #9 Mitte/Ende der 60er in bester Gesellschaft.

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #10220073  | PERMALINK

    blossom-toe
    Vena Lausam Oris, Pax, Drux, Goris.

    Registriert seit: 07.08.2007

    Beiträge: 4,198

    Free form freak out. Beides hübsch, European Sun ist aber total hübsch.

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    I was born with a plastic spoon in my mouth
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