Re: The Rolling Stones – Licks Europa Tour 2003

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j-w
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maximum rhythm & blues

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Hey Dock, Du wolltest Dich hier nicht mehr äußern, dann sei doch bitte einmal in Deinem Leben konsequent! :voidod:

Nach den kurzen Eindrücken, die ich heute morgen kurz hier hinterlassen habe, kommt hier noch mal die etwas ausführlichere Review, die ich auf der Rückfahrt geschrieben habe!

Diesmal gab es kein Eröffnungsfeuerwerk, das das erste Riff unterstützte. Keith kam raus und haute uns die Akkorde von „Street fighting man“ um die Ohren. Der Sound wirkte in der ersten Hälfte des Programms bei den Rocksongs leider eher matschig. First nights problems oder mangelnde Akkuratheit der Musiker? Schwer zu sagen. Aber es wurde besser. Von daher kann’s an beidem gelegen haben. Die Stones kamen in der seit 89 (abgesehen vom Ausstieg Bill Wymans) nahezu unveränderten Besetzung mit Chuck Leavell (zum Glück ohne weiteren Keyboarder!), Bobby Keys (plus Horn-Section) und Lisa Fisher, Bernard Fowler und Blondie Chapin als Backgroundsänger auf die Bühne, wobei die ersten 3 Songs noch ohne Sänger und Bläser gespielt wurden. „It’s only Rock’n’Roll“ und „If you can’t rock me“ brachten die Stimmung auf Touren, bevor mit „Don’t Stop“ der einzige „neue“ Song gespielt wurde. Jagger hatte einige Sätze auf Deutsch gelernt, die teilweise gut kamen, aber mitunter auch skurril wirkten: „Munschen, das iiis äscht krazzz!“ :lol:
Zu „Heartbreaker“ kamen dann die Bläser auf die Bühne und mittlerweile stellte sich auch heraus, dass die Bühnenrückwand eine gigantische Projektionswand war, auf die teilweise recht originell verfremdet das Bühnengeschehen übertragen wurde. Wenn man aber nur 8 Meter von der Band entfernt steht, verliert dieses Gimmick allerdings enorm an Bedeutung. Für die Fans auf den Rängen und im Umgriff wird das aber sehr hilfreich gewesen sein, weil die Bühne von dort aus dann doch eine ganze Ecke entfernt war.

Es ist ja auch auf der US-Licks-Tour Bestandteil ihrer Hallen-Shows (anders als im „Club“ oder den Stadien) gewesen, ein bestimmtes Album aus der Bandgeschichte zu featuren. Gestern war „Let it bleed“ the choice of the night gewesen. Es gab aber kein “Gimme shelter“, was ja sonst zum Standard-Set der Stones-Touren der letzten Jahre gehört hatte, sondern eher unregelmäßig bis lang nicht mehr gespielte Songs wie „Love in vain“ (Keith akustisch, Woody mit Lap-Steel), „Live with me“, „Monkey Man“ (beide auch auf der Voodoo-Lounge-Tour zu hören gewesen) und Midnight Rambler, das auf der Steel wheels/Urban jungle-Tour sowie auf den No Security-Gigs 99 zu hören war. Während die beiden mittleren Rocker ein wenig matschig klangen, waren „Love in vain“ und „Midnight Rambler“ Bespiele dafür, dass die Stones als Bluesband nichts von ihrer Klasse verloren haben.

Irgendwann kam dann der obligatorische „Keith-solo-Spot“, der diesmal aus „Slipping away“ und „Before they make me run“ bestand. Ersteres war absolut verzichtbar und wurde von den Backgroundsängern gerade eben noch gerettet, der zweite Song kam wesentlich besser. Unterm Strich sind die Keefsongs seit Jahren aber nur noch bestenfalls rührend, selten packend. Die Zeiten, in denen Keith mit „Happy“ noch das Haus gerockt hat (auch wenn oft Mick große Teile des Gesangs übernahm) sind vorbei. Problematisch dabei ist, dass Keith bei seinen Songs die Gitarre nicht mehr komplett durchspielt sondern „den Frontmann“ mit wedelnden Armbewegungen bzw. lässigem Ablegen des Armes über dem Mikroständer gibt.

Wie schwach die Band in solchen Momenten ist, zeigt sich in dem Moment, wo Jagger zurück kehrt (in diesem Fall mit „Start me up“) – die Band auf einmal wieder kraftvoll zupackt (Keith leitet die Gruppe dann wieder) und der Frontmann wieder der beste der Welt ist.
Das nur auf ganz wenigen Gigs 71 überhaupt gespielte „Can’t you hear me knocking“ von Sticky Fingers ist ein weiterer Showhöhepunkt, nicht so sehr der eigentliche Song als typischer Stones-Riff-Rocker, sondern die ausladende Session mit Sax-, Gitarren- und Harpsolo, die auf der Begleitung von Keith und Charlie aufbaut. Auch hier zeigen die Stones wieder Klasse und Woodie spielte das beste Solo, dass ich seit 14 Jahren von ihm gehört habe.

„Honky tonk woman“ und „Jumping Jack Flash“ kommen souverän, die Stones schöpfen aus dem Vollen bevor sie auf die kleine Bühne am anderen Ende des Innenraums wechseln.
Wie auch schon auf den letzten Touren spielen sie dort auf enger Bühne um Chuck Leavell verstärkt relativ reduziert. Da sie, anders als bspw. auf der Bridges to Babylon-Tour aber zuvor nicht auf einer High-Tech-Megabühne mit Extra-Keyboards und Loops spielen, ist der Effekt bei weitem nicht so groß wie damals. Einige Redaktionsmitglieder, die an der kleinen Bühne standen, waren (insbesondere als bei letzen Song auch noch Bobby Keys auf die kleine Bühne kam) gar enttäuscht und konsternierten, dass da lediglich der gleiche Stadionrock transportiert wurde. Sehe ich anders. Zuerst kam das ganz Stadionrock-unverdächtige „Manish Boy“ von Muddy Waters und danach eine wunderbar rumpelige Version von „Neighbors“, dem 3-Miuntenrocker von „Tattoo you“. Und das abschließende „Brown Sugar“ ist halt Stonesrock pur und wenn dieser dann zum Inbegriff des Stadionrocks wurde, dann kann doch der Song nichts dafür, sondern Schuld sind die ganzen Fans, die die Band sehen wollten, und somit die Stadien dieser Welt seit 30 Jahren ausverkaufen.

Zum Abschluss gab’s dann noch ein knackiges „Satisfaction“ mit Konfettiregen in Rosenblatt-Größe. Zwei Stunden gerockt, Stimme heiser geschrieen, Füße plattgestanden, durchgeschwitzt und glücklich.
Bleibt nur die obligatorische Frage:
War’s das letzte Mal?
Ihre konstante Form über die letzte Dekade hinweg bis heute deutet nicht darauf hin, dass sie nicht in 3 Jahren erneut die Bühnen der Welt rocken könnten. Fragt sich, ob sie’s wollen. Gut vorstellbar wäre, dass die Konzerte in Zukunft nicht mehr als über 2 Jahre gehende Welttournee planen, sondern etwas exklusiver auftreten werden. Von daher ist’s bestimmt nicht falsch, sie dieses Mal noch mal mitzunehmen. Noch sind sie da und bringen es!

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Staring at a grey sky, try to paint it blue - Teenage Blue