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Bobby Wellins ist vor ein paar Tagen verstorben. Eine mächtige Stimme und vermutlich einer der ersten Europäer, der das Idiom des modernen Jazz durch und durch beherrscht hat und über die Jahre und Jahrzehnte zu einem grossartigen Improvisator wuchs. Auf der Website des Guardian ist ein Nachruf zu finden:
https://www.theguardian.com/music/2016/nov/01/bobby-wellins-obituary
Ich war vor ein paar Jahren mal in Kontakt mit seiner Tochter, die meine Fragen an Bobby weiterleitete und seine Antworten übermittelte, als ich an meinem kleinen Wellins-Artikel fürs Glasgow-Heft von get happy!? sass – leider scheint die Website von get happy!? wieder einmal – oder auch endgültig? – verschwunden zu sein.)
Ich bin dann mal so frei:
Bobby Wellins – Sänger ohne Worte
Bobby Wellins’ Kunst ist eine des Paradoxen. Mit einem Ton, der verletzlich und stechend zugleich ist, stülpt Wellins sein Innerstes nach aussen, ist aber gleichermassen zu Pathos oder beißendem Spott in der Lage. Er setzt verschlungene neben scheinbar naive Phrasen und bewegt sich rhythmisch auf Höhen, die nur ganz wenige erklimmen.
von Flurin Casura
Robert Coull Wellins wurde am 24. Januar 1936 in Glasgow geboren. Sein Vater, ein russischer Jude, spielte Saxophon und Klarinette, seine Mutter trat als Sängerin auf. Mit zwölf erhielt Wellins erstmals Saxophonunterricht von seinem Vater, neben der Klarinette und dem Altsaxophon studierte er früh schon Harmonielehre und Klavier. In den Fünfzigerjahren spielte er mit verschiedenen Tanz-Bands und machte erste Aufnahmen mit Buddy Featherstonehaughs Quintett. Als er 1958 – Wellins hatte inzwischen im Tenorsaxophon sein Instrument gefunden – mit Vic Lewis in New York war, erkannte er auf der Straße eine markante Silhouette mit Pork-Pie-Hut, nahm seinen ganzen Mut zusammen und verbrachte die nächsten beiden Stunden in einer Bar mit seinem großen Vorbild – Lester Young.
Rasch wurde klar, dass Wellins zu den herausragenden Stimmen des britischen Jazz gehören würde. deutlich zu hören in seinem Solo über „Caravan“ mit Tony Crombies Gruppe Jazz Inc. (Tempo 1960; ***½). Seine individuelle Sprache ist im Ansatz schon da, er scheint jeden Ton anders zu intonieren, scheint sich an die Töne anzuschleichen, sie einzukreisen.
This young Scot is one of the most original stylists ever to appear in Britain. He has a way of tempering a note which is all his own, as if he was working from a different pitch centre. It is a fascinating style, one that needs repeated listenings in order to be understood. Harry Klein
Wellins spielte mit Johnny Dankworth und Tubby Hayes, 1965 folgte der große Durchbruch mit Stan Traceys nach Dylan Thomas komponierter Suite Under Milk Wood (Columbia 1965; *****). Im zweiten Stück, „Starless and Bible Black“, bläst Wellins ein Solo, das ihn unsterblich machte – Richard Cook und Brian Morton schreiben im Penguin Guide to Jazz: „‚Starless and Bible Black‘ remains the key reference-point for Wellins, a moment of brooding lyricism not without a hint of self-mockery, and it is a characteristic common to the resident of Llareggub and Glasgow that they don’t take themselves too seriously, even when they are pouring their hearts out.“
Es ist genau diese Fähigkeit, tiefe Gefühle ungefiltert in Musik auszudrücken, sich ungeschützt preiszugeben, jedoch dabei nie den Humor zu verlieren, sich auch zurückzunehmen, wenn es angebracht ist, die Wellins zu einem so herausragenden Musiker macht. Woher Wellins’ Sound stammt, ist unklar – er nennt zwar bereitwillig Sonny Rollins, Zoot Sims, Lester Young, Coleman Hawkins, John Coltrane, Stan Getz, Harold Land oder Teddy Edwards, aber auch Louis Armstrong, Bud Powell, Johnny Hodges oder Billie Holiday als Einflüsse – aber das erklärt noch lange nicht, wie er zu seinem persönlichen Stil fand. Jackie McLeans sardonisches Spiel ist vielleicht geistesverwandt, auch wenn Wellins’ Ton ein ganz anderer ist. Klar ist, dass er einen großen Wiedererkennungswert hat, mit seinem sehr langsamen Vibrato, seiner besonderen Phrasierung und der eigenwilligen Intonation.
Auf den Durchbruch mit Tracey – Wellins galt damals neben Joe Harriott auch als die andere Hälfte der britischen Jazz-Avantgarde – folgten allerdings düstere, schwierige Jahre. Er verschwand für ein Jahrzehnt von der Bildfläche. Gequält, wie es heißt, vom Gedanken, seinen amerikanischen Kollegen unterlegen zu sein, flüchtete er sich in die Drogensucht. Das ist um so tragischer, als Drummer Spike Wells später berichten sollte, wie er Wellins in den frühen Sechzigern als Opener für Johnny Griffin in Londons legendärem Ronnie Scott’s gehört habe: „at the end of the night there was no doubt in my mind that Scotland had coasted to victory over America in the ‚little giant‘ stakes.“
Although straight from the tradition of the jazz legacy the music had a freshness, immediacy and openness that suggested that it could move in any direction at anytime with the merest hint of that direction from any one of the participants. Andrew Cleyndert
1977 gelang Wellins das Comeback, er spielte zwei LPs für das kleine Label Vortex ein und trat in verschiedenen BBC-Sendungen auf. In den Achtzigerjahren wurde er immer aktiver, spielte wieder mit alten Kollegen wie Stan Tracey, Kenny Wheeler oder Art Themen, leitete mit dem Tenoristen Don Weller ein Quintett und gehörte zur Big Band von Rolling Stones-Drummer Charlie Watts. Mit dem früh erblindeten Pianisten Pete Jacobson (1950–2002) und dem Veteranen Spike Wells (*1946) am Schlagzeug fand Wellins zwei hervorragende Begleiter für seine eigene Band. Die erste Scheibe nach dem Comeback wurde im Juni 1978 live in Brighton eingespielt The Bobby Wellins Quartet Live … Jubilation (Vortex 1978; ***1/2). Pianist Jacobson bedient vornehmlich ein Fender Rhodes, während Wells und Bassist Adrian Kendon für einen nervösen Beat sorgen, der stark an Miles Davis’ Quintett der Sechzigerjahre erinnert. Wellins bläst darüber intensive, ja turbulente Soli, in denen die rhythmischen und melodischen Akzente sich fortwährend verschieben.
Die gleiche Band mit Kenny Baldock am Bass ist auf Making Light Work (ERCO 1983/JSP 1997; ****) zu hören. Die Aufnahme entstand, als der Leuchtenfabrikant ERCO Wellins bei der Eröffnung eines neuen Londoner Showrooms auftreten ließ und war ursprünglich nicht im Handel. Wellins zeigt die bis dahin wohl reifste Leistung seiner Karriere, glänzt in vornehmlich selbst geschriebenen Stücken mit seinem großen Ton, erzählt sorgfältig konstruierte und doch sehr intensive Geschichten, während sein Trio ihn antreibt, umsorgt, auffängt. Was auf den ersten Blick wie eine einfache Blowing Session aussieht, entpuppt sich als musikalisches Ereignis, die Band ist perfekt abgestimmt. Wellins swingt hart, schlägt Haken, verschiebt den Beat, schaltet nach Belieben die Gänge hoch und runter und drängt mit großem Appetit in alle Richtungen, während sein ganz eigener, kraftvoller Lyrismus immer durchschimmert – Bobby Wellins war endgültig angekommen.
Zwei herausragende Alben folgten 1996. The Satin Album (Jazzizit 1996; *****), Wellins’ Hommage an Billie Holidays legendäres Album „Lady in Satin“ von 1958, besteht aus denselben zwölf Stücken, die Holiday einst mit schwindenden Kräften und gebrechlicher Stimme gesungen hatte. Wellins’ reifes Spiel bewegt sich ganz nahe am Gesang, er bewerkstelligt gewissermaßen die umgekehrte Form von Vocalese, lässt die Worte weg, behält aber deren emotionalen Gehalt bei, und so ist die Musik unter der getragenen Oberfläche voller Emotionen. Colin Purbrook am Piano und Clark Tracey am Schlagzeug agieren hervorragend, es ist aber der Bassist Dave Green, der besonders hervorzuheben ist. Glänzt Wellins in „I Get Along Without You Very Well“ noch mit seiner wohlbekannten Selbstbeherrschung und seinem Humor, so geht er mit „For All We Know“ aufs Ganze, liefert ein bewegendes Plädoyer dafür, den Tag zu pflücken, und erreicht in seinem Spiel ein neues Level an emotionaler Tiefe und Sophistication.
Ein paar Monate früher entstand im kleinen Club The Vortex in Stoke Newington die überragende Live-Aufnahme Don’t Worry ’Bout Me (Cadillac 1997; *****). Über einem treibenden Latin-Beat von Martin Drew (Drums) und Alec Dankworth (Bass) fängt Wellins schon im öffnenden „I Concentrate on You“ bald Feuer und Pianist Graham Harvey legt nach. Es folgt eine Reihe Standards, denen Wellins Erstaunliches abgewinnt. Besonders gelungen sind das mit vollem Ton und perfektem Timing inszenierte Balladen-Solo im selten gehörten Titelstück, das Billie Holiday 1959 auf ihrem allerletzten Album sang, sowie das unmittelbar folgende „How Deep Is the Ocean“. Diesem längst totgespielt geglaubten Stück gewinnt Wellins ein neues Leben ab, und zwar eins, in dem alles drinsteckt, Schönheit, Erschöpfung, der Abgrund – und das alles in zwölf Minuten, auf die Essenz verdichtet.
Later still, imagine my delight at learning that Robert Coull Wellins was a Scot, and not only a Scot, but a Glaswegian. Those sounds suddenly seemed to come from somewhere very much closer to home. It made sense: the mixture of toughness and romanticism, the supple mix of straightforward statement and delighted elaboration, an absolute directness. Brian Morton
Ein Jahr vor seinem siebzigsten Geburtstag spielte Wellins auf dem Festival in Appleby ein großartiges Konzert, zu hören auf When the Sun Comes Out (Trio 2006; *****). Schon im ersten Stück, einem Blues, geht es mächtig zur Sache, die neue Band mit Mark Edwards (Piano), Andrew Cleyndert (Bass) und Spike Wells (Drums) agiert überragend. Es wird schnell klar, dass sie in einer Zone spielen, die sich weit von dem wegbewegt, was man üblicherweise von einem Set aus Standards und Blues erwarten darf. Wellins prägt das Geschehen mit seinem Ton und seinem Ideenreichtum, ist aber mehr denn je in der Lage, sich zurückzunehmen und den Begleitern Raum zu geben. Diese Musik beruht, so schrieb Bassist Cleyndert, auf bedingungslosem Vertrauen. Jeder Musiker kann seine Ideen einbringen, darf in die Richtung gehen, in die es ihn treibt. Das Ergebnis, so Cleyndert, ist eine ganz besondere Gruppendynamik, in der die üblichen Funktionen der Musiker zwar in Kraft bleiben, aber zugleich auch ineinander überfließen, die vier zugleich als einzelne Stimmen zu hören sind, aber auch auf eine Art miteinander verschmelzen, die kaum je zu hören ist. Das wird gerade in der Ballade „Monk’s Mood“ deutlich. Wellins gräbt tief im American Song Book, es folgen „Mad About the Boy“, „When You Wish Upon a Star“, „Fascinating Rhythm“ und das Titelstück von Harold Arlen. In „Star“ wechselt die Band mühelos zwischen 3/4-Takt in einen swingendenden 4/4, „When the Sun Comes Out“ gräbt sich langsam in den Blues ein und wird zu einem tief empfundenen Höhepunkt des Sets und überhaupt von Wellins’ Werk. Drummer Spike Wells – er nahm bei Philly Joe Jones Unterricht, als dieser in den Sechzigern ein paar Jahre in London lebte – treibt die Band an und holt mit seinen wechselnden Akzenten das Beste aus Wellins heraus.
Wells, Edwards und Cleyndert sind auch auf dem Album Snapshot (Trio 2008; ****½) zu hören, das verstreute Live-Aufnahmen aus den Jahren 2007 und 2008 vereint. Wie die Band im öffnenden „My Funny Valentine“ langsam die Intensität hochschraubt, während Wellins von lyrischen Linien in rasende Läufe stürzt, die abrupt abbrechen, um sogleich weiterzufliegen, erinnert erneut stark an Miles Davis’ Band der Sechzigerjahre. Den Höhepunkt setzt Wellins im Closer „Dizzy’s Blues“ mit einem leidenschaftlichen Solo.
Wellins’ bisher letzte Aufnahme entstand im Juni 2010 und erschien im vergangenen Jahr. Time Gentlemen, Please (Trio 2011; ****) wurde ohne Publikum mit einer neuen Band eingespielt: John Critchinson (Piano), Andrew Cleyndert (Bass), Mark Taylor (Drums). Das Programm besteht zum Großteil aus Standards und Pop-Songs, wir hören eine ganz eigene Version von „It Never Entered My Mind“, das selten gehörte „I’m Wishing“ aus Disneys „Snow White“, den Sinatra-Klassiker „In the Wee Small Hours of the Morning“, ein bluesgetränktes „Willow Weep for Me“, eine verspielte Version von „St. Louis Blues“ inklusive Habanera-Rhythmen und – man stellt sich Wellins’ diebische Freude beim Spielen sofort lebendig vor – den Song „Quando Quando Quando“, mit dem Tony Renis 1962 in San Remo aufgetreten war. Das Stück beginnt mit einem leichten Samba-Beat der Drums, die Band setzt ein und Wellins setzt gelassen zum Solo an. Er agiert wie ein alter Meister, die Band ist allerdings etwas weniger überzeugend und man wünscht sich lebhaft das extra Quentchen Feuer, das Wellins vor Publikum zündet.
Auf die Frage nach seinen schottischen Wurzeln meint Wellins, er sei stolz auf seinen Geburtsort, die Gorbals in Glasgow – man habe ihm zudem wiederholt gesagt, er klinge schottisch. In der Aufnahme von „Under Milkwood“ sieht Wellins einen Meilenstein seiner Karriere; kaum geringer ist seine Freude über seine kürzliche Tour mit dem Scottish National Jazz Ochestra, bei der seine eigenen Kompositionen präsentiert worden sind, darunter die „Culloden Moor Suite“. Er freut sich, mit 76 immer noch spielen zu können und meint, die vielen tollen Aufnahmen, die er in den letzten Jahrzehnten zustande brachte, seien besonders den Leuten zu verdanken, mit denen er spielen konnte. Wellins spielt heute noch das Selmer Balanced Action-Tenorsaxophon, das er in seiner Zeit an der Musikschule der Royal Air Force auf Urlaub mit seinem Vater gekauft hatte – es hat denselben Jahrgang wie er, 1936. Seine wichtigste Lektion: die Messlatte beim Improvisieren stets hoch anzulegen.
Wie Spike Wells 1978 in einem luziden Text über Wellins schrieb, ist dessen Kunst eine des Paradoxen. Mit einem Ton, der verletzlich und stechend zugleich ist, gelingt es Wellins, sein Innerstes, aber auch Pathos oder beißenden Spott auszudrücken, harmonisch hängt er verschlungene an scheinbar naive Phrasen, rhythmisch bewegt er sich auf den Höhen, die auch Sonny Rollins erklommen hat, setzt Akzente und verschiebt Phrasen mit einer Leichtigkeit, die äußerst rar ist. Wellins kombiniert, so Wells weiter, zugleich Verletzlichkeit mit hartem Swing, komplexe Feinheiten mit einer folkigen Direktheit. Das mag auf dem Papier klar klingen, in der Musik bleibt es rätselhaft, ist mit Worten nicht zu fassen.
(leicht gekürzt erschienen in get happy!? Nr. 3, 2012, S. 44-46)
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba