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29. september 1972. live, lincoln center, new york.
direkt nach den aufnahmen zu „rated x“ war die band (miles, garnett, lawson, lucas, balakrishna, henderson, mtume, roy, foster) zu einer kleinen us-tour aufgebrochen, viel geübt haben die vorher nicht. merkt man auch hier. die erste 5 minuten sind ein schlag ins gesicht der miles-davis-hochkultur und für fans von KIND OF BLUE. demonstratives einspielen auf einem schnellen beat von foster, alles andere als fein: die leicht geöffnete hi-hat (ein trademark-sound) schmiert dreckig über den quasi-funk hinweg, die bassdrum sorgt für hardrockgeeigneten druck. lawson orgelt ein bisschen, mtume macht irgendwas, henderson spielt im pizzicato einen ton. die wah-wah-funk®gae-fraktion formiert sich, lucas natürlich, aber auch balakrishna. dessen sitar keine weltmusik-seufzer mehr evozieren mag: verkabelt mit wahwah und wohl auch ringmodulator splittert und fetzt sein gerät in die funkangebote von foster, nur ab und zu verraten ein arpeggio oder ein zurückfahren der effekte, dass man es hier mit einem ganz anders gestimmten instrument zu tun hat (toll, seine haltung dahinter, wie komplett eigensinnig er hier agiert).
miles spielt im harmoniscch offenen raum, dann, nach 5 minuten, wird hendersons bass deutlicher und 90 sekunden später ist seine rollende dub-figur aus „rated x“ da, sofort von foster aufgegiffen. miles‘ solo ist völlig sicher, obwohl die ursprungsaufnahme gar kein trompetensolo aufwies – unfassbar, wie er die miles-typische verlorenheit und grazie selbst im zugerichtetsten effektfuror produzieren kann. permanent, dabei flüssig, immer in bewegung, sehr schräg aufeinander bezogen, die percussion von roy (immer musikalisch reagierend, dazuerfindend, weit über die tradition seines instruments hinaus) und mtume (oft spröde neben dem beat, wie eine umlaufbahn weiter, im eigenen film, dann wieder punktgenau drin). lawson hat genaue instruktionen oder ein aha-erlebnis bei der „rated-x“-session gehabt und spielt die orgel so wie miles dort: clusterakkorde, über dem hexengebräu aufgespannt, mit ganz lässiger geste reibung erzeugend. man weiß nicht ganz genau, was und wen man da im einzelnen hört, vor allem lucas und balakrishna sind oft ineinander verschmolzen, und macero ist sowieso nicht zu trauen, so, wie er die instrumente im raum wandern lässt.
carlos garnett darf solieren, mit hand und fuß und schönem aggressiven approach, er ist kein anfänger, hat bei freddie hubbard und den jazz messengers gespielt, bevor er sich ins vollelektrifizierte getümmel stürzte – als erster miles-saxofonist, der sich auch noch an ein wahwah anschließen lässt! man merkt seinen widerwillen, trotzdem ist das super, was er hier macht, im strudel verschwindend, dann wieder als klare sopransax-stimme aufsteigend.
die band geht zu „honky tonk“ über, nachdem sie miles‘ wink der ersten töne von „black satin“ komplett überhört hat. JACK JOHNSON also wieder, wahrscheinlich, weil das henderson-repertoire ist, und der muss wissen, wohin der hase läuft. reggie lucas versucht eine blues-gitarre, wird von henderson und foster aber komplett in der luft hängen gelassen. sobald miles anfängt, sind beide aber sofort in einem langsamen blues-groove und miles spielt ein wunderschönes solo (garnett auch). dann „right off“, superschnell, mit großartigen effekten. toll, wie die tonmeister badal roy abgemischt haben, mit leichtem hall, wie auf einer eigenen kleinen wolke. die foster-trance setzt ein, miles geht noch ein stück über sich hinaus, henderson schiebt grooves vor sich her. dann endlich die kinderliedmelodie von „black satin“, wieder ein proto-dub, und dann gibt es kein halten mehr. was für ein unfassbarer lärm, dreck, krawall. wie foster immer diese trance herstellt und doch nie langweilig wird dabei. miles ist irgendwo in den sternen. als es zuende geht, spielen roy und mtume ein duett, in das sich die sitar einmischt, eine coda eigentlich, aber wie auf kommando geht die komplette band nochmal in das stück zurück, verschläft miles‘ „sanctuary“-abgang, endet in einer irren dissonanz. ende teil 1.
die „ife“-version, fast eine halbe stunde lang, ist ein juwel für sich. im ersten teil schlagen foster und henderson eine minimalistische trance vor, die lawson mit ambivalenten akkorden verrätselt. balaksrishna spielt das bassriff mit, lucas wechselt zu verzerrten akkorden oder zu schwebenden kommentaren. miles bringt irgendwann das bläsermotiv ein, dass auch kinderliedhaft ist und immer wieder eingesetzt wird, ohne dass die phasen dazwischen „soli“ sind, sondern umspielungen. ein bisschen denkt man an „guinnevere“ zurück oder die „nefertiti“-experimente mit shorter, in denen quasi das setting improvisiert und die solisten im thema stagnieren. irgendwann, kaum spürbar, steigt die intensität. alle arbeiten daran mit, nichts davon steht im drehbuch. es gibt momente, wo mtumes teppich-percussion plötzlich in den beat findet, roy genau den richtigen akzent findet, balakrishna eine oktave höher wechselt und foster einen break spielt. danach geht es nicht mehr runter. miles soliert durchgehend fantastisch, wie ein bohrer, der sich die ganze zeit durch das brett der sounds bohrt (und phasenweise auch nur mitvibriert). wenn diese musik überhaupt lücken zulässt, hört man das angesteckte publikum hindurch. das thema bekommt was flehendes. dann, nach 14 minuten, teil 2 – henderson wechselt zum originalen bassriff, das ungefähr vier mal so schnell ist, reduziert es aber sofort auf rock-funktionalität, mit foster wieder auf der halb geöffneten hi-hat. lucas‘ und balakrishnas rhythmus-begleitung deuten wirklich ständig reggae an. zwischendurch gibt es kakophonische momente, in denen alle an ihren effektgeräten frei drehen, aber nach 5 minuten schon deuten merkwürdige orgelakkorde (von miles?) den dritten teil an, der auf dem nur halb so schnell gespielten bassriff aufgebaut wird (fängt wie hiphop an). und das wird dann nochmal ganz toll, als henderson noch einen gang herunterschaltet – gespenstische sounds, miles‘ flehende trompeter, splitternde elektrosounds, warm wabernde orgel, schließlich ein zartes umspielen des basses. das ist dann nicht mehr ganz von dieser welt.
der rausschmeißer dann wieder „right on“, ein rock-vamp, mclaughlin fehlt aber, um sich darauf auszubreiten, das übernhehmen hier quäkorgel, verzerrte sitar und der bemühte reggie lucas, der vielleicht als einziger noch nicht so recht in den sound dieser band gefunden hat. pubikumsdienliche letzte soli von miles und carlos, letzte funken aus elektrogeräten, kurzschluss der spielkonsolen. ich weiß nicht, was man live davon überhaupt hören konnte. aber dieses kraut-labor ist wohl meine lieblingslivemilesband. kein souljazz mehr, kein groove mit klangfarben – es ist ein trip, an den alle angeschlossen sind.
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