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1. juni 1972. der erste von zwei studioterminen, an dem das material zu ON THE CORNER entsteht, mit einer weiteren session am 7. juli für overdubs (percussion, handclaps und pfeifen).
am ersten tag ist erstmals dave liebman dabei, der nach einem anruf alles stehen und liegen lässt, sich ins taxi setzt, im studio sofort zum sopransolo angestiftet wird, wobei er nur percussion und drums hört, weil alles andere direkt ins mischpult geht und er keinen kopfhörer bekommt. außerdem anwesend: hancock und corea, der organist harold ivory williams, mclaughlin, henderson, dejohnette, mtume, billy hart und don alias, außerdem wieder ein sitarist (diesmal collin walcott) und tabla-spieler badal roy. der cellist und arrangeur paul buckmaster ist auch anwesend, er hat die gil-evans- bzw. joe-zawinul-rolle, die funktionalität des schichtwerks zu gewährleisten. er und miles hatten sich kurz vor den BITCHES-BREW-sessions kennen gelernt und festgestellt, dass sie beide gerade an konzepten von vielschichtigen groove-experimenten auf nur einem ton arbeiten, etwas, dass miles nun noch einmal anders angehen wollte.
die materiallage ist etwas schwierig. da alles separat aufgenommen wurde, stehen momentan der macero-mix und ein remix der originalbänder von bob belden und richard king (für die „complete“-box) zur verfügung. an bill laswells PANTHALASSA-remixen kann man erahnen, dass man daraus auch nochmal ganz andere facetten herausarbeiten könnte. am 1. juni jedenfalls entsteht nach einigen anläufen ein ca. 20-minütiger jam auf einer schlagzeugfigur (15 schläge auf die hi-hat und ein schlag – auf die 4 – auf die snare) und einem einzigen basston (und es ist unglaublich, was henderson auf dieser grundlage macht). nicht ganz – oder nur manchmal – auf diesem beat sind tabla und conga, die sich sehr reizvoll ergänzen, ebenso gibt es weitere percussion-akzente (oft auf die 1 und 3), doppelgongs, shaker, bongos. mclaughlin spielt ganze drei soli, liebman zwei (tatsächlich hörbar ohne kenntnis des harmonischen settings). die drei keyboarder klingen nicht wie die auf IN A SILENT WAY, sondern viel spaciger (vor allem hancock merkt man die mwandishi-phase an), auch mclaughlins spiel hat sich verändert, greift fernöstliche linienführungen auf, ist noch experimenteller in der tonbearbeitung geworden. er wiederum wird von den drones der sitar umspielt und kommentiert. miles verschwimmt teilweise in diesem gebräu, zumindest in den einzelnen sounds – nur selten setzt er zum rhythmischen spiel an, legt eher ambivalente lange linien durch die groove-masse, wie überhaupt eher eine harmonisch ungreifbare, melancholische, reflexive atmosphäre dominiert. der beat bleibt konstant (wird nur phasenweise geradliniger), trotzdem ist sehr viel abwechslung drin, weil immer eine andere schicht an die oberfläche geschwemmt wird. macero hat noch was kurzes davor und danach geklebt, ein bisschen kanalwanderung verursacht und die spacigkeit der sounds betont. ansonsten gibt es wenig unterschiede zum „unedited master“, wie sich das ding auf der komplett-box nennt.
in nur 5 minuten entsteht danach noch ein zweites stück auf gleicher grundlage („on the corner“, take 4), in dem es sehr viel heftiger zur sache geht. mclaughlin und walcott solieren gleichzeitig, während die groove-maschine ein perfektes gebilde erschafft. miles und liebman setzen dabei aus.
wenn man die entwicklung der live-bands verfolgt hat, kommt diese session nicht mehr so daher wie von einem anderen stern. die rückführung der themen auf trance-artige grooves, die zurückbildung der solo-anteile (von bartz abgesehen) waren schon angelegt, dejohnette spielt auch quasi eher im chancler- als in seinem eigenen stil. die weltmusik-klangfarben gab es schon in der zawinulphase, maceros produktionsexperimente auch. neu ist die selbstbewusste ausstellung der loops und repetitionen und das verständnis der grooves als schichtwerk, ohne unbedingt von sich aus miteinander verbunden zu sein. dass das ganze als angebot an die schwarzen kids gedacht war, die sly and the family stone hörten, ist nach wie vor schräg. auf der session am 1. juni entstehen aber tatsächlich noch radio spots, die schon eine aggressive vermarktung des angedachten albums vorweg nahmen.
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