Antwort auf: Meine neuesten Musikbücher

#9905965  | PERMALINK

ford-prefect
Feeling all right in the noise and the light

Registriert seit: 10.07.2002

Beiträge: 10,272

Vorhin stand ich vor der Wahl, entweder die Dickies im Café Central in Weinheim zu begaffen oder etwas für den Kopf zu tun. Ich entschied mich für Letzteres und besuchte, wie 29 ähnlich Interessierte, die Lesung…

Sound of the Cities – Eine popmusikalische Entdeckungsreise, Philipp Krohn & Ole Löding // Karlstorbahnhof, Heidelberg, 29.7.2016

Rund um die Welt sind die beiden Journalisten Philipp Krohn und Ole Löding geflogen, zwei studierte Germanisten und Historiker, um 24 Großstädte zu besuchen und die dortigen Musikszenen zu erforschen. Darunter London, Austin, Detroit, Nashville, New Orleans, Seattle, New York und Paris. Ihr Antrieb sei gewesen, Gemeinsamkeiten zwischen diesen urbanen Szenen freizulegen und nach tieferen Gesetzmäßigkeiten zu suchen, wie großstädtische Musikszenen entstehen und sich geographisch bündeln. Daraus entstand das im September 2015 erschienene Sachbuch „Sound of the Cities“, zwischen wissenschaftlich und anekdotisch. Darin machen sie die Gleichung auf: Chicago ist wie Berlin.

Für ihr Sachbuch interviewten sie bekannte und weniger bekannte Musiker und schauten sich verschiedene Musikclubs an. Vor allem aber suchte das Duo immer zuerst, wenn es eine neue Metropole betrat, die örtlichen Plattenläden auf, um eventuell darin zufällig auf szenekundige Sachverständige zu treffen. Wie in dem Geschäft Reckless Records in Chicago, wo sie auf einen wissenden Verkäufer trafen.

Ihre mäßig besuchte Freiluft-Lesung im Hinterhof des Karlstorbahnhofs war wie ein Nachhausekommen für den Frankfurter und den Kölner, die beide um die Jahrtausendwende herum an der dortigen Universität studiert hatten. Hinter zwei Schallplattenspielern las das Duo aus seinem Buch vor und spielte beispielhafte Songs ab wie „Berlin“ von Ideal („Graue Häuser, ein Junkie im Tran, es riecht nach Oliven und Majoran / Zweiter Stock, vierter Hinterhof, neben mir wohnt ein Philosoph. Fenster auf, ich hör‘ Türkenmelodien, ich fühl‘ mich gut, ich steh‘ auf Berlin!“). In der heutigen Hauptstadt habe man sich in den 80ies in der Diskothek Dschungel getroffen, wo David Bowie und Iggy Pop tanzten. Oder in der Risiko-Bar in der Yorckstraße, wo Blixa Bargeld hinter dem Tresen ausschenkte und Nick Cave, Nina Hagen und Bela B. ein und aus gingen. Krohn und Löding gingen auf den 1967 eröffneten Zodiak-Club von Conrad Schnitzler und Hans-Joachim Roedelius ein, wo die Berliner Musikgeschichtsschreibung mit Gruppen wie Ash Ra Tempel und Tangerine Dream einen Anfang genommen habe. Dazu die halblegalen bis illegalen Techno-Partys in den Industrie-Baracken nach dem Mauerfall, als im Berliner Osten kurzzeitig ein Machtvakuum herrschte, aus dem ungeahnte Kreativität hervorging.

Am interessantesten, neben der Schilderung ihrer Begegnung mit Eddie King Roeser von Urge Overkill in einem mexikanischen Restaurant in Chicago, war aber das Kapitel über die Szene im belgischen Antwerpen, die im Grunde einzig auf den Indie-Rockern von dEUS basiere, die Mitte bis Ende der 1990er Jahre mit Alben wie „Worst Case Scenario“ und „The Ideal Crash“ große Erfolge feierten. Die beiden Autoren Philipp Krohn und Ole Löding besuchten die Kneipe Plaza Real im Multikulti-Stadtteil Borgerhout, die von dEUS-Violinist Klaas Janzoons betrieben wird, zum Interview mit Sänger und Gitarrist Stef Kamil Carlens. Der wollte als Jugendlicher freigeistiger Straßenmusiker werden, nachdem Carlens am Hauptbahnhof einen eben solchen gesehen hatte, so sei Carlens zur Musik gekommen. „dEUS und Antwerpen sind ein gutes Beispiel dafür, wie eine einzige Band und ihr Umfeld eine ganze Stadt befeuern können“, formulierte Autor Ole Löding eine Erkenntnis aus diesem Stadtrundgang. Auf ihren weltweiten Tourneen hätten dEUS nach ihren Gigs nicht selten Leute getroffen, die sich mehr für ihre Klamotten statt für ihre Musik interessierten.

Die erste Auflage von „Sound of the Cities“, zu der die zwei Urheber letztes Jahr eine zehnteilige Deutschlandradio Kultur-Serie produzierten, ist inzwischen ausverkauft. Eine zweite Auflage soll – womöglich, vielleicht, wahrscheinlich – in einigen Wochen in Druck gehen. Außerdem erwägen die Autoren, einen zweiten Teil zu schreiben.

 

zuletzt geändert von ford-prefect

--

Wayne's World, Wayne's World, party time, excellent!