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16.-19. dezember 1970. letzte miles-dokumente des jahres, ein paar, meist vollständige, sets aus dem cellar door club in washington. statt vor 600.000 spielte man hier für höchstens 150. der ingenieur sitzt im keller und zeichnet auf. der klang ist großartig. die band auch. der haufen querköpfiger individualisten (jeder hat eine vorstellung davon, wie die musik gefälligst zu klingen hat) steht um einen 19-jährigen bassisten herumgruppiert, der einfach funktional spielen soll (150 variationen des gleichen riffs). da können die anderen sturm laufen, ausbrechen, beschleunigen, die time dehnen – henderson spielt stur und mit großem druck weiter.
am ersten tag ist aus bislang ungeklärten gründen moreira nicht dabei. jumma santos fehlt sowieso. das quintet ist mit seinem funk-programm auf sich gestellt. bartz‘ soli fühlen sich schon leicht totgespielt an. jarrett aber erkämpft sich einen fast 5-minütigen soloraum als intro zu „funky tonk“ – hier also könnte das angefangen haben mit köln concert usw. (das war ja im ecm-thread schon mal thema).
vom donnerstag gibt es nur das zweite set zu hören. es rasselt und schreit – moreira ist wieder dabei. ein stures riff auf quasi einem ton, das im studio bislang nicht eingespielt wurde, ist der opener: „what I say“. jeder (meist schrille, schneidende) ton von miles wird von jarrett und moreira kommentiert, der druck von henderson und dejohnette ist unfassbar. am tollsten ist die band, wenn sie in einer coda nochmal neuen funk erzeugt, miles mit wahwah wie e-gitarrenlicks, moreiras cuica wie ein techno-signal auf 2 und 4, störrische gegenakkorde dazu von jarretts fuzz-orgel. manchmal arbeiten sie aber auch (reizvoll) gegeneinander, z.b. wenn bartz um höhepunkte ringt und jarrett plötzlich offene moll-akkorde drunterlegt. seine eigene soloimprovisation ist diesmal noch farbiger, freier und dauert fast 7 minuten.
2 freitags-sets gehen über 2 cds. bartz‘ erstes solo wird wieder von jarrett sabotiert, er kriegt es trotzdem hin und erhält großen applaus. jarrett findet wiederum seinen eigenen beitrag zum funk unter miles‘ zweitem solo, ganz kurz angetippte zerr-akkorde, genau in die lücken von henderson gespielt. die zentralen stücke, „honky tonk“, „funky tonk“ und „what I say“ dauern jetzt alle fast 18 minuten. das bitches-brew-material ist schon wieder verschwunden, bis auf das „sanctuary“-zwischenspiel, das immer kürzer wird. es gibt funktionale wechsel zwischen mittel- und sehr schnellem funk und langsamem blues. abwechslung bringt vor allem das spiel des pianisten, der ständig neue sounds und harmonien für die simplen strukturen findet, dabei aber ausgesprochen gut mit den schlagzeuger verbunden ist. die soloexkursion zu beginn jeder „funky-tonk“-performance ist sowieso die spektakulärste insel im set. höhepunkt ist aber die entwicklung des stücks im dritten freitags-set: jarrett wechselt in der begleitung des bartz-solos zunächst von den verstörenden offenen harmonien zu einer zielsicheren r&b-begleitung, im eigenen solo sucht er aber nochmal völlig neue harmonische kontexte, die wiederum henderson in eine ziemlich wilde rolle drängen – mit der er aber super umgeht. hier ist die rhythm section plötzlich als cluster auf einem völlig eigenen trip, der überhaupt nicht vorhersehbar war – und den ein deutlich inspirierter miles irgendwann sehr deutlich beendet. sein wahwah-spiel könnte man hier fast schon proto-punk nennen – aber jarrett behält auch hier das letzte wort und schickt miles‘ höhepunkt noch einen völlig ambivalenten orgelakkord hinterher.
dass am samstag schließlich john mclaughlin zur band stößt, war im vorfeld bekannt. unter seiner mitwirkung sollte material für ein live-album entstehen; die aus dem cellar door aufgenommenen tracks auf LIVE-EVIL sind tatsächlich auch nur den samstags-sets entnommen (was jarrett natürlich ziemlich ärgerlich fand), wenngleich von macero wieder kreativ zusammenmontiert.
mclaughlin hat natürlich keinerlei problem, sich in dieses setting hineinzustellen, aber die band ist zusammengewachsen und hat einen sound, in den er sich nicht allzu klangschön einpasst. im ersten opener, „directions“, tritt er erst mit seinem solo in erscheinung, als die band schon on fire ist, miles mit wahwah, jarrett mit wahwah, hendersons bass auch leicht angefuzzt, der dreck fliegt schon durch die luft und wird dann mit einem hymnischen solo von bartz auf laszive, leicht erhöhte temperatur gebracht. dann steigt mclaughlin ein, verzerrt, rasende läufe, um das herum, was er als tonale zentren interpretiert hat. jarrett ist ziemlich bitchy ihm gegenüber (in bartz‘ solo dagegen war er zeiemlich brav und unterstützend) – er versucht, mclaughlins sounds zu kopieren und verunklart die harmonische situation. der gitarrist dudelt dagegen an, noch virtuoser, noch schneller, es ist seine zeit, nicht die von irgendwelchen pianisten. aber großartig, wie jarrett reagiert: sein solo bringt sofort den funk zurück, er wiederholt erstmal vier mal einen lick, um die rhythm section in szene zu setzen, all das, was sie sowieso hier schon vier tage machen. dann fliegt er davon, von entengeräuschen moreiras verfolgt, durchgepeitscht von herndersons bass, und mclaughlin setzt schön dreckige akzente hinzu. und dann kommt das, was eine meiner sternstunden der miles-diskoggrafie ist, schon, als ich noch gar nicht jazz gehört habe: die ganze band bleibt an der basslinie hendersons hängen, de johnette auf 1 und 3, moreiras cuica auf 2 und 4, links distortion von jarrett, rechts von mclaughlin, dann kommt dieses unglaubliche miles-solo: im groove mit wah wah, während sich alles erhitzt, henderson wechselt eine oktave höher, im höhepunkt versetzt miles sein effektgerät, setzt sich oben drauf auf den beat, während mclaughlins verstärker rückkoppelt, moreira zur trillerpfeife wechselt und sich dejohnette ins koma knüppelt; plötzlich ausatmen, zurückflexen, nur noch hendersons bass, von 100 auf 0, die band schwebt ins offene – das ist der teil, aus dem macero den anfang von „sivad“ gemacht hat, damit auch der anfang von LIVE-EVIL; ich kenne das, weil das (nur dieser ausschnitt) auch auf der CBS YEARS von miles drauf ist, mit der mich zu schulzeiten mein französischlehrer versorgt hat – mich hat das stück damals komplett von den socken geholt und ist sicherlich ein grund, warum ich überhaupt zum jazz gekommen bin (damals dachte ich: heavy metal ist nichts dagegen).
die beiden sets mit mclaughlin gehen munter so weiter, alle spielen doppelt so gut wie bisher, ob durch die neue herausforderung oder die aufnahme im hinterkopf, dabei ist der gitarrist noch das unspektakulärste an dem ganzen (ich finde ihn woanders besser, jarrett macht es ihm aber auch durchgehend schwer – auf LIVE-EVIL hat man ihm ein paar sabotageaktionen einfach herausgefiltert). miles macht nach seinem kurzen jahrhundertsolo lange pause, lässt seine band die muskeln anspannen, es gibt monumentale zwischenspiele von jarrett und ein schlagzeugsolo, das nicht mehr enden will. auf LIVE-EVIL hat macero ein paar highlights hintereinandergesetzt und ein paar performances am stück gelassen, und die seiten zur erholung mit den aufnahmen aus den pascoal-sessions aufgefüllt. aber die dramaturgie der cellar-doors-abende ist ein erlebnis für sich.
hier der beginn von LIVE-EVIL zum nachhören:
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