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Sowohl redbeans als auch gypsy empfahlen dieses CD-Doppelpack als Einstieg in den Chet Baker post 1970. Kann man da nein sagen?
Chet Baker – The Sesjun Radio Shows (1976-1985)
Aufnahmen von mehreren Live-Sessions, die der niederländische Rundfunk über einen Zeitraum von 10 Jahren vom damaligen Expatriate Chet Baker gemacht hat. Chet ist in verschiedenen Besetzungen zu hören, mal Kammerjazz nur mit Flöte, Piano und Bass, mal mit Vibraphone, Bass und Drums oder Gitarre und Bass und auch mal ganz klassisch mit Piano, Bass und Drums. Das Programm ist nicht besonders überraschend, Standards und alte Schlachtrosse wie Love For Sale oder I‘m Old Fashioned, das eine oder andere Bop oder Hard Bop-Thema, darunter Diz‘ Blue ‘n‘ Boogie.
Ich hatte mich ja nie für den Chet Baker nach 1970 interressiert. Zu chaotisch und schlampig erschien mir die Diskografie und zu abschreckend sein unsteter und selbstzerstörerischer Lebenswandel. Dabei kann eigentlich nichts anständiges rauskommen! Umso überraschender ist es, das Chet auf diesen Aufnahmen klingt wie neu geboren. Er ist auf der Trompete offenbar in top Form und die Bands wirken entspannt, frisch und lebendig. Alle haben reichlich Freiräume und scheinen völlig zwanglos zu spielen. Chet fühlt sich in diesen spontanen Settings hörbar wohl und genießt den Kontakt mit dem Publikum. Einzig Chets Gesang klingt manchmal etwas bemüht und gepresst – da merkt man dann schon, dass dieser Mann körperlich nicht mehr auf der Höhe ist und seine blütenzarte Unschuld der 50er Jahre verloren hat.
Der Bezug zum Chet der 50er ist sowieso immer da. Denn sein Repertoire ist eigentlich das gleiche wie damals. Er ist bei diesen Aufnahmen aber nicht mehr stilistisch auf West Coast Cool festgelegt sondern klingt nach klassischem Mainstream. Aufregend wird das vor allem dann, wenn Chet in kleinen Besetzungen abseits vom klassischen Quartett spielt. Dann wirkt das nicht nur originell, sondern da scheint Chet auch voll in seinem Element zu sein und klingt fast intim. Dadurch wirkt das auf der eine Seite nicht nostalgisch, auf der anderen Seite hat es aber auch nicht die stilprägende Prägnanz der alten Aufnahmen. Unbestritten sind das aber Live-Aufnahmen mit einer tollen Atmosphäre.
Die These, dass man Chet Baker vorzugsweise nach 1970 hören sollte, kann ich daher nur bedingt bestätigen. Man sollte den Chet Baker nach 1970 auch hören. Aber das Fundament seiner Musik liegt in meinen Ohren klar in den 50ern. Diese Aufnahmen aus den 70ern und 80ern werden erst so richtig interessant, wenn man sie in Bezug zu den 50ern hört.
zuletzt geändert von friedrich--
„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)