Antwort auf: 2016: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Mittwoch 9.3.

Am dritten Tag verbrachte ich über drei Stunden im Muzeum Historii Żydów Polskich, dem Museum der Geschichte der polnischen Juden. Ein moderner Bau noch etwas weiter draussen als unser Hotel, alles im – grossen – Bereich des einstigen Warschauer Ghettos. Oben ein Schnappschuss von einem kleinen Überrest der einstigen Ghetto-Mauer, in unmittelbarer Nähe des Kulturpalastes und des Zentrums der heutigen Finanz- und Geschäftsmetropole. Vom Museum ging’s hinüber in die Nowe Miasto, die „Neustadt“, die im 15. Jahrhundert direkt neben den einstigen Stadtmauern entstand und nach dem Krieg ebenfalls zu weiten Teilen wieder aufgebaut wurde. Im Restaurant, wo ich zufällig auf den einen Konzertreisegenossen traf, ass ich Ente – und war mir plötzlich ziemlich sicher, dass es dasselbe Restaurant war, in dem ich vor 15 Jahren beim ersten Besuch wohl schon gesessen hatte und ebenfalls Ente ass (damals zum ersten Mal überhaupt, wenigstens soweit ich das wusste). Danach ging ich zur Weichsel, den historischen Stadträndern entlang und danach nochmal ein wenige auf den Spuren des Ghettos, zum Keret-Haus, das neben der Stelle an der Chlodna liegt, wo einst der Übergang vom „Kleinen Ghetto“ ins „Grosse Ghetto“ stand, den heute Metallpfeiler markieren, in der Höhe des Holzsteiges, über den damals täglich Zehntausende Juden gingen.


Am dritten Abend gab es etwas weniger Musik, zwei Quartette, beide spielten sie eine knappe Dreiviertelstunde. Beim Soundcheck, den wir wie immer draussen vor dem Eingang wartend verfolgten, war Leigh enorm laut und es kam die Hoffnung auf, sie würde mit mehr Verve in den Konzertabend gehen, mit Klangwällen und Attacken auf das Publikum. Das erste von zwei Quartetten (das hatten wir am Vorabend schon mitgekriegt) war:
Jason Adasiewicz/Heather Leigh/John Edwards/Steve Noble
Es gab da quasi drei Klangzellen: Adasiewicz, Edwards/Noble, Leigh. Die schoben sich übereinander, rannten gegeneinander an oder spielten sich die Bälle zu (was Edwards und Noble ja eh pausenlos tun – im Film von Sempel sagt Noble mal: ihn interessiere nicht, wenn Edwards in seinen Groove falle, das wäre dann ja eine Jam-Session … stattdessen wolle er hören, auf welche Einfälle Edwards käme, angeregt durch sein Schlagzeug, und er lasse sich von Edwards Reaktion dann wieder weitertreiben – dieser pausenlose Dialog ist es wohl, der mich an den beiden so sehr fasziniert). Adasiewicz bot wieder alles auf, man ist da echt froh zu wissen, dass Vibraphone grossteils aus Metallteilen bestehen, sonst hätte man Angst, das Instrument zerfällt gleich in seine Einzelteile. Leigh war dann weniger laut und weniger angriffig als der Soundcheck hoffen liess, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich mich – auch wegen des wirklich grossartigen Duo-Sets mit Brötzmann am Vorabend – mit ihr und ihrem Instrument einigermassen ausgesöhnt.


Angekündigt war für diesen Abend ein Trio mit Brötzmann, Schlippenbach und Bennink – eine Reunion der drei, die schon vor langer Zeit gemeinsam auftraten. Doch es wurde noch besser, denn Toshinori Kondo stiess dazu, es war ja der Abend der zwei Quartette. Und dieses Set toppte das erste dann doch mit einiger Deutlichkeit. Doch: es gab an den vier Abenden keinen Ausfall, in Sternen gesprochen bewegte sich das Set für Set zwischen vier und fünf!
Peter Brötzmann/Toshinori Kondo/Alexander von Schlippenbach/Han Bennink
lieferten grossartige Musik, von nahezu der Intensität des Quintetts mit Drake am ersten Abend. Die Chemie stimmte zwischen allen vieren, Kondo und Brötzmann traten immer wieder in den Dialog, was sich auch darin äusserte, dass Kondo von seinem Stuhl aufstand (ich sass immer direkt unter ihm, wenn er auf der Bühne war, etwas links der Mitte, wo das Schlagzeug plaziert war) und sich in Brötzmanns Richtung wandte. Phasenweise flogen die musikalischen Ideen fast wie Geschosse durch den Raum. Schlippenbach sass hinter dem kleinen Flügel am linken Rand (und fehlt daher auf meinen Photos, er war an dem Abend so hell beleuchtet, dass kein halbwegs vernünftiges Bild zu machen war), aber das hielt ihn ganz und gar nicht davon ab, ins musikalische Geschehen einzugreifen und wieder wirkte er am Klavier frisch und überraschend. Kondo entlockte seinem Equipment (am Vorabend hatte ein Störung den Beginn lange verzögert, diesmal hatte er mittendrin eine Panne, die aber innert weniger Minuten behoben werden konnte) erneut faszinierende Klänge, von Wah Wah-Trompete à la electric Miles bis hin zu sphärischen oder auch beissend scharfen, schneidenden und gellend lauten Tönen. Da ich stets direkt vor ihm sass, konnte ich oft auch den natürlichen Trompetenton hören, der viel leiser auch noch erzeugt wurde – was die Faszination noch mal deutlich steigerte, es erlaubte, ein Gefühl für die ganze Technik zu kriegen, die Verfremdungseffekte.

Donnerstag 10.3.

Der letzte Tag begann mit einem Besuch im Chopin-Museum (dieser hatte in Marseille sichtlich keine gute Laune, gesehen von Maurice Sand). Dann zog ich nochmal kurz an den Plattenläden vorbei, um ein paar Photos zu knipsen, ging in den einen (den neben den AA) auch nochmal herein, ass eine andere – diesmal vegetarische – Version der Piroggen in der ebenfalls grad um die Ecke gelegenen Familijny Bar Mleczny, suchte Reste der Ghettomauer (Bild weiter oben) und drehte dann in der Gegend unseres Hotels noch eine längere Runde.








Den Auftakt des letzten Abends machte ein Duo-Set, das ich schon kurz erwähnt hatte:
Alexander von Schlippenbach/Han Bennink
spielten ein phantastisches Set, das soweit ich es erkennen konnte komplett aus Stücken von Thelonious Monk bestand. Schlippenbach steuerte freie, aber sehr passende Überleitungen bei, so dass sich das alles ohne Unterbrüche abspielte. Bennink sass direkt vor meiner Nase und spielte nur die Snare-Drum, die er mit verschiedenen Sticks bearbeitete (einer ging dabei auch noch zu Bruch, aber kein Wunder, die sahen alle arg ramponiert aus, gut hatte er einen Vorrat davon in seiner Jeans-Tasche, die auf den Photos zu sehen ist, er hängte sie kurzerhand an den Ständer eines der Klavier-Mikrophone). Schlippenbach wuchs in diesem Set förmlich über sich hinaus, spielte in seiner üblichen, nahezu stoischen Art die komplexen Linien von Monk, wandelte sie ab, ergänzte sie improvisierend, von Bennink bestens begleitet, der die Musik von Monk ebenfalls im Schlaf kennen dürfte – so wirkte das jedenfalls, sehr spontan zwar, aber es zeigte sich eben auch die jahrzehntelange Vertrautheit mit der Materie. Das Ganze kann man sich wohl als eine Art Einverleibung vorstellen, bei der aus Monks Musik etwas Eigenes entstand, das zugleich Monk wie auch Schlippenbach/Bennink war – und einzigartig obendrein!

Das angekündigte Oktett des Abends fand dann nicht statt bzw. es ergab sich anders als geplant. Ein zweiter Kontrabass stand auf der Bühne, ein junger leicht nervöser Mann schlich herum und entpuppte sich als Mateusz Rybicki (cl, bcl), der sich ebenso wie Bassist Zbigniew Kozera als Gast für den Abschlussabend dazugesellen sollte. Die Mikrophone des Pianos wurden zum Vibraphon verschoben, ein Septett war geplant, doch nach wenigen Minuten Musik erklomm Schlippenbach die Bühne, setzte sich ans Klavier, und eilends wurde ein neues Mikrophon aufgebaut. Zu hören gab es also:
Peter Brötzmann/Mateusz Rybicki/Toshinori Kondo/Jason Adasiewicz/
Alexander von Schlippenbach/John Edwards/Zbigniew Kozera/Steve Noble

– eine weitere hoch-energetische Sache, manchmal hart an der Schmerzgrenze was die Lautstärke betraf, aber erneut beeindruckend im Variantenreichtum (den Brötzmann ja auch schon mit dem ebenfalls ohrenbetäubenden Chicago Tentet zelebriert hatte). Rybicki, so meinte einer meiner altgedienten Mitstreiter, erinnere ihn an John Carter. Mir war das alles zu dicht, als dass ich einzelne Beiträge durchs Set hindurch verfolgen konnte, aber die immer wieder neuen Kombinationen mit den beiden Bässen, dem Vibraphon und dem Klavier allein waren schon grossartig. Adasiewicz und Schlippenbach, der in diesem Rahmen anfangs etwas unterzugehen drohte, hatten gegen Ende eine umwerfende gemeinsame Passage, die drei Bläser spielten alle exzellent, ebenso der junge Pole an der Klarinette und der Bassklarinette (ob es sein Instrument war, das Brötzmann die Tage davor spielte?). Das war wieder Musik, die alle Schleusen öffnet; music to end all music.


Doch damit war es – unerwarteterweise – noch nicht ganz getan, es gab an diesem Abend auch wieder ein drittes Set, Brötzmann und Kondo waren erneut mit dabei, zu ihnen stiessen die beiden in der grossen Besetzung Abwesenden, es gab also ein weiteres Quartett in der Besetzung
Peter Brötzmann/Toshinori Kondo/Heather Leigh/Han Bennink
Leigh spielte wieder ähnlich wie am dritten Abend, aber das Versprechen mit den ohrenbetäubenden Klangattacken aus dem Soundcheck des Vorabends blieb sie leider schuldig. Sehr schön war es, die Affinität zwischen Brötzmann und Kondo erneut zu sehen – Kondo scheint ja kaum noch ausserhalb Japans aufzutreten, dass ich ihn an vier Abenden hören konnte, zählte gewiss zu den schönsten Erfahrung dieser vier buchstäblich tollen Tage!



Freitag 11.3.

In der Nähe des Hotels liegen die grossen Friedhöfe Warschaus. Ich hatte zwei Stunden, bevor ich das Zimmer auschecken und dann langsam zum Flughafen musste, nahm die Bahn und fuhr zum Powązki-Friedhof, der relativ übersichtlich gestaltet ist; beim Eingang gibt es lange Listen mit Namen und Sektoren, in denen die Gräber zu finden sind. Komeda, Wieniawski, Lutosławski oder Rowicki schafften es nicht in die Gasse mit den Ehrengräbern (die letzten beiden liegen direkt nebeneinander, Wieniawski an prominenter Stelle mit grossem Gedenkstein). Natürlich suchte ich als allererstes nach Komedas Grab. In den Ohren hatte ich Chopins Balladen, gespielt von Witold Małcużyński, dessen Grab wie auch jenes von Jan Kiepura (*) an der besagten Ehrengalerie zu finden ist. Es passte, dass es an diesem Tag nicht nur feucht war und nach Regen aussah sondern tatsächlich ohne Unterbruch nieselte.

Danach reichte die Zeit leider nur noch für einen kurzen Gang durch den anliegenden jüdischen Friedhof (man fährt aber immerhin zwei Stationen mit der Strassenbahn), wo ich die direkt nebeneinander liegenden Gräber von Ludwik Lejzer Zamenhof (an der in der Nähe gelegenen ul. Esperanto war ich beim ersten Besuch in Polen auch mal noch, die verläuft parallel zu den Friedhofsmauern) und Adam Cerniaków fand, aber vergebens nach dem Grab von Marek Edelman suchte.

Über den Wolken – da gab es Sonne, die einzige, die ich seit 10 Tagen sah, so hatte das Fliegen in der noch engeren Kiste doch noch was Gutes – ging es dann wieder zurück. Doch am Flughafen tauchte plötzlich Kondo vor meiner Nase auf und als ich weiterging fand ich ihn und Noble beim Kaffee, bedankte mich noch einmal bei ihnen für die phantastischen Tage und ging dann meiner Wege (hätte mich dazusetzen können, aber wollte nicht aufdringlich sein).

*) bei meiner ersten Reise nach Warschau fuhr ich mit dem Nachtzug, der nach Kiepura benannt war … ein paar Souvenirs von damals stehen hier immer noch, auch an Ehrenplätzen (der echte Schweizer hat – zumal wenn er mit vernünftigen Verkehrsmitteln in Bodennähe unterwegs ist – sein Taschenmesser mit, das ja eigentlich Sackmesser heisst und mit Schraubenzieher ausgerüstet ist … wehe, wenn er Whisky mit hat und alleingelassen wird)

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba